Veröffentlicht am 02.07.2012TEXT: Andreas KnobelFOTO: Simone Gloor

Die Zeit im Griff: Flexible Arbeitszeiten können eine Chance sein,
bergen aber auch Risiken.

Flexible Arbeitszeitmodelle –
die Ausnahme ist die Regel

ak. Flexible Arbeitsverhältnisse – Chancen oder prekäre Fallgruben? Diese Frage beantwortete der Kaufmännische Verband Ost an einer Tagung in Wil SG eindeutig: Die Chancen überwiegen nicht nur klar, sondern es ist auch eine weitere Flexibilisierung und Individualisierung der Arbeitsverhältnisse zu erwarten.

Wenn es einen «Verkäufer» für familienverträgliche und flexible Arbeitszeitmodelle gäbe, Marcel Brotzer wäre die Idealbesetzung dafür. Der Leiter Servicestelle und stellvertretende Geschäftsführer der Thomann Nutzfahrzeuge AG in Schmerikon liess in seinem Referat keine Zweifel aufkommen, wohin der Weg führt.

130 Mitarbeitende – 40 Modelle

«Flexibilität, unsere Stärke, Ihr Vorteil» laute der Leitsatz seiner Firma. Brotzer verblüffte mit der Feststellung, dass sie bei 130 Mitarbeitenden nicht weniger als 40 verschiedene Arbeitszeitmodelle anwenden würden. Offensichtlich handelt die Thomann Nutzfahrzeuge AG praktisch mit jedem Angestellten einen individuellen Arbeitsvertrag aus. «Es war schwierig, gute Mitarbeiter zu finden und zu behalten – wir mussten etwas tun», erklärt Brotzer. Die Firma am Oberen Zürichsee machte aus der Not eine Tugend und schuf damit eine klassische Win-win-Situation.

Diese Unternehmenspolitik beeindruckt tatsächlich. So werden Arbeitszeitmodelle speziell für Familienväter oder Weltenbummler angeboten. Auch Marcel Brotzer selber hat sich sein eigenes, wenn auch weniger spektakuläres Modell geschaffen: Er verteilt sein Vollzeitpensum auf vier Tage und kann sich so den fünften für die Familie frei halten.

Der Organisationsbedarf sei durch diese Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse zwar hoch, räumt er ein. Bei der Thomann AG sei dieses System jedoch historisch gewachsen und mit einem optimalen Zeiterfassungssystem auch gut zu handhaben. Wichtig sei, dass das Modell von Arbeitgebern und Belegschaft gemeinsam erarbeitet und nicht einfach aufgezwungen werde. Das sei selbst in Kleinfirmen möglich.

Doch lohnt sich der Aufwand für eine solche Flexibilisierung der Arbeitszeiten? «Ja», erklärt Brotzer, «in erster Linie lohnt es sich für die Mitarbeitenden; sind sie zufrieden, wirkt sich das auf die Kundenzufriedenheit aus, und das kommt schliesslich dem Unternehmen zugute.»

Regulierungsdichte nimmt stetig zu

Wo sich in dieser Euphorie dennoch allfällige Fallgruben öffnen könnten, zeigte der Jurist Christoph Senti, Partner des Advokaturbüros Frei, Steger, Grosser, Senti in Altstätten und Dozent an der Universität St. Gallen sowie an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften auf. In seinem Referat «Rechtliche Aspekte flexibler Arbeitsverhältnisse» kämpfte er sich nicht nur mit viel Fachwissen, sondern auch mal mit einer zünftigen Portion Humor oder gar Sarkasmus durch die in den Details sehr anspruchsvolle Materie.

Wirklich kompliziert wird es laut Senti, wenn dem gesetzlichen Rahmen die Bedürfnisse in der Praxis entgegengesetzt werden. «Ja, die Regulierungsdichte nimmt stetig zu», erklärt er gegenüber dem «arbeitsmarkt», das erschwere die Sache enorm. Im benachbarten Ausland sei der Zustand jedoch noch viel prekärer. Zudem trügen diese Regulierungen im positiven Sinne dazu bei, dass der erforderliche Schutz der Arbeitnehmenden mit der von den Arbeitgebern gewünschten Flexibilität unter einen Hut gebracht werden könne.

Es sei in der Schweizer Wirtschaftswelt jedoch nicht der Fall, dass Arbeitsverhältnisse nur noch mit Hilfe von Juristen geregelt werden könnten, entscheidend sei die jeweilige Unternehmenskultur. «Gesunder Menschenverstand, Kommunikation und Vertrauen» bleiben für Senti auch in Zukunft die Grundpfeiler für ein allseits befriedigendes Arbeitsverhältnis.

Jahresarbeitszeit als Spitzenreiter

In den flexiblen Arbeitsverhältnissen sieht auch Toni Holenweger einen klaren Fortschritt. Der Arbeitsexperte und Geschäftsleiter der Gruppe Corso in Zürich ist überzeugt, dass die Arbeitsdauer pro Tag oder Woche immer mehr in den Hintergrund rücke. Sei im Jahre 1848 mit 78 Stunden erstmals eine Obergrenze für die wöchentliche Arbeitszeit eingeführt worden, stagniere diese seit 1967 bei 45 Wochenstunden. Zurzeit sei auch gar kein sozialer Träger vorhanden, der eine weitere Senkung einfordere.

Immer mehr in den Vordergrund rückten statt der Tages- und Wochenarbeitszeit die Systeme Langzeitkonten, Lebensarbeitszeit und individuelle, biografiegerechte Arbeitszeiten. Ganz speziell erwähnt Holenweger die Jahresarbeitszeit, womit die Arbeitszeit pro Tag oder Woche sehr flexibel gestaltet werden könne. Er bezeichnet die Jahresarbeitszeit gar als «organisatorische und mentale Voraussetzung für grössere Flexibilität». Bereits mehr als die Hälfte der Arbeitnehmenden in der Schweiz richte sich nach diesem System.

Oftmals eingesetzt würden die individuellen Zeitkonten zum Ausgleich unterschiedlicher wöchentlicher und täglicher Arbeitszeiten. Die maximale Höhe eines Zeitkontos betrage gewöhnlich plus/minus 160 Stunden. Eine weitere Flexibilisierung bringe das so genannte Ampelkonto. Es signalisiere die Eigenverantwortlichkeit der Mitarbeitenden und gebe ihnen einen Gestaltungsspielraum bei der Arbeitszeit bis zu 40 Stunden unter Berücksichtigung der betrieblichen Bedürfnisse. Alle Stunden über 40 würden im Verantwortungsbereich der Führungskräfte liegen, alle Stunden über 80 seien angeordnete Stunden.

Aus welcher Fülle von flexiblen Arbeitsverhältnissen heutzutage ausgewählt werden kann, erläuterte der Arbeitszeitexperte im weiteren Verlauf seines Referats. So analysierte er den Langzeiturlaub nach Alter oder auch die Langzeitkonten und ergründete die Wahl der täglichen Arbeitszeit, die sich oft nicht mit der Betriebszeit decke. Umso mehr sei die sinnvolle Verwendung der Zeitguthaben oder auch ein Gleitzeitarbeitssystem gefragt. Zudem stellte Holenweger generationengerechte Arbeitszeitmodelle sowie die möglichst geringe Belastung durch Nacht- und Schichtarbeit vor – mit dem Fazit, dass ein Arbeitsleben immer mehr durch eine «Patchworkbiografie» geprägt werde.

Es geht auch einfacher

In Zukunft würden demnach die Wahlmöglichkeiten der Arbeitsverhältnisse noch zunehmen, ist Holenweger überzeugt. Und nach welchem System arbeitet er selber? Holenweger lacht. «Ich messe die Zeit nicht. Ich habe absolute Zeitsouveränität und arbeite, wann ich will.» Stoss- und Stresszeiten gebe es dennoch, schmunzelt er, ob im Büro, unterwegs oder im Home Office.

Dieses System nenne sich «Vertrauensarbeitszeit» und sei nur möglich, wenn in einem Job die Leistung klar bemessen werden könne. Ein besonders zukunftsträchtiges Modell sieht er darin aber nicht. Denn der grösste Teil der Arbeit werde auch in Zukunft zeitlich erfasst. Mehr noch: Gerade die Flexibilisierung der Arbeitszeiten erfordere eine besonders genaue Messung. Auch in der neuen, flexibilisierten Arbeitswelt gilt eben: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.