21.09.2016
FOTOS UND TEXT: Albert Jörimann
Serpentina Hagner in ihrer Wohnung. Hier arbeitet sie auch.

Serpentina Hagner zeichnet ihre Familiengeschichte.

Mein Tag als

Comiczeichnerin

Serpentina Hagner, 60, steht vielleicht vor einer neuen Karriere als Comiczeichnerin. Sie ist bei einem renommierten Comicbuchpreis unter die Finalistinnen vorgestossen.

«Wie macht man einen Comic? Am Anfang steht meistens eine ungefähre Idee, die sich dann zu einer immer konkreteren Vorstellung entwickelt. Figuren entstehen, Personen, eine Geschichte. Ich prüfe Varianten, zeichne unterschiedliche Blickwinkel und Abläufe und verwerfe sie wieder. Comiczeichnen ist eine aufwendige und nicht lineare Arbeit.

Ich mache alles selber, von der Storyline über die umfangreichen Recherchen bis hin zum Text. Im Moment bin ich hauptsächlich am Kolorieren meiner ‹Graphic Novel›; so nennt man die längeren, reportageartigen Comics heute. Die ersten 40 Seiten sind unter Dach und Fach. Der Titel lautet ‹Der schlimmheilig Miggeli›. Ich erzähle die Kindheit meines Vaters, des Malers und Illustrators Emil Medardus Hagner, und die Geschichte seiner Eltern. Im Sommer bin ich mit dem Miggeli beim Comicbuchpreis 2017 der Berthold Leibinger Stiftung in Stuttgart unter die zehn Finalistinnen vorgestossen. Das ‹Tagblatt der Stadt Zürich› stellte den Wettbewerbsbeitrag daraufhin auf einer halben Zeitungsseite vor. 

Auf dem Bauschänzli, Anfang 19. Jahrhundert Auf dem Bauschänzli, Anfang 19. Jahrhundert Auf dem Bauschänzli, Anfang 19. Jahrhundert Historische Aufnahme aus dem Jahr 1904 Historische Aufnahme aus dem Jahr 1905
Von der Schwarz-Weiss-Zeichnung zur Farbe und zum Text. Für diese Szenen dienten historische Aufnahmen als Vorlage. Illustration: Serpentina Hagner Fotos: Bildarchiv ETH

So setze ich mich am Morgen recht gut gelaunt ans Tablet und versehe Bild um Bild mit dem letzten Schliff. Ich komme nur langsam voran, weil mein Rücken und meine Augen nicht mehr als drei bis vier Stunden am Computer zulassen. Die Weltmeisterschaften in Gesundheit würde ich sowieso nicht gewinnen; manchmal muss ich ganze Tage lang pausieren. Das schlägt sich leider auch in meinem Finanzhaushalt nieder. Eigentlich bin ich ja Köchin von Beruf, aber auch diese strenge Arbeit konnte ich nie mehr als zu 60 bis 80 Prozent ausüben. Trotzdem hatte ich mit meinem damaligen Freund einige Jahre lang ein eigenes Restaurant; später war ich Hausleiterin und Köchin im Künstlerhaus Boswil, leitete die Cafeteria im Museum Rietberg Zürich und kochte in der Kulturbeiz Neuhof im zürcherischen Bachs.

Ganz aus dem Nichts oder aus dem Dampf über den Kochtöpfen kommt das Comiczeichnen aber nicht. Ich habe das Handwerk an der Kunstgewerbeschule Zürich gelernt, unter anderem beim kürzlich verstorbenen Kinderbuchautor und Karikaturisten Hans Ueli Steger, und vor etwas über 20 Jahren habe ich schon einmal eine Auszeichnung ergattert, den ersten Preis am ‹Comic & Cartoon Festival› in Lenzburg. 

Mit meinem Vater, der sich selber auch ‹Märchenmaler von Zürich› nannte, beschäftige ich mich als Autorin seit gut fünf Jahren. Seine Lebensgeschichte hat es in sich: Lehre als Dekorateur bei Heiner Hesse, dem Sohn von Hermann Hesse, Ausstattung unter anderem der Bäckerei/Konditorei von Emil Hegetschweiler im Helmhaus Zürich, anschliessend Malen und Illustrieren für Zeitungen undEingelegte Kornelkirschen Magazine, Aufträge der bekannten Journalistin Laure Wyss. 1965 erschien bei Diogenes sein Kinderbuch ‹Huck geht nach Alaska›. Werke von ihm hängen heute etwa im Zürcher Musée Visionnaire, im Lagerhaus St. Gallen oder im Bechtler Museum of Modern Art in Charlotte, North Carolina. Er war ein fester Bestandteil der Zürcher Kulturszene. Darunter litt allerdings die Familie. Meine Mutter musste ihr eigenes Talent lange hintanstellen. Sie ist ausgebildete Keramikmalerin und macht auch Radierungen, Pastelle und Aquarelle. Kurz nach meiner Geburt gewann sie einen Preis für ihre Illustrationen in einem Buch über einheimische Vögel.  Als dann aber meine zwei Brüder dazukamen, folgte eine lange Pause in ihrem künstlerischen Schaffen.

Der ‹schlimmheilig Miggeli› beginnt mit den Eltern, Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Moment koloriere ich Passagen aus den 1920er-Jahren. Ich arbeite am Computer, so lange es geht; dann wende ich mich anderen Dingen zu. Ein Thema sind immer wieder die kulinarischen Überraschungen aus hiesigen Pflanzen und Kräutern. Beispiele gefällig? Schinkenwurz beziehungsweise Nachtkerze als Gemüse, Spitzwegerich-Pesto auf gerösteten Crostini, rote Mohnblütenblätter im Salat, kleiner Wiesenknopf in Kräutersauce, gebratene, mit Käse gefüllte Beinwellpäckchen, geröstete Brennnesselsamen im Joghurt, übrigens ein Superfood für Muskelprotze... Aktuell habe ich gerade Kornelkirschen in Salzwasser eingelegt. Nach ein paar Wochen sind sie reif. Etwas Öl darüberträufeln, dann hat man so etwas wie Oliven, das schmeckt ausgezeichnet.

Neben dem Kochen interessiere ich mich generell für Kultur, erst recht, wenn ich einen persönlichen Bezug dazu habe. Ich besuche Ausstellungen und am Abend hin und wieder Konzerte, wenn die Gesundheit und das Budget es zulassen, und ich betreibe mit Kolleginnen einen Literaturclub: Einmal im Monat knöpfen wir uns ein Buch vor, zuletzt   ‹Tschick› von Wolfgang Herrndorf. Und natürlich habe ich auch eine Kochrunde ins Leben gerufen, wo wir uns reihum ebenfalls einmal monatlich bekochen.

Tarte Tatin Schnecken-Tapas
Zwei Beispiele aus gut 40 Kochcomics. Illustrationen: Serpentina Hagner

Vor zwei Jahren habe ich begonnen, das Kochen zu zeichnen mit ‹Serpentinas Food-Stories›. Es sind kleine, nicht besonders anspruchsvolle Geschichten rund um ein einzelnes Rezept wie zum Beispiel für Tarte Tatin oder Schnecken-Tapas. Allerdings ist es mir bisher nicht gelungen, diese Comics bei einem Verlag oder bei einer Zeitung unterzubringen. 

Illustrieren, Zeichnen, Comiczeichnen, das ist ein hartes Geschäft. Wenn du keinen bekannten Namen hast, ist die Suche nach Publikationsmöglichkeiten extrem schwierig. Ich hoffe, dass mir die Finalteilnahme am Comicbuchpreis 2017 der Berthold Leibinger Stiftung die eine oder andere Tür öffnen wird.»