Veröffentlicht am 05.11.2008TEXT: Barbara Ludwig

Foto: Simone Gloor

Wenn Sozialhilfe rentabler ist als Erwerbsarbeit

bl. Erwerbsarbeit schützt in der Schweiz nicht in jedem Fall vor Armut. Caritas Zürich zeigte am 4. Zürcher Armutsforum, warum manche Sozialhilfebezüger mit oder ohne Erwerbsarbeit finanziell besser fahren als Working Poor, die ohne Sozialhilfe auskommen.

Caritas Zürich wurde durch die jüngste Studie der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) aus dem Jahre 2007 dazu angeregt, die strukturell bedingten Ungerechtigkeiten des Zürcher Sozialhilfesystems unter die Lupe zu nehmen. Das daraus resultierende Diskussionspapier «Lohnt sich Arbeit immer?» wurde an der Tagung von vergangener Woche vorgestellt.

Die SKOS-Studie hatte einen interkantonalen Vergleich des frei verfügbaren Einkommens präsentiert und dabei erstmals auch die Haushalte berücksichtigt, die Sozialhilfe beziehen. Entscheidend für die finanzielle Situation eines Haushalts ist nämlich nicht allein die Höhe der Einnahmen wie der Lohn und allfällige Sozialleistungen, sondern auch der Betrag, der dem Haushalt nach Abzug der Fixkosten zur freien Verfügung steht. Die SKOS-Studie offenbarte strukturell bedingte Ungerechtigkeiten in einigen Kantonen: Gewisse Working Poor haben mehr Geld zur Verfügung, wenn sie Sozialhilfe beziehen, statt zu arbeiten. Dass dieser Missstand nicht zur Aufnahme einer Erwerbsarbeit animiert, ist einleuchtend. Im Fachjargon heisst der Missstand Schwelleneffekt. Ein weiteres Resultat des interkantonalen Vergleichs: «Armut hängt auch vom Wohnort ab und nicht nur von der Qualifikation», sagte Carlo Knöpfel, Leiter Bereich Grundlagen von Caritas Schweiz, an der Tagung.

 

Trotz Schichtarbeit weniger Geld im Sack

Allein in der Stadt Zürich sind 23 000 Personen vom Phänomen des Schwelleneffekts betroffen. Im Diskussionspapier «Lohnt sich Arbeit immer?» untersuchten Isabelle Meyer und Carlo Knöpfel anhand von elf Fallbeispielen die Einkommenssituation von Menschen, die knapp unter dem Existenzminimum leben und solchen, die knapp darüber leben. Die Autoren stellten fest, dass in drei von vier Fällen die Haushalte ohne Sozialhilfe am Ende des Jahres weniger Geld zur freien Verfügung haben als die Sozialhilfe beziehenden Familien. Dass mehr Verdienen sich finanziell nicht immer lohnt, zeigt eindrücklich das Beispiel der Familie Khan: Der Vater der Familie war erwerbstätig. Die Mutter hatte aufgehört zu arbeiten, als Kinder geboren wurden. Mit der Geburt des zweiten und insbesondere des dritten Kindes begann das Geld, knapp zu werden; die Familie bezog in der Folge Sozialhilfe. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wollte der Vater der Abhängigkeit von der Sozialhilfe ein Ende setzen und suchte eine besser bezahlte Arbeit. Er fand eine Stelle mit Schichtarbeit. Trotz einem dank Schichtzulage um 7000 Franken höheren jährlichen Nettoeinkommen ist sein frei verfügbares Einkommen 4485 Franken tiefer, als wenn er weiterhin Sozialhilfe beziehen würde. Seine Familie ist in unmittelbarer Nähe der Armutsgrenze angesiedelt.

Ungerechter Schwelleneffekt

Verursacht wird der Schwelleneffekt laut Untersuchung der Caritas hauptsächlich durch den Einkommensfreibetrag (EFB). In Zürich beträgt der EFB bei einem Beschäftigungsgrad von 100 Prozent 600 Franken. Er soll Leute, die bereits Sozialhilfe beziehen, zum Arbeiten ermuntern, und stellt folglich ein Anreizelement dar. Bei der Berechnung des Sozialhilfebetrags wird ein bestimmter Anteil des Lohneinkommens, der sogenannte Einkommensfreibetrags, nicht als Einkommen angerechnet und deshalb nicht vom Sozialhilfebetrag abgezogen. Im Kanton Zürich entsteht der Schwelleneffekt, weil der EFB nur bei anerkannten Sozialhilfeempfängern berücksichtigt wird. Geht es darum zu überprüfen, ob eine Person überhaupt Anspruch auf Sozialhilfe hat (Eintrittsberechnung), werden sämtliche Einnahmen als solche betrachtet. Dasselbe bei der Austrittsberechnung, bei der überprüft wird, ob die Voraussetzungen für den Bezug von Sozialhilfe nicht mehr gegeben sind.

Lösung für die Strukturprobleme in der Sozialhilfe

Nun gibt es etliche Kantone (AG, AR, BE, JU, FR, VD, NE, VS), in denen die Anreizelemente sowohl bei der Eintritts- als auch bei der Austrittsberechnung berücksichtigt werden. Schwelleneffekte, die auf die Ausgestaltung der Sozialhilfe zurückzuführen sind, existieren hier nicht. Caritas empfiehlt deshalb insbesondere eine Anpassung des Zürcher Modells und damit einen Einbezug der Anreizelemente bei der Eintritts- und der Austrittsberechnung. Eine Familie würde dann von der Sozialhilfe unterstützt, wenn ihre Einnahmen abzüglich des EFB kleiner sind als die anerkannten Ausgaben. Der Lösungsvorschlag würde zu einer Erhöhung der Zahl der Sozialhilfebezüger führen. Das im Rahmen der Tagung stattfindende Podiumsgespräch mit Vertretern aus der kantonalzürcherischen Politik machte indes klar, dass alles, was nach einem Ausbau der Sozialhilfe riecht, nicht unangefochten bleiben wird.