Veröffentlicht am 02.02.2012TEXT: Reto Rauber

Gleiche Chancen für alle hilft Armut verhindern.
Foto: Urs Siegenthaler / Caritas Zürich

Masterplan gegen Kinderarmut

rr. In der Schweiz sind mindestens eine Viertelmillion Kinder von Armut betroffen. Jacqueline Fehr, SP-Nationalrätin und Präsidentin von Kinderschutz Schweiz, fordert Mindestlöhne und Ergänzungsleistungen für bedürftige Familien mit Kindern, um Armut zu verhindern.

«Man muss sich das vor Augen führen: In der reichen Schweiz gibt es 260 000 armutsbetroffene Kinder. Sie könnten neun Mal das Stade de Suisse in Bern füllen», sagt SP-Vizepräsidentin Jacqueline Fehr. «Das ist ein Skandal.»

Kinder sind arm, weil sie in einer von Armut betroffenen Familie leben. Armut hinterlässt Spuren im Lebenslauf eines Kindes. Sie verhindert oft, dass ein Kind sein Potenzial entwickeln kann. Caritas Schweiz hat deshalb ihre sozialpolitische Jahrestagung dem Thema «Arme Kinder» gewidmet.

Das Armutsrisiko von Schweizer Haushalten hängt von verschiedenen Faktoren ab. Im Vordergrund stehen das Bildungsniveau, die Zahl der Kinder, der Wohnort und – vor allem – die soziale Herkunft. Denn Armut wird vererbt. Armutsbetroffene Kinder haben öfter Probleme in der Schule, brechen häufiger eine Lehre ab und sind als Erwachsene selbst häufiger von Armut betroffen.

Kinderkrippen und Bildung statt Kampfjets

Wirtschaft und Politik hätten in den letzten zehn Jahren in der Aufgabe versagt, Kinder- und Familienarmut zu verhindern oder wenigstens zu bekämpfen, sagt SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr. «Dabei wissen wir schon lange, was zu tun wäre.»

Für Fehr ist klar, dass die Wirtschaft endlich Mindestlöhne einführen muss. Die Politik habe dafür zu sorgen, dass bedürftige Familien mit Kindern Ergänzungsleistungen erhalten. «Was eine Familie zum Leben braucht, muss finanziell gedeckt sein. Das ist das Schlüsselinstrument für die Armutsbekämpfung und überdies ein Grundrecht der Kinder», so Fehr.

In den letzten zehn Jahren hätten immer wieder Lösungen auf dem Tisch gelegen, die jedoch aus ideologischen Gründen jedes Mal scheiterten. «Oft kam ich mir wie ein Hamster vor, der sich im Rad dreht», sagt Fehr. «Für das Militär und neue Kampfjets wollen wir fünf Milliarden Franken ausgeben. Geht es aber um Kinderkrippen oder um Bildung, um die Chancengleichheit der Kinder zu verbessern, blieb es bisher bei ziellosen Diskussionen.»

Jacqueline Fehr ist Präsidentin von Kinderschutz Schweiz. Die Organisation macht sich in allen Landesteilen dafür stark, dass die Kinder unserer Gesellschaft in Würde aufwachsen, ihre Rechte gewahrt werden und ihre Integrität geschützt wird. Im Kampf gegen die Armut in Schweizer Familien sucht Fehr die Zusammenarbeit über die Parteigrenzen hinweg und will insbesondere auch die neuen Kräfte im Parlament ansprechen, um sie für bestehende Ideen und Projekte zu gewinnen. 

Für die Armutsbekämpfung in den Familien und bei Kindern braucht es aus Fehrs Sicht einen Masterplan. «Damit Projekte wie Mindestlöhne oder Ergänzungsleistungen umgesetzt werden können, benötigen wir einen gemeinsamen Rahmen mit Perspektiven», sagt die Nationalrätin. Dies müsse unter Federführung des Bundes geschehen.

Keine Krankenkassenprämien für Kinder

Martin Kaiser, Vize-Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV), hat für die Aussagen der SP-Vizepräsidentin durchaus Gehör. Allerdings sei es nicht Sache des Staates, bei der Armutsbekämpfung das Heft in die Hand zu nehmen. Die öffentliche Hand greife den sogenannten Working Poor mit Kindern schon finanziell unter die Arme. «Doch für das Wohl der Kinder stehen halt nun einmal zuerst die Familien in der Verantwortung.»

Die Schweiz hat die Kinderrechtskonvention der Uno unterzeichnet (siehe Kasten). «Um diese Grundsätze bewahren zu können, ist der Bund jedoch höchstens mit begleitenden Massnahmen zur Stelle», so Kaiser. Armen Familien mit Kindern würden in der Schweiz in erster Linie immer noch Nichtregierungsorganisationen helfen.

Zum Beispiel Caritas. Laut Carlo Knöpfel, Leiter Inland und Netzwerk von Caritas Schweiz, stehen für das Hilfswerk drei Forderungen im Zentrum der Armutsbekämpfung: Erstens sollen für bedürftige Familien mit Kindern Ergänzungsleistungen eingeführt werden. Zweitens seien Familien im Existenzminimum von der Besteuerung zu befreien. Und drittens müsse erreicht werden, dass Kinder keine Krankenkassenprämien mehr zahlen müssen.

«Wir können es uns nicht leisten, Kinder zu verlieren, denn die Zahl der erwerbstätigen Menschen nimmt ab», sagt Knöpfel mit Blick auf die demografische Entwicklung. «Kinder sind unsere Zukunft – als mündige Bürgerinnen und Bürger und selbst als verantwortungsvolle Eltern.»

Chancengleichheit hilft gegen die Vererbung von Armut

Der Bildung kommt in der Armutsbekämpfung eine Schlüsselrolle zu. Für Isabelle Chassot, Präsidentin der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK), ist die Verbesserung der Chancengleichheit ein wichtiges bildungspolitisches Ziel. «Kinder sollen unabhängig vom familiären Hintergrund ihre Kompetenzen entwickeln können», sagt sie. Sie setzt grosse Hoffnung in das Harmos-Konkordat, weil die Harmonisierung der verschiedenen kantonalen Schulsysteme die Qualität der Volksschule verbessert.

Die soziale Vererbung von Armut hat ihre Ursache im Mangel an sozialer Mobilität. Walter Schmid, Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), plädiert deshalb für mehr Durchlässigkeit in den Bildungsstrukturen. «Arme Kinder sind im Alltag, also auch in der Schule, oft sozial ausgegrenzt», so Schmid. Das müsse nicht sein. «Wenn beispielsweise auf jeder Bildungsstufe Stipendien erhältlich sind, erhalten armutsbetroffene Kinder Zugang zu anderen sozialen Schichten. So kann Ausgrenzung verhindert werden.»

Caritas Schweiz hat zum Forum in Bern den Sozialalmanach 2012 dem Schwerpunkt „Arme Kinder“ gewidmet. Der Almanach ist unter www.caritas.ch erhältlich.

Uno-Kinderrechtskonvention

Das Übereinkommen über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen (Kinderrechtskonvention) legt wesentliche Standards zum Schutz der Kinder weltweit fest. Die vier elementaren Grundsätze, auf denen die Konvention beruht, beinhalten das Überleben und die Entwicklung, die Nichtdiskriminierung, die Wahrung der Interessen der Kinder sowie deren Beteiligung am sozialen Leben. Als Kinder definiert die Konvention Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht abgeschlossen haben. (Quelle: Wikipedia)