Veröffentlicht am 11.01.2008TEXT: Matthias Hochuli

Die Meister der Zeichensprache

Die Welt gilt heute als globales Dorf, doch übersichtlicher ist sie deswegen nicht geworden.
Signaletikerinnen und Signaletiker sollen verhindern, dass fremde Orte, Gebäude oder Flughäfen zu Labyrinthen werden. Als Kaderschmiede in Europa gilt die Hochschule der Künste Bern.

Eine Touristengruppe hat soeben den Bahnhof Bern verlassen.
Irritiert bleibt sie vor den Absperrgittern zur Baustelle am Bahnhofplatz stehen und weiss nicht, wie weiter. Ihr Ziel ist das Unesco-Weltkulturerbe der Stadt Bern, die Altstadt mit ihren Plätzen und Brunnen, dem Zytglogge-Turm und dem Münster. Bis jetzt sehen die Gäste aus dem Ausland nur Bauschutt, Staub und Maschinen. Am Gitter vor ihnen hängt ein provisorisch montiertes Schild.
Die Informationen darauf: «Spitalgasse/Neuengasse, Linien 3/5/9 und 10/12/19/30» helfen ihnen nicht weiter. Sie erkundigen sich bei Passanten und Vorbeieilenden nach dem Weg. Kaum jemand kann helfen.

Allgemein verständliche Orientierungshilfe

Die Signalisation auf der Grossbaustelle Bahnhofplatz Bern ist unübersichtlich, chaotisch. «Die Signalisation um den Bahnhof wurde bereits durch die Bauleitung verbessert. Die Probleme sind bekannt», gibt Michael Keller von Bern Tourismus Auskunft. Doch eine Lösung scheint nicht in Sicht. «Die Baustelle verändert sich täglich. Jeden Morgen müssen die Schilder lokal der aktuellen
Situation angepasst werden», begründet Luca Pifferi von der verantwortlichen Bauunternehmung Walo Bertschinger AG die Schwierigkeiten. Die Touristengruppe hat sich inzwischen entschieden, dem Passantenstrom zu folgen, und marschiert Richtung Innenstadt. ˛
Die Besucher haben intuitiv richtig entschieden. Intuition hilft aber nicht immer weiter. Oft braucht der Mensch in unübersichtlichen und unbekannten Situationen fremde Hilfe: eine Orientierungshilfe, um sich im öffentlichen, urbanen Raum, in grossen, komplexen Gebäuden zurechtzufinden. Hier hilft die Signa-
letik. Sie versucht, die Informationsbedürfnisse des modernen Menschen zu bündeln, zu strukturieren. Sie gestaltet und organisiert den öffentlichen Raum mit Leitsystemen, Tafeln und Schildern.
Die an diesem Arbeitsprozess beteiligten Spezialistinnen und Spezialisten kommen aus den unterschiedlichsten Richtungen: aus der grafischen Branche, der Städteplanung und dem Ingenieurwesen, der Architektur oder dem Tourismus und dem Marketing. Gute Signaletik wird ohne Vorkenntnisse, unabhängig von Sprache oder kulturellem Hintergrund, verstanden.
Den Begriff «Signaletik» hat Theo Ballmer geprägt, er ist Sig-naletiker der ersten Stunde. Vor dreissig Jahren wurde der gelernte Lithograf von der Métro in Paris für verschiedene Signaletik-
projekte engagiert. Es galt, das bestehende Fahrgastinformationssystem zu erneuern, «logisch zu strukturieren und terminologische Unklarheiten zu vermeiden». Eine dieser Unklarheiten bestand im Begriff Signal. «Mit Signal waren sowohl die Signale für den Lokführer als auch jene für die Fahrgäste in der Métro gemeint. Das hat in der Konzeptionsphase zu Begriffsverwirrungen geführt. So habe ich im Zusammenhang mit der Bündelung und Strukturierung der Fahrgastinformationen den Begriff Signaletik vorgeschlagen», schildert der heute 71-Jährige.
«Die Signaletik ist eine übergreifende Disziplin. Sie entwickelt Leitsysteme in Städten, grossen Gebäuden, Flughäfen oder Bahnhöfen», definiert er die noch junge Disziplin. «Aber auch das Programmieren einer Website hat mit Signaletik zu tun. Denn auch dort müssen die Benutzer logisch geführt und Informationen strukturiert werden.»

Informieren statt ablenken

Ballmer zeichnet denn auch für viele Fussgängerleitsysteme in der Schweiz, Europa und den USA verantwortlich. «Das erste entstand 1980 in Basel und war auch gleich eine Weltneuheit», schwärmt er vom Projekt in seiner Heimatstadt. Besonders wichtig für die Planung und die Umsetzung seien die historischen, architektonischen und urbanistischen Voraussetzungen einer Stadt. «Basel, im Kern eine gotische Stadt, wurde um den Münsterhügel gebaut. Deshalb sind die Strassen um den Hügel gebogen, was grossen Einfluss auf das Strassennetz und die weitere Entwicklung hatte. Zudem wurde ein grosser Teil der Stadt an der Schwelle des 19. zum 20. Jahrhundert gebaut und ist daher stark vom Jugendstil geprägt.»
Dies sei etwa ein krasser Gegensatz zur Zähringerstadt Bern, wo er das Fussgängerleitsystem für die Innenstadt entwarf. «Die Zähringer haben Bern sehr stringent rechtwinklig geplant. Die Stadt braucht eigentlich gar kein Orientierungssystem, sie ist wie ein kleines Manhattan. Ein Strassengitter, das durch klar strukturierte Haupt-, Quer- und Nebengassen von Plätzen mit Brunnen zusammengehalten wird. Dadurch wird die Stadt erlebbar, und meine Aufgabe als Signaletiker ist es nun, diese Struktur mit
Legenden und Tafeln verständlich zu machen.»
Dass intelligente Informationssysteme nicht nur in Städten und Gebäuden zum Tragen kommen, zeigt sein Engagement als Berater der grössten französischen Tageszeitung «Ouest-France». Seit mehr als dreissig Jahren profitiert «Ouest-France» von den sig-naletischen, raumstrukturellen Kenntnissen und Überlegungen Theo Ballmers. «Auch eine Zeitung ist ein Informationssystem. Ihre Informationseinheiten müssen übersichtlich und grafisch einheitlich dargestellt werden.» Eine grosse Herausforderung sei dabei, das individuelle Leseverhalten richtig zu interpretieren. Studien zu den Lesegewohnheiten hätten ergeben, dass kaum ein Leser wie der andere sei und nur zehn Prozent der gesamthaft angebotenen Informationseinheiten (Titel, Untertitel, Lead, Text, Bild und
Legende) wahrgenommen würden. «Den Lesern kann man nicht vorschreiben, was sie lesen sollen. Sie handeln sehr ökonomisch, lesen hauptsächlich die Informationen, die sie bewusst oder latent interessieren», sagt Ballmer. Dabei müsse mit Layout und grafischer Strukturierung geholfen werden, «bequemer lesen zu können, den Weg in der Zeitung zu finden, genau gleich wie in einer Stadt. Der signaletische Grundgedanke ist derselbe.» ˛
Gute Signaletik prägt aber nicht nur Innenstädte oder das visuelle Erscheinungsbild einer Zeitung. Sie kann sogar Leben retten. Dies beweist ein tragisches Ereignis im Jahre 1996. Flughafen Düsseldorf: Bei einem Brand sterben 17 Menschen, weil sie nicht rechtzeitig den Weg ins Freie finden. Die schlechte Beschilderung
der Notausgänge verhinderte die Flucht ans Tageslicht, wohin Menschen in Panik immer flüchten. Erik Spiekermann, Typograf und Informationsdesigner aus Berlin, wurde mit einem neuen Leitsystem und einer neuen Notausgangsbeschilderung für den Flughafen Düsseldorf beauftragt. Viele Schilder im alten Flug-
hafengebäude seien nicht sinnvoll gewesen, erinnert er sich. «Wenn ich eine schwarze Schrift auf hellgrünem Hintergrund habe und das Grün auch noch hinterleuchte, dann habe ich eine Lampe. Und in eine Lampe gucke ich ungern rein. Und wenn dann noch Schrift draufsteht, dann ist das ablenkend statt informierend», äussert sich Spiekermann zur Situation in Düsseldorf vor dem Unglück.

Am Anfang war das Farbleitsystem

Nicht nur in Düsseldorf hat man die Zeichen der Zeit erkannt. Einer der grössten Flughäfen der Welt, der John F. Kennedy Airport (JFK) in New York, der jährlich rund 43 Millionen Passagiere befördert, war für seine katastrophale Ausschilderung bekannt. Jedes Terminal gehört einer eigenen Fluggesellschaft, und jede Airline hatte ihre eigenen Architekten oder Designer, die es nach Lust und Laune ausschilderten. Ein Marktforschungsinstitut fand heraus, dass sich rund ein Viertel der Reisenden verirrten. Der Holländer Paul Mijksenaar, einer der erfolgreichsten internationalen Informationsdesigner, entwickelte ein neues Informationssystem für den JFK. Die Flughafenleitung wurde auf ihn aufmerksam, weil er bereits den Flughafen Schiphol signaletisch optimiert hatte. Das Leitsystem im Amsterdamer Flughafen gilt seither als weltweiter Standard für moderne und funktionale Flughafenleitsysteme.
Mijksenaars Arbeitsstil ist aussergewöhnlich: Mit einer Handkamera folgt er Reisenden durch das Flughafengelände, vom Parking bis zum Gate zeichnet er ihren Weg auf. Das – bei der Arbeit für den JFK fast hundert Stunden lange – Filmmaterial wertet er dann mit seinem 17-köpfigen Team aus und plant damit das neue Leitsystem.
Auch wenn der Begriff Signaletik erst dreissig Jahre alt ist, die eigentliche Geburtsstunde der Signaletik liegt weiter zurück. Der deutsche Grafiker und Maler Max Burchartz entwickelte zwischen 1924 und 1927 ein Farbleitsystem für das Hans-Sachs-Haus in
Gelsenkirchen, den zentralen Verwaltungssitz der Stadt. Für jede Etage des multifunktionalen Backsteinhauses wählte der Professor für Gebrauchsgrafik eine Primärfarbe, mit der er grosse Sig-nalfelder an die Wände malte. Diese Farbflächen in Primärfarben leiteten die Besucher durch den Gebäudekomplex. Das im Krieg teilweise zerstörte Gebäude wurde später neu aufgebaut und Ende der 50er-Jahre erweitert. Dabei wurde das Farbleitsystem übermalt und erst in den Neunzigerjahren wiederentdeckt und teils restauriert.
Mit Burchartz’ Farbleitsystem wird die Bedeutung der visuellen Kommunikation im öffentlichen Raum und in komplexen Umgebungen das erste Mal sichtbar.

Visuelle Kommunikation im Comic-Stil

Für die visuelle Kommunikation und die Signaletik spielen im Weiteren auch Piktogramme, einfache Bildsymbole, eine tragende Rolle. Als Meilenstein der Piktogrammsprache gelten die Arbeiten des Grafikers Otl Aicher (siehe Kasten Seite 22), bekannt geworden durch seinen Gestaltungsauftrag für die Olympischen Sommerspiele 1972 in München. Zwei Jahre nach München, 1974, veröffentlichte das AIGA (American Institute of Graphic Arts) ein Set von 34 Piktogrammen für den Bereich der informellen Architektur (siehe Kasten Seite 24). Diese kultur- und sprachübergreifende Bildsprache wird heute noch für Leitsysteme auf nationalen und internationalen Flughäfen, in Bahnhöfen und Verkehrszentren eingesetzt. Sie ist in abgeänderter und verbesserter Form auch in der Schweiz zu sehen: in der Signaletik der SBB, kreiert vom Grafiker Peter Spalinger. Für seine Arbeit hat dieser 1987 in Wien den Brunel Award, der die Qualität von Architektur und Design im Eisenbahnbereich fördert, erhalten. Spalingers Logos, Schilder und Piktogramme – inspiriert von Aicher und AIGA – bilden das einheitliche und leicht verständliche Fahrgastinformationssystem der SBB (siehe Kasten unten).

Interdisziplinär richtungsweisend

Der aktuellste Meilenstein in der noch jungen Geschichte der Sig-naletik führt zurück nach Bern an die Hochschule der Künste (HKB). Seit 2002 bietet die HKB als erste in Europa ein berufsbegleitendes Nachdiplomstudium in Signaletik an. Theo Ballmer wurde damals von der HKB beauftragt, dieses Studium zu konzipieren und aufzubauen. Begeistert von dieser Idee, sagte er sofort zu und übernahm die Studienleitung. Heute, fünf Jahre später, wurde das Signaletikstudium der Bologna-Deklaration angepasst: Ab 2008 gibt es in Bern einen Bachelor- und einen Master-Kurs in Signaletik. Ballmer, der heute noch Signaletik an der HKB doziert, freut sich über diese Entwicklung und betont die Wichtigkeit des Sig-naletikstudiums: «Es ist sehr wichtig, dass diese Disziplin an der Hochschule weiterlebt. Mit der Signaletik können wir die urbanis-tischen Überlegungen – also das interdisziplinäre Studium einer Stadt unter ökonomischen, sozialen, kulturellen und geografischen Gesichtspunkten – berücksichtigen. Denn diese Gedanken sind im Informationsdesign aus den USA nicht enthalten.» Die Stossrichtung für die Signaletik komme vom Informationsdesign in den USA, dieses befasse sich aber nur mit der grafischen Gestaltung von Tafeln, Schildern und Displays. Genau hier gehe die Ausbildung in Bern weiter. «Die urbanistischen, strukturellen oder auch soziologischen Überlegungen und Erkenntnisse werden nun in die Signaletik einbezogen. Sie gehören zu den wichtigen Grundlagenfragen: Wie ist eine Stadt entstanden? Welche historischen Voraussetzungen sind gegeben? Wie ist ein Gebäude, ein Flughafen aufgebaut?» und stünden im Zentrum der signal-etischen Diskussion.
Der Studienleiter Ballmer findet denn auch grossen Gefallen an der Zusammenarbeit und dem Austausch mit den Studierenden: «Die Arbeit mit den Studierenden ist sehr erfrischend. Sie entwickeln neue Lösungsansätze und Vorgehensweisen. Daraus entstehen wieder neue Wege und Möglichkeiten», schildert er die Zusammenarbeit mit den zukünftigen Signaletikerinnen und Sig-naletikern. Und er fügt an: «Ich will mein Wissen weitergeben, keinen Hut darüberstülpen und es konservieren». Denn: «Meine Studierenden sind keine Konkurrenten für mich. Im Gegenteil, ich sehe ihre Arbeit als Ergänzung meiner eigenen.»
Der Dozent für Signaletik hat seinen Weg gefunden. Mit seiner Aufgabe als wissenschaftlicher Mentor für die nachfolgende Generation sorgt er dafür, dass auch in Zukunft intelligente Leitsys-teme entworfen und zum Einsatz kommen. Und dabei die notwendige Orientierungshilfe leisten, wenn ein Absperrgitter die Sicht verdeckt, Baumaschinen den Weg versperren oder die sonst
verlässliche eigene Intuition im urbanen Raum versagt.