Dank der Validierung von Kompetenzen steigen die Chancen im Beruf, zum Beispiel in der Pflege. Foto: Simone Gloor
Zweite Chance für Niedrigqualifizierte
bj. Ohne Berufsausbildung gestaltet sich die Stellensuche heute besonders schwer. Für Betroffene kann sich die Perspektive durch die Anerkennung informell erworbener Kompetenzen wesentlich verbessern.
«Es erwartet Sie die Chance, selbständig zu arbeiten und Ihre fachlichen und persönlichen Fähigkeiten als Pflegefachperson zu entfalten. Wir erwarten von Ihnen einen Abschluss als Fachperson Gesundheit EFZ.» Formulierungen dieser Art hat Candida W.* schon oft gelesen. Die 37-jährige alleinerziehende Mutter sucht seit rund neun Monaten eine Stelle im Pflegebereich.
Bevor die gebürtige Philippinerin ihre heute schulpflichtige Tochter zur Welt brachte, arbeitete sie als Pflegerin in einem Altersheim. Eine Tätigkeit als Pflegefachperson würde Candida W. sehr zusagen. Ohne Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis (EFZ) stehen die Chancen auf eine qualifizierte Stelle in diesem Bereich allerdings schlecht. «Als Pflegerin komme ich auch ohne Diplom irgendwo unter. Mit diesem Papier sähen meine beruflichen und finanziellen Perspektiven aber viel besser aus. Als Mutter will ich meiner Tochter etwas bieten können.»
Fähigkeitsausweis nachträglich erwerben
In dieser Situation steht Candida W. nicht alleine da. «Diese Geschichte ist ein klassischer Fall. Gerade im Pflegebereich arbeiten viele Frauen ohne staatlich anerkannte Diplomausbildung», erklärt Ruedi Winkler, Präsident des Vereins Valida, der sich für die Integration Niedrigqualifizierter im Arbeitsmarkt engagiert. Mit Infobroschüren und Veranstaltungen leistet die gemeinnützige Vereinigung Lobbyarbeit für die in der Schweiz noch wenig bekannten sogenannten Validierungsprozesse. Menschen ohne anerkannte Grundausbildung können sich in diesen Prozessen nachträglich ein EFZ erwerben, ohne eine Vollausbildung absolvieren zu müssen.
«In einem Validierungsprozess schauen wir zuerst, welche Kompetenzen ein Mensch in welchen Tätigkeiten bereits erworben hat. Dann geht es um die Frage, wie diese Person die weiteren Fachkenntnisse für einen anerkannten Abschluss erwerben kann», erklärt Winkler. Für die Umsetzung der Validierungsprozesse sind die einzelnen Kantone zuständig. Wichtige Partner sind die Berufsverbände, die am Ende der Validierung auch die Abschlusszeugnisse ausstellen. Das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie BBT erarbeitete zwischen 2004 bis 2009 im Projekt «Validierung von Bildungsleistungen» einen Leitfaden für berufliche Validierungsprozesse.
Laut der letzten Erhebung des Bundesamtes für Statistik stehen in der Schweiz 14 Prozent aller Erwachsenen ohne Berufs- und Mittelschulabschluss da. Davon sind 116 000 Ungelernte im Alter von 25 bis 34 Jahren betroffen. Für Stellensuchende dieser Altersklasse ist es besonders schwierig, auf dem Arbeitsmarkt Fuss zu fassen.
Romandie spielt eine Vorreiterrolle
Durch den Wandel zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft stellt der Arbeitsmarkt immer höhere Anforderungen an Stellensuchende. Wie Flurina Semadeni vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) betont, sind von diesem Trend vermehrt auch Stellen für Geringqualifizierte betroffen: «Selbst Hilfskräfte müssen immer mehr Qualifikationen mitbringen und Verantwortung übernehmen. Einfache Arbeiten, die man in ein bis zwei Tagen erlernen kann, gibt es immer weniger.»
Im SECO hat man erkannt, wie dringlich die Validierung von Kompetenzen ist, die auf informellem Weg erworben wurden. Das Amt befragte im vergangenen Jahr in einer Untersuchung die Kantone Zürich, Bern, St. Gallen und Graubünden zu ihren Erfahrungen mit Validierungsprozessen. Die Mehrheit der befragten kantonalen Arbeitsmarktbehörden erachteten die Kompetenzanerkennungsverfahren als sinnvolle Massnahme.
Die Kantone wenden Validierungsprozesse heute jedoch noch sehr unterschiedlich an, stellt Winkler fest. Eine Vorreiterrolle spiele dabei die Romandie: «Die Westschweiz orientiert sich punkto Bildungssystem stark an Frankreich, wo Validierungsprozesse schon länger angewendet werden.» In der deutschsprachigen Schweiz sind die Verfahren noch wenig bekannt.
Als erster Kanton der Deutschschweiz führte die Bildungsdirektion des Kantons Zürich 2005 Validierungsverfahren ein. Im vergangenen Jahr wurden 214 Fähigkeitszeugnisse ausgestellt. Für Teilnehmende ist das fünfphasige Verfahren mit Fixkosten von rund 780 Franken verbunden. Je nachdem, wie umfangreich eine Zusatzausbildung ausfällt, kommen Nachbildungskosten von 600 bis 6000 Franken hinzu. Der zeitliche Rahmen erstreckt sich von einem bis zu dreieinhalb Jahren im Extremfall.
* Person und Situation fiktiv
Berufe mit Validierung gemäss Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT)
Automatiker EFZ / Automatikerin EFZ Automatikmonteur EFZ / Automatikerin EFZ Detailhandelsfachmann EFZ / Detailhandelsfachfrau EFZ Elektroniker EFZ / Elektronikerin EFZ Fachangestellter Gesundheit SRK / Fachangestellte Gesundheit SRK Fachmann Betreuung EFZ / Fachfrau Betreuung EFZ Fachmann Gesundheit EFZ / Fachfrau Gesundheit EFZ Fachmann Hauswirtschaft EFZ / Fachfrau Hauswirtschaft EFZ Informatiker EFZ / Informatikerin EFZ Kaufmann / Kauffrau Konstrukteur EFZ / Konstrukteurin EFZ Logistiker EFZ / Logistikerin EFZ Maurer / Maurerin EFZ Mechanikpraktiker EBA / Mechanikpraktikerin EBA Polymechaniker EFZ / Polymechanikerin EFZ Produktionsmechaniker EFZ / Produktionsmechanikerin EFZ |