Veröffentlicht am 04.06.2014TEXT: Joël FreiFOTO: Simone Gloor
Erntehelfer ohne Arbeitsvertrag

Pedros Traum

Im Frühling reist der Bolivianer Pedro Cánovas für die Spargelernte in die Schweiz. Hier verdient er 15 Franken pro Stunde, mehr als doppelt so viel, wie er sonst bei der Früchteernte in Spanien bekommt. So kann er sich über Wasser halten – und an die Zukunft denken.

«Hier ist es für mich wie in den Ferien», sagt Pedro Cánovas (Name geändert) lachend, und seine Zahnlücke wird für einen Augenblick sichtbar. Er kam in die Deutschschweiz, um zu arbeiten. Ohne Arbeitserlaubnis. Für 15 Franken die Stunde erntet er auf einem Wägelchen sitzend grüne Spargeln. Er rollt das Gefährt sorgfältig durch das Feld der Landwirtfamilie Ramseier (Name geändert), bedacht, nicht von der schmalen Bahn abzukommen. In den letzten Tagen war es sehr warm, und unter ihm spriessen die delikaten Pflänzchen wie Pilze aus der Erde. Der 29-jährige Bolivianer beugt sich leicht vor, kommt dank einer Aussparung im Boden des Wägelchens gut an die Spargeln heran, schneidet sie mit dem Messer ab und legt sie neben sich in einen Korb. Das Dach des Fahrzeugs schirmt ihn von der erstarkenden Frühlingssonne ab.

Pedro Cánovas ist einer von mehreren tausend illegalen Erntehelfern, die auf Schweizer Bauernhöfen arbeiten. Bei der Spargelernte fällt viel Arbeit an, welche die Landwirte und ihre Familien nicht selbst bewältigen können. Die Landwirtschaft bezahlt im Vergleich zu anderen Branchen am schlechtesten. Zudem verlangt die Arbeit als Erntehelfer viel Flexibilität, der Erntebeginn ist jedes Jahr anders. Der landwirtschaftliche Betrieb der Familie Ramseier, welche Pedro Cánovas beschäftigt, ist zudem zu klein, um den Landarbeitern eine Unterkunft anzubieten. Aus diesen Gründen fänden sie für diese Arbeit keine Schweizer oder legale Arbeitskräfte aus dem Ausland, sagen Ramseiers.

Die Wahlheimat lässt keine Wahl

Am frühen Nachmittag steht Pedro in der Scheune der Landwirtfamilie an einem Holztisch und sortiert die Spargeln, die er eben geerntet hat. Die grösste Zeit des Jahres lebt Pedro Cánovas in der südspanischen Provinz Murcia. Von hier kommen viele der Früchte und Gemüse, die in der Schweiz im Ladenregal aufliegen. Murcia mit seinen Früchtehainen ist seine Wahlheimat, die ihm mittlerweile keine Wahl mehr lässt. Denn der Bolivianer wollte ursprünglich nicht lange in Spanien bleiben. Doch mit seinem Lohn als Erntehelfer kann er sich nur knapp über Wasser halten. Hart Erspartes schmilzt dahin, sobald etwas Unvorhergesehenes eintrifft. Wie vor kurzem die Zahninfektion, die ihn über 2000 Euro kostete. So kann er nicht für eine Zukunft in der Heimat sparen, sondern muss erst seine Schulden abbezahlen.

Von der Hand in den Mund

Im Vergleich zur Früchteernte in Spanien erscheine ihm die Arbeit in der Schweiz wie ein Spaziergang, sagt Pedro Cánovas. Schon am Vormittag ist die eigentliche Ernte vorbei, denn nur Spargeln, die über 18 Zentimeter lang sind, werden abgeschnitten. Er arbeitet je nach Wetter vier bis zwölf Stunden täglich, sieben Tage die Woche und verdient durchschnittlich 2000 Franken pro Monat.

«Hier werde ich sehr gut behandelt, und die Arbeit ist gut bezahlt», meint Pedro Cánovas und fügt an: «In Spanien schreien dich die Vorgesetzten an und machen extrem Druck.» Ein spanischer Kollege habe aufgehört, weil er heftig mit dem Chef aneinandergeraten war. «Er zeigte mir sein Messer und sagte: ‹Besser, ich gehe, denn ich bin zu allem fähig›», erzählt Pedro Cánovas und mimt das Messer in seiner Hand. Er fühle sich oft ausgenutzt: «Die Chefs fordern mehr und mehr von dir.»

Spanien ist in der Krise. Oft sind seine Arbeitgeber mit der Bezahlung in Verzug, auf den Lohn vom vorletzten Monat wartet er noch. Schon einige Male bezahlten ihn seine Chefs gar nicht. Pedro Cánovas lebt von der Hand in den Mund. Um durchzukommen, arbeitet er illegal in anderen Ländern Europas: In einem kleinen Dorf ohne Busanbindung in Südfrankreich schneidet er im Herbst Trauben. Da er kein Französisch spricht, fühlt er sich dort einsam. «Doch die härteste Arbeit, die ich hatte, war bei der Mandarinenernte», meint er und zeigt seine Narben auf den Schultern. 20 Kilo Früchte musste er auf einmal zu einem Lastwagen tragen.

«Ich möchte gerne heiraten»

Pedro Cánovas vermisst seine Eltern und Geschwister in Bolivien und natürlich seine bolivianische Freundin, die er in Spanien zurücklassen musste. Auch sie schlägt sich in Murcia mehr schlecht als recht als Haushaltshilfe durch. Er wünscht sich eine gemeinsame Zukunft, doch mit seinem Lohn als Erntehelfer in Spanien sei es schwierig, eine Familie zu gründen. «Ich könnte meine Familie nicht ernähren, denn ich habe kein geregeltes Einkommen», sagt der 29-Jährige leise und fügt an: «Das schmerzt, denn ich möchte sie gerne dieses Jahr heiraten.»

Pedro wuchs selber in ärmsten Verhältnissen mit zehn Geschwistern in einer Kleinstadt auf. Als sein Vater – betrunken – im Streit einen Freund tötet und für sieben Jahre ins Gefängnis muss, ist er achtjährig. Um der Mutter zu helfen, wird er Feldarbeiter, erntet für die Hälfte eines Erwachsenenlohns Tomaten, Mais, Melonen oder Kartoffeln. Dann lernt Pedro Cánovas einen Schweizer Pfarrer kennen, der ein zweiter Vater für ihn wird: Er bezahlt ihm eine Mechanikerausbildung, und Pedro ist auf dem Weg, ein besseres Leben zu beginnen. Doch vor dem Abschluss verliebt er sich und wandert mit seiner Freundin nach Spanien aus, auf der Suche nach einem geregelten Einkommen.

Obwohl die Beziehung bald darauf scheitert, beschliesst Pedro Cánovas, in Spanien zu bleiben. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, hilft bei der Mandarinen- und Zitronenernte aus, reist für ein Jobangebot ins Baskenland, pflegt für 600 Euro im Monat einen älteren Mann – rund um die Uhr, mit gerade mal drei Stunden Pause in der Woche, in denen er den Gottesdienst besuchen darf –, alles illegal. Als ihn die spanische Polizei entdeckt, muss er 2000 Euro Busse bezahlen. Er taucht unter. Nach Jahren in der Illegalität bekommt er schliesslich eine Aufenthaltsbewilligung.

Halt im Glauben

Mit Pedros Arbeit sind die Landwirte sehr zufrieden. «Letzten Frühling hat er so gut gearbeitet, dass wir ihn dieses Jahr wieder für drei Monate angestellt haben», meint Ernst Ramseier. Dafür nimmt die Familie die Sorge in Kauf, dass ihn jemand anzeigen könnte. Doch Ramseiers hoffen darauf, dass der junge Bolivianer nicht auffällt. Und wie geht Pedros Cánovas mit dieser Situation um? Er lächelt schelmisch, doch dann versteinert sich sein Gesicht: «Klar habe ich Angst. Manchmal, wenn ein Auto nah beim Feld vorbeifährt, schlägt mein Herz bis zum Hals.»

Pedro ist froh, dass der befreundete Pfarrer Treffen mit lateinamerikanischen Einwanderern organisiert. So fühle er sich in der Fremde nicht allein und könne sich auf Spanisch austauschen. «Jeden Tag lese ich mit Freude in der Bibel», sagt Pedro auf die Frage, was er am Feierabend macht. «Würde ich es nicht tun, ich glaube, ich würde verrückt werden.» Der Glaube an Jesus lasse ihn schwierige Situationen im Leben meistern.

Was ist Pedros Traum? Er möchte mit seiner Freundin nach Bolivien zurückkehren. Am liebsten würde er ein Geschäft in seiner Heimatstadt Quirusillas aufbauen, seine Mechanikerausbildung wiederaufnehmen. Oder Honigbienen züchten und auf einem Stück Land Pfirsiche pflanzen. Damit dieser Traum in Erfüllung geht, will Pedro Geld auf die Seite legen: «Ich möchte für einen Traktor sparen. Mit einem Traktor könnte ich meine Familie in Bolivien ernähren.»

Schwarzarbeiter in der Landwirtschaft
Als Schwarzarbeit bezeichnet das Bundesamt für Migration (BFM) «eine Erwerbstätigkeit, die unter Missachtung gesetzlicher Vorschriften ausgeübt wird». Das können kleine Handwerkerleistungen nach Feierabend sein, aber auch eine ausschliesslich illegale Erwerbstätigkeit unter Umgehung des Steuer-, Sozialversicherungs-, Wettbewerbs- und insbesondere des Ausländerrechts.
In der Landwirtschaft lassen sich drei Gruppen von Schwarzarbeitern ausmachen:
Inländische Schwarzarbeiter Schweizer sowie Ausländer, die legal in der Schweiz leben und Schwarzarbeit verrichten.
Sans-Papiers Sans-Papiers haben keine Möglichkeit, legal zu arbeiten. Philippe Sauvin von der branchenübergreifenden und auf Landwirtschaft spezialisierten Gewerkschaft «l’autre syndicat» schätzt die Zahl der Sans-Papiers in der Schweizer Landwirtschaft auf 5000 bis 8000 Personen. In seinem letzten Bericht (2005) schätzt das Bundesamt für Migration, dass ein Grossteil der Sans-Papiers in ländlichen Kantonen in der Landwirtschaft arbeitet. Sie arbeiten für einen Monatslohn zwischen 1500 und 2000 Franken.
«Arbeitstouristen» Zur dritten Gruppe zählt, wer sich als Tourist bis zu drei Monate legal in der Schweiz aufhält, aber während dieser Zeit ohne regulären Vertrag arbeitet. Viele dieser «Arbeitstouristen» arbeiten in ländlichen Kantonen als Erntehelfer und sind nur für kurze Zeit in der Schweiz anwesend. Ein beträchtlicher Anteil der Sans-Papiers reiste laut Bericht des BFM ursprünglich mit einem Touristenvisum in die Schweiz ein.