Ein Arbeitgebertisch ist bereit für das Bewerbungsgespräch.
Die Persönlichkeit kommt vor dem Diplom
Westschweizer Unternehmerinnen sprengen mit einer einfachen Idee die Fesseln des komplexen Stellenbewerbungsprozesses und erfüllen die Jobsuche wieder mit Menschlichkeit.
An einem gewöhnlichen Donnerstag, morgens um neun Uhr: Das Restaurant Gemelli mitten in Freiburg ist proppenvoll gefüllt mit Jobsuchenden, die darauf warten, von den HR-Verantwortlichen einer der zwölf anwesenden Arbeitgeber interviewt zu werden. Emsige Café-Pro-Botschafterinnen kanalisieren das geschäftige Treiben. Vor und nach dem Interview bleibt Zeit, um zu netzwerken. Viele haben sich vorgenommen, mindestens mit zwei Arbeitgebern zu sprechen. Es nehmen durchaus nicht nur Arbeitslose an den erfolgreichen Speeddating-Events von Café Pro teil, sondern auch Leute, die einfach einen besseren Job suchen, sei es, weil ihnen der aktuelle nicht mehr gefällt oder weil der Arbeitsplatz zu weit entfernt ist. Genutzt wird gerne der Homeoffice-Tag oder der freie Tag bei Teilzeitangestellten. Einige Jobsuchende wurden sogar durch Radiospots auf das Angebot aufmerksam.
Auf der Sinnsuche beim Bewerbungsprozess
Café Pro, das 2017 gegründete Projekt von Paola Falce und Johanna Florey, macht Furore in der Westschweiz. Bald sind zwanzig Anlässe durchgeführt worden. Schon rund viertausend Jobwillige waren vor Ort, um sich den anbietenden Arbeitgebern zu stellen. Rund achtzig Arbeitsverträge wurden gemäss Angaben der Initiantinnen bereits aufgrund der Events abgeschlossen.
«Wir wollen die Grenzen der Arbeit sprengen und das Rekrutierungsverfahren vereinfachen, welches extrem komplex geworden ist.»
Rasch die richtigen Persönlichkeiten finden
Doch wie funktioniert das Ganze? Paola Falce erklärt das Prinzip: Die Arbeitgeber mieten einen Tisch und zahlen dafür, je nachdem, ob sie Spender von Café Pro sind oder nicht, zwischen 700 und 1100 Franken pro Anlass.
Zudem wird der als Bürgerinitiative aufgestellte Verein von den kantonalen Arbeits- und Wirtschaftsämtern subventioniert. Für jeden Veranstaltungsort wurde eine Botschafterin ausgesucht, welche sich mit den Zielen von Café Pro voll und ganz identifizieren kann: Menschlichkeit, Authentizität, Direktheit. Es handelt sich um erfahrene HR-Verantwortliche, die in der Mitarbeit bei Café Pro eine Ausweitung ihres Tätigkeitsfeldes sehen. Kontakte zu Arbeitgebern mit ähnlichen Ideen werden aufgebaut. Gemäss Aude Germanier, Botschafterin in Freiburg, welche den heutigen Anlass organisiert hat, ziehen die teilnehmenden Arbeitgeber einen offensichtlichen Mehrwert aus ihrem Engagement: Sie können rasch und unkompliziert Kandidaten persönlich kennen lernen, welche bei den aktuell verbreiteten Online-Bewerbungsverfahren vielleicht durch die Maschen gefallen wären. Auch wenn sie mitunter über hervorragende, jedoch nicht die völlig übereinstimmenden Qualifikationen, vor allem aber über eine grosse Motivation und die richtigen Soft Skills verfügen.
Der Bewerbungsprozess funktioniert quasi umgekehrt: Die Firmen warten nicht auf die Kandidaten, sondern sie gehen zu ihnen. Sie erhalten dadurch Gelegenheit, von Anfang an potenzielle Mitarbeitende auszuwählen, welche von ihrer Persönlichkeit her zum Unternehmen passen, sodass ein langfristiger Erfolg eher gewährleistet ist als mittels Online-Bewerbungen. Zudem hilft das Event den Unternehmen, sich in der Region in einer menschlichen und innovativen Art und Weise zu engagieren und gesehen zu werden.
«Bei den traditionellen Abläufen geht viel Zeit verloren, da das Verhalten, insbesondere die Agilität, nicht erschliessbar ist.»
Ohne Umschweife zum Bewerbungsgespräch
Auch die befragten Teilnehmenden sehen durchwegs Vorteile in diesem Konzept: Sie erhalten auf unkomplizierte Weise direkt die Möglichkeit, sich Arbeitgebern in einem oder sogar mehreren Bewerbungsgesprächen für Wunschstellen zu präsentieren, ohne durch Bewerbungstools im Voraus aussortiert zu werden. Das ist besonders für junge Stellensuchende interessant, die noch nicht über die oft gefragte Erfahrung verfügen, anderseits auch für Kandidaten über 50, welche altersbedingt bereits grosse Mühe haben, eine neue Stelle zu finden.
«Es handelt sich um eine exzellente Idee, um die Bewerbungsphase völlig zu überspringen und die Gelegenheit zu erhalten, Arbeitgeber direkt kennen zu lernen.»
Idee vor dem Durchbruch auch in der Deutschschweiz?
Paola Falce erwähnt zahlreiche Erfolgsstorys, welche bereits aus den Jobinterviews hervorgegangen seien. Hierbei hätten sich überraschende Übereinstimmungen ergeben, die im Voraus niemand erwarten konnte.
Paola Falce berichtet weiter, dass aufgrund des Erfolgs bereits Anfragen von überall her aus der Deutschschweiz eingegangen seien, sodass anzunehmen ist, dass Café Pro bald den Röstigraben auch über die zweisprachigen Städte Biel und Freiburg hinaus überschreiten wird. Die Website von Café Pro ist jedenfalls bereits auf Deutsch übersetzt vorhanden.
Café Pro gelingt es offensichtlich, mit einem einfachen und klaren Konzept – aus Frankreich übernommen und den schweizerischen Verhältnissen angepasst – viele in den Bewerbungsprozess Involvierte zu überzeugen und so ein Geschäftsmodell anzubieten, welches mühelos überall in der Schweiz übernommen werden könnte. Frühere Initiativen – auch von Regionalen Arbeitsvermittlungszentren der Arbeitslosenversicherung, den sogenannten RAV (beispielsweise in den Kantonen Bern und Zürich) – sind dagegen jeweils im Sand verlaufen. Vermutlich insbesondere, weil die wirtschaftlichen Interessen der Arbeitgeber zu wenig berücksichtigt wurden und demzufolge zu wenig Stellen anbietende Unternehmen für eine Teilnahme akquiriert wurden. Café Pro macht dies dagegen mit dem Einbezug von lokalen und erfahrenen HR-Verantwortlichen und einem einheitlichen Auftritt an allen Standorten vorbildlich. Man darf deshalb gespannt sein, wo Café Pro bald neu aufpoppt.