Veröffentlicht am 05.04.2012TEXT: Beatrice Jäggi

Dank der Validierung von Kompetenzen steigen die Chancen im Beruf, zum Beispiel in der Pflege. Foto: Simone Gloor

Zweite Chance für Niedrigqualifizierte

bj. Ohne Berufsausbildung gestaltet sich die Stellensuche heute besonders schwer. Für Betroffene kann sich die Perspektive durch die Anerkennung informell erworbener Kompetenzen wesentlich verbessern.

«Es erwartet Sie die Chance, selbständig zu arbeiten und Ihre fachlichen und persönlichen Fähigkeiten als Pflegefachperson zu entfalten. Wir erwarten von Ihnen einen Abschluss als Fachperson Gesundheit EFZ.» Formulierungen dieser Art hat Candida W.* schon oft gelesen. Die 37-jährige alleinerziehende Mutter sucht seit rund neun Monaten eine Stelle im Pflegebereich.

Bevor die gebürtige Philippinerin ihre heute schulpflichtige Tochter zur Welt brachte, arbeitete sie als Pflegerin in einem Altersheim. Eine Tätigkeit als Pflegefachperson würde Candida W. sehr zusagen. Ohne Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis (EFZ) stehen die Chancen auf eine qualifizierte Stelle in diesem Bereich allerdings schlecht. «Als Pflegerin komme ich auch ohne Diplom irgendwo unter. Mit diesem Papier sähen meine beruflichen und finanziellen Perspektiven aber viel besser aus. Als Mutter will ich meiner Tochter etwas bieten können.»

Fähigkeitsausweis nachträglich erwerben

In dieser Situation steht Candida W. nicht alleine da. «Diese Geschichte ist ein klassischer Fall. Gerade im Pflegebereich arbeiten viele Frauen ohne staatlich anerkannte Diplomausbildung», erklärt Ruedi Winkler, Präsident des Vereins Valida, der sich für die Integration Niedrigqualifizierter im Arbeitsmarkt engagiert. Mit Infobroschüren und Veranstaltungen leistet die gemeinnützige Vereinigung Lobbyarbeit für die in der Schweiz noch wenig bekannten sogenannten Validierungsprozesse. Menschen ohne anerkannte Grundausbildung können sich in diesen Prozessen nachträglich ein EFZ erwerben, ohne eine Vollausbildung absolvieren zu müssen.

«In einem Validierungsprozess schauen wir zuerst, welche Kompetenzen ein Mensch in welchen Tätigkeiten bereits erworben hat. Dann geht es um die Frage, wie diese Person die weiteren Fachkenntnisse für einen anerkannten Abschluss erwerben kann», erklärt Winkler. Für die Umsetzung der Validierungsprozesse sind die einzelnen Kantone zuständig. Wichtige Partner sind die Berufsverbände, die am Ende der Validierung auch die Abschlusszeugnisse ausstellen. Das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie BBT erarbeitete zwischen 2004 bis 2009 im Projekt «Validierung von Bildungsleistungen» einen Leitfaden für berufliche Validierungsprozesse.

Laut der letzten Erhebung des Bundesamtes für Statistik stehen in der Schweiz 14 Prozent aller Erwachsenen ohne Berufs- und Mittelschulabschluss da. Davon sind 116 000 Ungelernte im Alter von 25 bis 34 Jahren betroffen. Für Stellensuchende dieser Altersklasse ist es besonders schwierig, auf dem Arbeitsmarkt Fuss zu fassen.

Romandie spielt eine Vorreiterrolle

Durch den Wandel zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft stellt der Arbeitsmarkt immer höhere Anforderungen an Stellensuchende. Wie Flurina Semadeni vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) betont, sind von diesem Trend vermehrt auch Stellen für Geringqualifizierte betroffen: «Selbst Hilfskräfte müssen immer mehr Qualifikationen mitbringen und Verantwortung übernehmen. Einfache Arbeiten, die man in ein bis zwei Tagen erlernen kann, gibt es immer weniger.»

Im SECO hat man erkannt, wie dringlich die Validierung von Kompetenzen ist, die auf informellem Weg erworben wurden. Das Amt befragte im vergangenen Jahr in einer Untersuchung die Kantone Zürich, Bern, St. Gallen und Graubünden zu ihren Erfahrungen mit Validierungsprozessen. Die Mehrheit der befragten kantonalen Arbeitsmarktbehörden erachteten die Kompetenzanerkennungsverfahren als sinnvolle Massnahme.

Die Kantone wenden Validierungsprozesse heute jedoch noch sehr unterschiedlich an, stellt Winkler fest. Eine Vorreiterrolle spiele dabei die Romandie: «Die Westschweiz orientiert sich punkto Bildungssystem stark an Frankreich, wo Validierungsprozesse schon länger angewendet werden.» In der deutschsprachigen Schweiz sind die Verfahren noch wenig bekannt.

Als erster Kanton der Deutschschweiz führte die Bildungsdirektion des Kantons Zürich 2005 Validierungsverfahren ein. Im vergangenen Jahr wurden 214 Fähigkeitszeugnisse ausgestellt. Für Teilnehmende ist das fünfphasige Verfahren mit Fixkosten von rund 780 Franken verbunden. Je nachdem, wie umfangreich eine Zusatzausbildung ausfällt, kommen Nachbildungskosten von 600 bis 6000 Franken hinzu. Der zeitliche Rahmen erstreckt sich von einem bis zu dreieinhalb Jahren im Extremfall.

* Person und Situation fiktiv

Berufe mit Validierung gemäss Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT)

Automatiker EFZ / Automatikerin EFZ

Automatikmonteur EFZ / Automatikerin EFZ

Detailhandelsfachmann EFZ / Detailhandelsfachfrau EFZ

Elektroniker EFZ / Elektronikerin EFZ

Fachangestellter Gesundheit SRK / Fachangestellte Gesundheit SRK

Fachmann Betreuung EFZ / Fachfrau Betreuung EFZ

Fachmann Gesundheit EFZ / Fachfrau Gesundheit EFZ

Fachmann Hauswirtschaft EFZ / Fachfrau Hauswirtschaft EFZ

Informatiker EFZ / Informatikerin EFZ

Kaufmann / Kauffrau

Konstrukteur EFZ / Konstrukteurin EFZ

Logistiker EFZ / Logistikerin EFZ

Maurer / Maurerin EFZ

Mechanikpraktiker EBA / Mechanikpraktikerin EBA

Polymechaniker EFZ / Polymechanikerin EFZ

Produktionsmechaniker EFZ / Produktionsmechanikerin EFZ

www.bbt.admin.ch