Veröffentlicht am 10.11.2008TEXT: Philipp Gafner

swissimage.ch/Robert Bösch

Willensgemeinschaft oder Zweiklassen-Integration?

phg. An der Tagung der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen «Über das Definieren von Identität» beleuchteten Wissenschaftler, Politiker und Kulturforscher die Begriffe und Entwicklungen von Identität, Gemeinschaft und Nation.

Die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen (EKM) sei besorgt über den Verlauf und den Ton der jüngsten Debatte über Ausländer und über «unsere» Identität, leitete Kommissionspräsident Francis Matthey vergangenen Donnerstag die EKM-Tagung in Bern ein. Die Notwendigkeit, sich mit dem «Fremden» auseinanderzusetzen, sei in der Schweiz noch nicht in alle Köpfe gedrungen und von allen Kreisen akzeptiert. Daher gelte es, sich über die Bedingungen und Prozesse von Identitätsbildung Klarheit zu verschaffen. Der Frage «Wer sind wir?» müsse die Frage «Wer sind die Anderen?» gegenüberstehen, um eine konstruktive Antwort zu finden. Matthey rief zum zukunftsbejahenden Zugehen auf die «Anderen» auf.

«Willensgemeinschaft»

Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf zeigte die historische Dimension der nationalen Identitätsbildung im Zuge der Gründung des schweizerischen Bundesstaates im Jahr 1848: «Die schweizerische Identität ist nichts Starres, sondern hat sich im Lauf der Zeit entwickelt und wird sich weiter entwickeln.» Die viersprachige Schweiz sei eine «Willensnation» im Gegensatz zur «Kulturnation», wie sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland definiert wurde, die im hohen Mass auf der gemeinsamen Sprache einer Gesellschaft fusst. Gerade unsere «Willensnation», sagte Widmer-Schlumpf, biete Chancen, um die Herausforderungen der Identitätsbildung, wie gesellschaftliche Werte und sozialen Zusammenhalt, zu meistern. Die Justizministerin proklamierte schliesslich die «Willensgemeinschaft Schweiz», da unser Land längst vielsprachig sei, und sie verwies auf das 2006 angenommene Ausländergesetz, in dem die Integration und die Gleichheit der Chancen festgeschrieben sind: «Versuchen wir den gemeinsamen Nenner aller Bewohner dieses Landes zu finden, statt die Unterschiede zu betonen.»

Von der Gemeinschaft zur Nation

Identitäten bilden sich aus Gruppen oder Gemeinschaften. Der Berner Sozialanthropologe Hans-Rudolf Wicker legte in seinem Referat dar, dass kleine Gemeinschaften, etwa das Dorf, sich selbst regulieren und disziplinieren. In ihrer Geschlossenheit böten sie Schutz, Solidarität und «soziale Wärme», hingegen liessen sie kaum Abweichungen von der Norm zu und seien von Misstrauen dem Fremden gegenüber geprägt. Solche Gemeinschaften seien weltweit in Auflösung begriffen und den modernen Gesellschaften gewichen, die durch Industrialisierung und Individualisierung gekennzeichnet sind.
Anonym und unüberschaubar tendiert die Gesellschaft zur Anarchie. Deshalb müsse der Staat sie regulieren und disziplinieren. Gesellschaften oder Staaten strahlen «soziale Kälte» aus, denn sie besitzen keine innere Bindung und sind im Gegensatz zu Gemeinschaften nicht identitätsbildend.
Diesem Mangel schaffe die Erfindung der Nation Abhilfe. Sie stellt eine «imaginierte Gemeinschaft» dar mit einer kollektiven Identität, die für den staatlichen Zusammenhalt unerlässlich sein soll. Nationen bedienen sich Mythen und Gründungslegenden wie etwa die Schweiz mit Wilhelm Tell, um ein Wir-Gefühl in der Gesellschaft zu entwickeln und Ressourcen zu mobilisieren. Dadurch grenzen sie aber auch aus. In der Art und Weise, wie dies geschieht, offenbart die jeweilige Gesellschaft ihre Eigenart.

Gefürchtete Wir-Gruppen

Diese «Identität von oben», der Nationalismus, werde in modernen Gesellschaften mehr und mehr von der «Identität von unten» ersetzt, sagte Wicker. Ob im Baskenland, im Balkan oder in Ruanda sei zu beobachten, dass soziale Proteste vielfach zu ethnischen Bewegungen mutieren, die kollektive Identitäten imaginieren, um zum Erfolg zu führen. Das Problem regionaler Identitäten fordere den Staat heute vermehrt heraus oder stelle ihn sogar in Frage.
Ein weiteres Phänomen der Identitätsbildung erkennt er in den Diaspora, die sich mit der Zunahme der zwischenstaatlichen Mobilität bildeten und den Heimatbezug zelebrieren. Diese helfen den Migranten, Fuss zu fassen. Das Gastland befürchtet jedoch mangelnde Loyalität, fehlenden Integrationswillen und wirft den Migranten vor, Spannungen aus dem Heimatland zu importieren. Zugleich förderten diese Staaten die eigene Diaspora, wie es bei den Auslandschweizern der Fall ist. Grundsätzlich sollten Versuche, kollektive Identitäten innerhalb der Gesellschaft zu bilden, kritisch beobachtet werden, riet Hans-Rudolf Wicker.

Schweizer versus Eingebürgerte

Über aktuelle Debatten und Perspektiven in der Schweiz berichteten zwei Forscherteams der Universitäten St. Gallen und Lausanne. Das Ostschweizer Projekt analysierte den politischen Diskurs um die kürzliche Einbürgerungsabstimmung und zeigte auf, wie es den Initianten dank ihrer Plakatkampagne im Abstimmungskampf gelang, nebst den Kategorien «Schweizer» und «Ausländer» die neue Kategorie der «Eingebürgerten» zu schaffen und in der Debatte zu verankern. Mit den unterschiedlichen Rollen von Migrantenvereinen für ihre Mitglieder und für die Integrationspolitik des Gastlandes befassten sich die Westschweizer Geografen: Diese Vereine würden Menschen von unterschiedlichem Sozialstatus, Bildungsstand, Geschlecht, Alter und unterschiedlicher Migrationsgeschichte miteinander verbinden und seien der Ort, wo Konflikte bezüglich Bräuchen, Projekten und Identifikationen ausgetragen würden.

Brain-Gain und Überfremdungsangst

Im Schlusswort gab Francis Matthey seiner Befürchtung Ausdruck, die «neue Zuwanderung», wie der Titel einer aktuellen Publikation von Avenir Suisse lautet, beschere unserem Land eine zweigleisige Integration: eine reibungslose Aufnahme der hochqualifizierten «Köpfe» aus der EU durch die Schweizer Wirtschaft einerseits sowie andererseits eine schleppende Eingliederung der wenig willkommenen Migranten aus sogenannten «Drittstaaten» durch soziale Einrichtungen.