Veröffentlicht am 24.12.2008TEXT: J. Claude Rohner

Foto: J. Claude Rohner

Das Elend auf der Gasse

jcr. Kommt der Winter, verliert das Leben auf der Gasse jegliche Romantik. Elend und Krankheiten plagen die Obdachlosen. Zum Glück schaffen die Hilfswerke etwas Linderung.

Nur wenn er von draussen an die Wärme kommt, muss Cello niesen. Seit er ohne Dach über dem Kopf lebt, war er nie mehr erkältet. Der Körper gewöhnt sich an die Temperaturschwankungen, weil der Winter selten schlagartig eintrifft. «Aber ich muss zweimal täglich warm essen, damit ich die kalte Jahreszeit durchhalte», sagt Cello.
Erst bei minus zwanzig Grad übernachtet der Mitfünfziger in einem Haus. Nachts schläft er im Wald.
Tagsüber ist er oft im „Taubenschlag", auf dem kleinen Platz gegenüber dem Coop Provisorium beim Zürcher Hauptbahnhof. Cello ist seit drei Wintern obdachlos. Der Tod seiner Frau warf ihn aus dem Gleis. «Es hat mir richtig abgelöscht.» Nun will er nur noch so leben, wie er will.
Im Taubenschlag trifft er Leute, mit denen er gut auskommt,  und vor allem Ricarda Rietberger, die Diakonin und Gassenarbeiterin. Sie ist eine wichtige Anlaufstelle für die Sorgen und Nöte der Gasse. Die Obdachlosen vertrauen ihr. Cello findet alles auf diesem Platz, was er braucht. Rucksack und Schlafsack bekam er von Ricarda ohne Wenn und Aber. «In Zürich kann man unmöglich verhungern und erfrieren auch nicht», sagt Cello mit einem sympathischen Lachen im Gesicht.

Povertydrain aus Deutschland

Auf 800 Personen schätzen Fachleute die Obdachlosenszene in Zürich. Die Altersstruktur bewegt sich vorwiegend zwischen 25 und 45 Jahren. «Es ist in allen Städten gleich, entsprechend ihrer Grösse», sagt Joachim Focking, stellvertretender Gesamtleiter der Sozialwerke Pfarrer Sieber (SWS), die in Zürich massgebliche Betreuungsarbeit leisten. «Offizielle Stellen spielen das Problem massiv herunter.» Das Elend konzentriert sich in den städtischen Agglomerationen. Dort finden die gescheiterten Existenzen die Anonymität, die ihren Rest Würde bewahrt. Sie finden ein Unterstützungssystem, das ihnen überleben hilft. Dort erhalten sie Essen, ein Dach über dem Kopf und ärztliche Hilfe.
Der Ruf der guten Betreuung ist unterdessen bis nach Deutschland gedrungen. Seitdem die Personenfreizügigkeit Schweiz-EU in Kraft ist, kommen immer mehr Hartz IV-Geschädigte nach Zürich. Sie sind ein stetig wachsender Teil der Menge, die sich beim Taubenschlag aufhält. Da Betteln und «Mischeln», zu Deutsch Leute auf der Strasse anpumpen, in Deutschland strafbar und die Fürsorgeeinrichtungen in der Schweiz effizienter sind, hat sich neben dem Braindrain auch ein Povertydrain entwickelt. Nicht nur in den Chefetagen spürt man die Invasion.

Hierarchische Zweckgemeinschaft

Der Taubenschlag ist ein wichtiger Teil des sozialen Netzes, den die Obdachlosen brauchen. Sie sind eine Zweckgemeinschaft, die gegen aussen zusammenhält, ein starkes soziales Gefüge mit einer Hierarchie, in der dem Alter mit einem gewissen Respekt begegnet wird. Die Strukturen sind dynamisch. Es gibt zwar einen Oberboss, der schon lange auf der Gasse ist. Aber wer weiss, wie lange er sich hält?
Neue Leute werden rasch aufgenommen, wenn sie sich anständig benehmen und ihre Habe auch teilen: Zigaretten, Alkohol, Essen, Geld. Wer nichts hat, hängt nicht an Materiellem.
Freundschaften gibt es auf der Gasse weniger. Cello ist da eine Ausnahme. Er sorgt sich um seinen kranken Kollegen, dem es sehr schlecht geht, aber der hat nicht mehr die Kraft, etwas zu ändern. Es belastet Cello. Er wäre am liebsten allein, aber Freund ist Freund.
Mit der Polizei ist das Einvernehmen gut. Sie weiss, wo sie ihre Pappenheimer findet, wenn sie sie sucht, und sonst lässt sie die Leute in Ruhe. Vor acht Jahren startete Michael Herzig als Projektleiter das Projekt sip (Sicherheit, Intervention, Prävention), das vom Sozialdepartement Zürich getragen wird. Das Experiment ergänzt den städtischen ordnungsdienstlichen mit einem sozialarbeiterischen Auftrag. Unterdessen erfüllt das sip eine wichtige Funktion bei der Gassenarbeit. Die Haltung der Leute auf der Gasse ist allerdings zwiespältig, weil das sip rascher die Polizei intervenieren lässt als die anderen Hilfswerke, die möglichst lange andere Wege versuchen, um das Vertrauen in ihre Institutionen nicht zu gefährden.

Siamesische Zwillinge

Die Anlaufstellen sind oft dort, wo sich das Elend konzentriert: im Milieu. Das Café Yucca der Zürcher Stadtmission - von der Stiftung Evangelische Gesellschaft des Kantons Zürich - befindet sich im Rotlichtteil des Niederdorfs. Wer ins Café Yucca geht, hat andere Probleme als Sex und kaum das Geld, um sich solche Dienste leisten zu können. Die Stadtmission ist ein Ort für Obdachlose und andere Menschen, die entwurzelt sind oder Hilfe brauchen. Die Leiterin, Regula Rother, macht sich keine Illusionen über die Lage ihrer Klientel. «Da ist die Luft dünn!» Die Sozialhilfe in Zürich unterstützt nur Menschen, die weniger als 4000 Fr. Vermögen haben und auch sonst mittellos sind. Sie erhalten 960 Franken, die Miete für eine günstige Bleibe und die Krankenkasse. Armut und Obdachlosigkeit sind siamesische Zwillinge.
Nicht nur Erwachsene haben kein Dach über dem Kopf - in Zürich haben die Sozialwerke Pfarrer Sieber eine Stelle für obdachlose Jugendliche, die es nach offizieller Lesart gar nicht gibt. Sieben Leute nächtigen dort ständig und es bestünde deutlicher Bedarf nach mehr Betten. Die Gruppe ist nur die Spitze des Eisbergs: Fünfzig bis hundert Jugendliche hängen herum, meist Punks; inoffiziell werden bis zu 300 genannt.
Oft sind die jugendlichen Obdachlosen nicht als solche erkennbar. Sie sind modern gekleidet, arbeiten aber nicht und übernachten in Kellern oder bei Kollegen. «Die jungen Frauen können leicht bei Männern unterkommen und finden so eine Unterkunft. Die jungen Männer schlagen sich sonst durch. Für Geld machen sie fast alles.» beklagt sich Focking.  Das Jugendamt ist froh, wenn sich die SWS mancher schwieriger Fälle annehmen. Meist treiben wie Studien belegen Vernachlässigung, häusliche Gewalt oder autoritäres Verhalten von Eltern die Jugendlichen auf die Gasse.

Aus Scham und Mutlosigkeit ohne Obdach

Obdachlosigkeit hat auch bei Erwachsenen verschiedene Ursachen. Selten ist sie frei gewählt wie bei Ernst*, der zu Lebzeiten sein Domizil hinter einem Detailhandelsladen in Basel hatte. Er schlief in einer seitlichen Nische und durfte sich im Geschäft waschen. Der frühere Gärtner verdiente sich ein paar Batzen mit Altglas und als Hilfe in den Gärten des Villenviertels. Eine mitleidige Dame hatte ihm angeboten, in der Remise hinten in ihrem Garten zu wohnen. Geheizt und mit fliessendem Wasser. Doch Ernst lehnte ab. Er konnte nicht eingeschlossen leben. Er brauchte den Himmel über sich.
«Menschen geraten durch äussere Umstände aus dem Gleis», sagt Joachim Focking vom SWS. «Ein Unternehmer macht Konkurs. Er verliert in der Folge Familie, Wohnung, sein Selbstwertgefühl. Die Krise lässt ihn in die Obdachlosigkeit schlittern. Aus Scham und Mutlosigkeit wendet er sich nicht an die Sozialhilfe, sondern gleitet aus dem sozialen Netz. Das geht unglaublich rasch.» Psychische Erkankung ist eine der Grundursachen der Obdachlosigkeit, sagt Focking. Die Menschen würden psychisch immer kränker. Das Burnout-Syndrom werde häufiger, greife immer mehr auf besser situierte Schichten über. Die höheren Ansprüche führten zu Lebenskrisen und diese bis zu Obdachlosigkeit. Die Entsolidarisierung der Gesellschaft beschleunige den Abstieg.

Ausgangssituation ist Arbeitslosigkeit

Die Leute auf der Gasse kommen darum aus allen Schichten,  Gegenden und Bildungsebenen. Die Herkunft kann am besten mit «querbeet» umschrieben werden. Ausgangssituation ist vor allem Arbeitslosigkeit. Ein Drittel der Obdachlosen sind laut Focking Frauen. Stark zugenommen haben Leute aus dem EU-Raum, aber auch Osteuropäer vor allem aus dem Kosovo, Serbien und Rumänien - Migranten mit Aufenthaltsbewilligung oder Secondos, die die Kurve nicht gekriegt haben.
Regula Rother von der Stadtmission hat aber auch gute Nachrichten: «Es hat weniger Obdachlose als in den Neunziger-Jahren. Denn Zürich hat ein sehr differenziertes Begleitungsangebot für Drogenabhängige». Cello zeigt sich ebenfalls optimistisch im Gespräch. Er schätzt, dass etwa ein Drittel von den Leuten auf der Gasse die Möglichkeit hätte, in absehbarer Zeit reintegriert zu werden, das heisst: wieder in den Arbeitsprozess eingebunden zu werden, ein festes Dach über dem Kopf zu haben und keine Dritthilfe mehr beanspruchen zu müssen.

Eigene Spitäler für kranke Obdachlose

Drogen, legale und illegale, sind laut Urs Schwab, dem Leiter der Notschlafstelle JobDach in Luzern, in fast der Hälfte der Fälle Auslöser des sozialen Abstiegs. Durch die bessere medizinische Versorgung der Drogenabhängigen werden die Obdachlosen heute älter, aber infolge ihrer geschwächten Konstitution sind sie auch öfter sehr krank.
«Die schwerkranken Obdachlosen sind ein grosses Problem», sagt Mirjam Spring, die Leiterin der Sunne-Stube vom SWS. «Aber die halten sich nicht bei uns auf.» Dafür ist das Spital Sunne-Egge der SWS in Zürich besonders auf Drogen- und Aids-Kranke spezialisiert. Die Kapazität reicht allerdings bei weitem nicht aus, deshalb suchen die SWS dringend ein weiteres Spital. Da die Obdachlosen von den normalen Spitälern nicht mehr getragen werden, landen sie im Sunne-Egge. Durch die Kombination von psychischer Krankheit, Hepatitis, Aids und anderen Krankheiten, verbunden mit einer starken Verhaltensauffälligkeit, sind die Menschen auf der Gasse für die Pflege in anderen Spitälern nicht geeignet, da sie langfristige Betreuung brauchen. Auch im Ur-Dörfli in Urdorf werden kranke Obdachlose aufgefangen und sozialisiert. Im Ambulatorium werden Leute betreut, die ihr Leben wieder im Griff haben, aber weiterhin krank sind.

Kurse für Gewaltprävention für Betreuende

Der Wechsel von Heroin zu Kokain putscht die Leute in der Drogenszene auf und macht sie aggressiv und gefährlich. Die Gewaltbereitschaft hat zugenommen, die Betreuerinnen und Betreuer der Hilfswerke müssen Kurse in Gewaltprävention absolvieren. Die Gewalt wird vermehrt nach aussen getragen. So wurden Knallkörper vor der Gassenküche gezündet.
Nachts ist es wichtig, dass der Schlafsack immer offen bleibt. Nicht nur, damit Cello nicht schwitzt und deshalb zu frieren beginnt. Auch wegen der kriminellen Jugendgruppen und der Banden, denen es hin und wieder einfällt, sie könnten doch wieder mal Obdachlose verprügeln. Da muss sich Cello rasch aus der Schlafhülle schälen können, wenn er das Gesindel kommen hört. Die meisten Obdachlosen sind schon Opfer solcher Angriffe geworden. Darum schlafen sie auch selten allein und möglichst versteckt.
Es regnet. Cello hebt seinen Rucksack vom Boden auf und macht sich auf seinen Weg, um irgendwo im Wald die Nacht zu verbringen. Von Zeit zu Zeit wird er horchen, ob sein Freund noch atmet.