Veröffentlicht am 19.10.2011TEXT: Franziska Forter

Vom Fachkräftemangel sind technische Berufe besonders betroffen. Foto: Swissmem

Fachkräftemangel: Lösungssuche gestaltet sich schwierig

ff. Was tun gegen den drohenden Fachkräftemangel? Hat der Produktionsstandort Schweiz eine Zukunft? Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik diskutierten die Probleme und Chancen des Schweizer Arbeitsmarkts. Kontroversen gab es kaum.

«Die weltweite Wirtschaftslage sieht nicht so düster aus, wie die Medien sie darstellen», sagte Jan-Egbert Sturm, Leiter der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF), in seinem Eingangsreferat. So sei zwar nach dem Einbruch 2009 allgemein eine Verlangsamung des Wachstums festzustellen; insgesamt hätten sich die Volkswirtschaften aber gut erholt.

Eingeladen zur Podiumsdiskussion im Hotel Bellevue Palace in Bern hatte der Personaldienstleister Manpower Schweiz. Unter dem Titel «Arbeitskräfte ohne Grenzen» diskutierten Exponenten aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung mögliche Lösungen für den drängenden Fachkräftemangel in der Schweiz.

Der Haupttreiber des Wachstums ist Asien. Die Schweiz hinke hinterher, so Sturm, was in der Exportwirtschaft vor allem auf den starken Schweizer Franken zurückzuführen sei. Doch auch in der Schweiz steige die Beschäftigungsquote, vor allem im Dienstleistungssektor. Serge Gaillard, Leiter der Direktion für Arbeit beim SECO, bestätigte den Befund: Die Frankenstärke habe das Wachstum zwar deutlich abgeschwächt. Die Stimmung in den Unternehmen sei aber besser, als sie wahrgenommen werde.

Der «MINT»-Bereich ist besonders betroffen

«Im Bauwesen ist sogar ein regelrechter Boom festzustellen», führte Jacky Gillmann, VR-Präsident der Totalunternehmung Losinger Marazzi, aus. Wegen der Zuwanderung, des steigenden Wohnflächenbedarfs des Einzelnen und der niedrigen Zinsen werde heute gebaut wie selten zuvor. Dies habe zur Folge, dass ein grosser Mangel an Fachkräften herrsche, insbesondere an Ingenieuren, und fähige Leute schnell abgeworben würden. Ein weiteres Problem: Viele hochqualifizierte Mitarbeiter seien aus der Produktion in den Finanzsektor abgewandert. Es herrsche insgesamt ein grosser Talentwettbewerb.

Besonders akut ist der Fachkräftemangel im «MINT»-Bereich, also in Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik –, aber auch im Gesundheitssektor. Rund die Hälfte der Schweizer Unternehmen sieht im Fachkräftemangel die grösste Herausforderung der Zukunft.

Gemäss Manpower-Index ist die Anzahl Schweizer Firmen, die einen Fachkräftemangel beklagen, von gut 30 Prozent in den letzten vier Jahren auf aktuell 46 Prozent hochgeschnellt. Der Manpower-Index ist ein international anerkannter Indikator für die Arbeitsmarktentwicklung.

Potenzial von Frauen und älteren Menschen besser nutzen

«Das Aufspüren von Fachkräften ist nicht von der Konjunktur abhängig», sagte Hans C. Werner, Leiter HR und Konzernleitungsmitglied der Swisscom. «Sie sind immer schwer zu finden und schnell wieder vom Arbeitsmarkt absorbiert.» Er spreche lieber von Kräfte- als von Fachkräftemangel. Im allgemeinen Trend zur Dienstleistung sei festzustellen, dass es wenig nütze, wenn die Fachausbildung stimmt, aber das Verhalten nicht.

Neben die fachliche Kompetenz müsse unbedingt die Sozialkompetenz treten. «Wenn ich mit einem Servicetechniker unterwegs bin, bin ich auch mit einem Dienstleister unterwegs. Was bringt es, wenn dieser nicht weiss, wie er sich gegenüber Kunden zu verhalten hat?» Daher fokussiere er bei der Personalrekrutierung auf «Persönlichkeiten» statt auf Fachkräfte.

Uwe E. Jocham, Direktionspräsident der Biotech- und Pharmafirma CSL Behring, schlug vor, bereits die Kinder für den Beruf der Eltern zu interessieren, zum Beispiel mit erweiterten «Sohn-und-Tochter-Tagen». Dann bestehe die Chance, den Fachkräftebedarf vermehrt im Inland decken zu können. Auf dem Bau hat Jacky Gillmann mit der Anstellung von Frauen gute Erfahrungen gemacht. Die Produktivität auf den Baustellen habe sich erheblich verbessert, seit vermehrt Frauen mitarbeiteten.

Nicht nur bei den Frauen gibt es noch grosse Reserven. Gerhard Schwarz, Direktor des Thinktanks Avenir Suisse, wies auf das grosse Potenzial der älteren Arbeitnehmenden hin. «Da liegt viel Wissen und Erfahrung brach, und ältere Leute brauchen nicht erst integriert zu werden.»

Heisses Eisen Personenfreizügigkeit

Da der Bedarf an Fachkräften im Inland nicht gedeckt werden kann, kam schliesslich das «heisse Eisen» Personenfreizügigkeit auf den Tisch. Christa Markwalder, Nationalrätin FDP Bern, wies auf den grossen Widerstand in der Bevölkerung gegen eine «unkontrollierte» Einwanderung hin, den man nicht einfach ausblenden könne.

Auf die Frage des Moderators «Wie viele Leute verträgt die Schweiz?» antwortete Anita Fetz, Ständerätin SP Basel-Stadt, die von der Wirtschaft postulierte Verfügbarkeit von Arbeitskräften «jederzeit und überall» werde vom Volk so verstanden, dass die Zuwanderer den Schweizern den Job wegnehmen und dem Lohndumping Vorschub leisteten. In Basel stelle sie einen Stimmungsumschwung fest. Die Wirtschaft müsse besser informieren. Sie dürfe das kontroverse Thema nicht allein der Politik überlassen.

Gerhard Schwarz von Avenir Suisse pflichtete ihr bei: «Das Problem ist längst in der politischen Mitte angekommen.» Schwarz wies darauf hin, dass sich das zu Beginn von Jan-Egbert Sturm dargelegte Wachstum nicht pro Kopf, sondern auf die Gesamtheit der Volkswirtschaft beziehe und damit auf die stark gewachsene Bevölkerung. Die präsentierten Zahlen müssten in diesem Zusammenhang gesehen werden. «Die Wirtschaftsaussichten bleiben schwierig», warnte Schwarz. «Wir bewegen uns sozusagen ‹zwischen Pest und Cholera›.»

Serge Gaillard betonte, dass eine Steuerung der Einwanderung nicht möglich sei, denn Wachstum bedeute immer auch Zuwanderung. «Wachstum ist ohne Zuwanderung nicht zu haben», so Gaillard. Es finde keine Verdrängung der Einheimischen statt, es sei eher ein «Gefühl» der Job-Angst da. Dieses Gefühl in der Bevölkerung müsse man ernst nehmen und über den Nutzen der Personenfreizügigkeit besser informieren.

Produktionsstandort Schweiz hat durchaus Chancen

Damit die Schweiz auch als Produktionsstandort eine Zukunft hat, ist vor allem ein vermehrtes Engagement der Wirtschaft gefragt. Darin war man sich einig. Es geht darum, Talente früh zu entdecken und nicht nur Fachwissen, sondern auch Sozialkompetenzen zu vermitteln. Sodann müssen die Unternehmen in der Schweiz für attraktive Arbeitsmodelle sorgen und den Mitarbeitenden Perspektiven bieten.

In der Kontroverse um die Zuwanderung müsse sich die Wirtschaft stärker einbringen. Bei der Ausbildung sollen sich wieder mehr junge Leute für die «MINT»-Fächer begeistern. Weiter gelte es, die brachliegenden Reserven unter Frauen und Älteren zu nutzen. Wenn diese Faktoren umgesetzt werden, hat die Schweiz nicht nur als Dienstleistungsanbieterin im Finanzsektor, sondern auch als Produktionsstandort eine Chance.