Veröffentlicht am 13.10.2008TEXT: Sven Rosemann

Kalkuliertes Risiko

Die Alpinistin und Abenteurerin Evelyne Binsack schätzt Risiken ein wie andere das Wetter, aber treffsicherer. Heute hält sie auch Referate über die grossen Herausforderungen ihres Lebens.

Viele möchten einmal in ihrer Freizeit draussen in der freien Natur die eigene Angst besiegen und über sich hinauswachsen; Ziele erreichen, die vor kurzem noch unerreichbar schienen. Sie könn­ten neidisch sein auf Evelyne Binsack, Alpinistin seit 22 Jahren. Sie machte diese Herausforderungen zu ihrem Beruf. Evelyne Binsack hat den Spagat zwischen finanziellem Überleben und ihren individuellen Zielen geschafft.

Innere Feigheit oder Trägheit überwinden

Als Referentin spricht sie über ihre Abenteuer und füllt Zuhörersäle. Die Menschen zahlen Eintritt, um hautnah vom Kitzel überstandener Gefahren zu hören. Sie wollen den «Kick» spüren. Die gestandene Abenteurerin relativiert: «Wer in diesem Beruf den sogenannten Kick sucht, ist definitiv fehl am Platz. Früher oder später stürzen die ab.» Evelyne Binsack spricht vor Bank- und Versicherungsangestellten und vermittelt ihnen Einblicke in die Kunst, in schwierigen Situationen zu bestehen. Binsack will den Menschen in der Schweiz Impulse geben, um die innere ­Feigheit oder Trägheit zu überwinden und mentale Stärke zu entwickeln.
Ob sie das Risiko suche? «Nein, aber die Herausforderung! ­Voraussetzung dafür ist, das Risiko richtig einschätzen zu können.» Seit 1991 führt die 41-jährige diplomierte Bergführerin Gäs­te auf Berggipfel. Lange verdiente sie nur mässig, gemessen an der grossen Verantwortung: durchschnittlich 450 Franken für einen 10-Stunden-Tag. Ein Risiko bestand darin, dass sie die alpinisti­schen Fähigkeiten ihrer Gäste nicht genau kannte. Mancher konnte als Bergsteiger nicht halten, was er zuvor angekündigt hatte. Heute ist Evelyne Binsack wählerischer bei der Auswahl ihrer ­Kunden. «Ich bin froh, dass ich nicht mehr vom Bergführen allein leben muss», sagt sie und lässt durchblicken, dass ständiges Klettern auch zu Abnützungserscheinungen führen kann, beispielsweise am Knie.

Notfalls kurz vor dem Ziel wieder umkehren

Vorbereitung ist zentral: Vor einer Tour geht sie für sich selbst alle möglichen Unfälle durch. Macht kleine Testbegehungen mit ­Gästen und gestaltet dann das Programm. «Zwölf Uhr mittags kann den Umkehrpunkt markieren», sage sie dann beispielsweise den Hobbybergsteigern - auch wenn die Gruppe dann nur noch achtzig Meter unter dem Gipfel sei. «Es ist eine Sicherheitsmarge, auf die sich alle einstellen können, abgestützt auf meine Abklärungen über das Gebiet und das Wetter. Nur meine Entscheidung zählt.» Gibt es renitente Gäste? «Die Gäste sind so stark mit sich selbst und ihren Grenzen beschäftigt, dass sie gar nicht in der Laune sind, mich anzuzweifeln. Sie schätzen eher die Sicherheit, die ich vermittle.»
Evelyne Binsack hat für ihre Begriffe alles gemacht: schwierige Touren geführt, selbst die schwierigsten Wände durchstiegen, wie die Eigernordwand, unzählige Gipfel erlebt und im Jahr 2001 den Mount Everest bestiegen. «Aber plötzlich, vor sechs Jahren, stand ich in einer Sackgasse.» Sie hatte Ängste, Zweifel, Glück durchlebt und konnte nicht glauben, dass dies nun alles gewesen sein sollte. Sie wollte noch etwas lernen. Ihr Körper war trainiert, sie war sich sicher, noch mehr erreichen zu können - aber nicht als Bergführerin. Evelyne Binsack wollte erfahren, wie weit sie gehen kann.

Am Rand der Welt hat sie ihre Grenzen erfahren

Zu Fuss mit einem Schlitten erreichte Evelyne Binsack am 28. Dezember 2007 als erste Schweizerin den Südpol. Nach einer Reise per Velo, zu Fuss und auf Skiern von Innertkirchen im Berner Oberland, wo sie wohnt, über Punta Arenas im chilenischen Feuer­land in die Antarktis. Sie war 484 Tage lang unterwegs und legte rund 28000 Kilometer zurück. Die letzten 47 Tage ging sie mit drei Begleitern 1180 Kilometer weit über das ewige Eis der Antarktis. Es wurde ein Trip, der sie an die Grenzen ihrer selbst führte.
Zehn Tage bevor Binsack und ihr Team nach etlichen Strapazen den Südpol erreichen, bricht Teamkollege Max beinahe zusammen. Die anderen schleppen von da an seinen Schlitten und übernehmen seine Aufgaben, damit er mithalten kann. Vier Tage später ist Evelyne ausgelaugt. Durch Konzentrationsübungen schafft sie es, sich vor einem Ohnmachtsanfall zu schützen.
Sie erzählt von einer Grenzerfahrung: «Für vielleicht fünf ­Minuten fühlte ich mich ausserhalb normaler Gesetzmässigkeiten: in einer Art Trance, zwischen Leben und Tod, wo es keine Angst mehr gab und physische Gesetze ausser Kraft gesetzt schienen.» Das Erlebnis hilft ihr, neuen Mut zu schöpfen. Das Team analysiert Chancen und Risiken und geht weiter. Binsack notiert am 23. Dezember ins Tagebuch: «... lieber bei der Verwirklichung eines Traumes sterben, als am Ende der Verwirklichung eines Traumes scheitern.»
Sie betont heute, am Leben zu hängen und keine Hasardeurin zu sein. Damals, in der Nähe des Südpols, benötigte sie viel Kraft, um durchzuhalten: Weiter gings mehr schlecht als recht. An Weih­nachten suchte sie Hilfe von oben. «Ich stellte mir vor, wie viele Menschen dieser Tage durch ihren Glauben Kraft schöpften. Diese Energie zapfte ich an. Ich betete und flehte um Kraft.» Das Bekennt­nis überrascht. Denn die durchtrainierte, drahtige Frau strahlt Mut und Entschlossenheit aus. Aus ihrer Sicht widersprechen sich aber katholischer Glaube und Risikofreude keineswegs.
Für Evelyne Binsack ist dosierter Mut zum Risiko letztlich ein Ausdruck von Lebensfreude. «Ich möchte weiterhin mich und die Welt erfahren und möglichst viel davon weitergeben.»