Siebrig Scheeres mit ihrem Hund vor ihrer Physiotherapiepraxis.
«Ich liebe die Berge, sehe meine Zukunft in der Schweiz»
Siebrig Scheeres stammt aus der Provinz Friesland im Norden der Niederlande und arbeitet als Physiotherapeutin im Wallis. Die sportliche Frau baut sich ein zweites Standbein als Wanderleiterin und Trainingscoach auf. Mit Vorliebe bietet sie Themenwanderungen an.
Das Wartezimmer im Therapiezentrum Region Stalden ist gemütlich eingerichtet. Für die Patienten stehen Tee und Wasser und auch Karamellbonbons zum Naschen sowie Magazine bereit. Auf einer Schiefertafel sind drei Wanderangebote nach Grächen, ins Saastal und nach Zermatt aufgeführt. Sie dauern fünf bis rund acht Stunden. Die Physiotherapiepraxis mit eigenen Parkplätzen liegt direkt an der stark befahrenen Hauptstrasse in Stalden, die sich recht kurvenreich und steil durch das Oberwalliser «Brückendorf» schlängelt. Stalden mit seinen rund 1100 Einwohnern thront auf einem Felshügel über dem Zusammenfluss der Saaser- und der Mattervispa und verdankt seinen Übernamen den 29 Brücken und Stegen, die Fussgänger, Züge sowie den Strassenverkehr über Gräben und beeindruckende Schluchten führen.
Siebrig Scheeres und ihr Hund Max betreten das Therapiezentrum. Die Begrüssung durch den schwarzweissen zypriotischen Mischlingshund ist überaus freudig. Er wedelt hektisch mit dem Schwanz. Nicht ganz so ungestüm verhält sich die Physiotherapeutin. Sie beschränkt sich auf ein breites, warmes Lächeln aus sicherem Abstand.
Siebrig Scheeres kam vor acht Jahren in die Schweiz. Hier kann die 37-Jährige ihre Leidenschaft für Trailrunning, Klettern, hochalpine Touren, Mountainbiken und Skifahren ausleben.
Siebrig Scheeres begeistert sich schon als Kind für Sport. Mit 18 Jahren beginnt sie an der Universität Gent in Belgien ein Studium in «manueller Therapie und Sportphysiotherapie». In dieser Zeit lernt sie die Schönheit der Alpen während einer ersten, mehrtägigen Umrundung des Mont Blanc kennen und verliebt sich in diese grandiose Landschaft, die so ganz anders als die aus ihrer Heimat ist. 2008 schliesst sie nach fünf Jahren mit dem Master in Rehabilitationswissenschaften und Physiotherapie ab.
Freiwilligenarbeit in Guatemala
Bereits früh verspürt Siebrig Scheeres den Wunsch, im Ausland zu arbeiten. Diese Motivation steckt nahezu in ihren Genen. Während des Studiums hört sie von einem Physiotherapieprojekt in San Rafael Pie de la Cuesta im zentralamerikanischen Staat Guatemala. Sie bewirbt sich bei der belgischen Non-Profit-Organisation VZW Tumbador als freiwillige Physiotherapeutin für ein Behindertenprojekt für Kinder. Der Ort liegt inmitten von Kaffeeplantagen, ist «etwa so gross wie Stalden», sagt Siebrig Scheeres schmunzelnd. Die damals 24-Jährige kann ihr frisch erworbenes Fachwissen einbringen und ein Physiotherapiezentrum mit angegliederter Ausbildungsschule in Physiotherapietechniken mit aufbauen. In ihrer Freizeit besteigt sie Vulkane, teils im Trailrunning-Tempo. Verdienen tut sie nichts, nur Kost und Logis und das Sammeln von wertvollen Erfahrungen sind bei der Hilfsprojektarbeit inbegriffen. Die Bevölkerung nimmt die grosse, fröhliche Blondine mit gewinnender Ausstrahlung sehr gut auf.
Siebrig Scheeres kehrt nach ihrem einjährigen Einsatz in ihre Heimat zurück. In Belgien nimmt sie eine Stelle als Physiotherapeutin an und macht nebenher eine Ausbildung zum Outdoor Instructor. Ihre Leidenschaft für Guatemala lässt sie nicht los. Sie kehrt für zwei weitere Jahre dorthin zurück – auch der Liebe wegen. Mit ihrem damaligen Partner teilt sie den Alltag, lebt zeitweise bei seiner Familie, bis sie sich trennen. Die junge Niederländerin bestreitet ihren Lebensunterhalt als Physiotherapeutin, erwägt, eine eigene Praxis zu eröffnen, verwirft dieses Projekt aber schweren Herzens. Das Einkommensniveau entspricht bei weitem nicht europäischem Standard. «Auf Dauer hätte ich nicht genug zum Leben verdient», erzählt Siebrig Scheeres mit melancholischem Blick. Ihre Ersparnisse schwinden zusehends. Ihr Weg führt sie zurück nach Europa.
Immer mehr nimmt ihr Drang nach körperlicher Bewegung berufliche Formen an. Siebrig Scheeres möchte nicht mehr nur in ihrer Freizeit Sport treiben. In Belgien bildet sie sich zum Personal Coach weiter. Sie beschliesst, ihre Liebe zu den Bergen mit dem Beruf zu verknüpfen, und kommt in die Schweiz. Die Physiotherapeutin arbeitet erst je zwei Jahre in Saas-Grund und Luzern, kehrt dann ins Saastal nach Saas-Fee zurück. Zwischen 2013 und 2017 spezialisiert sie sich in myofaszialer Triggerpunkttherapie.
Hobby als zweites Standbein
In Saas-Fee beschliesst die Niederländerin, sich ein zweites Standbein aufzubauen, und beginnt die Ausbildung zur Wanderleiterin mit eidgenössischem Fachausweis (SBV). Ihre Liebe zum Wallis ist inzwischen in ihr Herz gemeisselt. 2019 gründet sie die Unternehmung Innermountivation. Der Name impliziert eine Mischung aus Bergen und hoher Motivation. Ihre Bergtouren, Themenwanderungen wie Pilzesammeln oder Vollmondwanderungen, Vorbereitungscoachings für Bergrennen oder Trailrunnings bietet die sportliche Frau auf Deutsch, Englisch, Holländisch und Spanisch an. Schweiz Tourismus nahm ihre Vollmond-Winterwanderung sowie ein Trailrunning-Camp nur für Frauen als Freizeitvorschläge im Wallis auf.
Hund Max praktisch immer dabei
Während des Gesprächs hat sich Max auf seiner schwarzen «Hundeinsel» in der Physiotherapiepraxis zusammengerollt. «Ich nehme ihn meist in die Praxis mit», erklärt Siebrig Scheeres lachend. Auch bei Wanderungen ist «Hundi», wie sie ihn liebevoll nennt, fast immer dabei. «Bei meinen Touren mit Übernachtungen kann Hundi nicht immer mit, Haustiere sind nicht überall erlaubt.» Max begleitet sein Frauchen meist mit eigenem Rucksack. Diese persönliche Note schätzen ihre Gruppenteilnehmer.
Eröffnung einer eigenen Physiotherapiepraxis
Letztes Jahr, im September 2020, eröffnete Siebrig Scheeres in Stalden ihre eigene Physiotherapiepraxis. Sie ist dem Gesundheitszentrum Region Stalden angegliedert. Ein Teilnehmer an einer ihrer Schneeschuhwanderungen hatte sie auf die verfügbaren Praxisräume aufmerksam gemacht. «Diese Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen», erklärt die Physiotherapeutin. Das Geschäft läuft, und sie stellt im Mai eine Mitarbeiterin ein. Im Juli geht sie zusätzlich eine Kooperation mit einem Akupunkteur ein.
Diesen Oktober und im nächsten Januar stehen die Prüfungen zum eidgenössischen Fachausweis für Wanderleiter (SBV) an. Wegen der Corona-Pandemie musste Siebrig Scheeres den Abschluss um ein Jahr verschieben. Doch bereits jetzt profitieren ihre Kunden von ihrem breitgefächerten Fachwissen.
Max steht auf und streckt sich ausgiebig. Für das heutige Fotoshooting schnallt Siebrig Scheeres ihm seinen Rucksack um. Hundi freut sich sichtlich auf den Ausflug.