22.09.2016
FOTOS UND TEXT: Nicole Bielander
Burnout wird auch in der Schweiz immer mehr zum Thema.

Übermässiger, anhaltender Stress am Arbeitsplatz kann in ein therapiebedürftiges Burnout münden.

Ausgebrannt

Wenn das schwarze Loch im Kopf regiert

Jeder vierte Erwerbstätige in der Schweiz leidet unter Dauerstress. Dies kann in ein Burnout münden. Betroffene geraten in ein Labyrinth, aus dem sie ohne therapeutische Hilfe nicht herausfinden. Zwei Betroffene berichten.

Regula Biberis (Name geändert) konnte nicht mehr. Immer neue, nicht delegierbare Aufgaben erschwerten der Leiterin einer 50-köpfigen Abteilung die Ablaufkoordination der Tagesgeschäfte zusehends. Sogar das Projektmanagement eines Bauvorhabens war ihr aufgebürdet worden, was überhaupt nicht in ihre Zuständigkeit fiel und für das sie weder Vorkenntnisse geschweige denn Flair mitbrachte. Einwände fegte ihr Vorgesetzter barsch vom Tisch: «Dann sind Sie falsch für diesen Job.» Regula Biberis arbeitete erst seit knapp einem Jahr bei diesem Arbeitgeber. Die noch vor ihr liegenden vier Jahre bis zur Pensionierung erschienen ihr auf einmal sehr lang. Sie musste durchhalten, ein vorzeitiger Ruhestand lag finanziell nicht drin. 

«Schlagartig bekam ich einen Heulkrampf»

Regula Biberis bekam Existenzängste, schlief immer schlechter. Nach ihren 12- bis 13-stündigen Arbeitstagen kam sie völlig ausgelaugt nach Hause. «Bereits Kartoffeln aus dem Keller holen wurde mir zu viel.» In ihrer kargen Freizeit kümmerte sie sich auch noch um ihre Eltern. Eines Tages, im März 2016, sass sie im Büro vor dem Computer und brach in Tränen aus. «70 ungelesene Mails, ich war schlagartig überfordert, bekam einen Heulkrampf», erzählt die Abteilungsleiterin. Sie möchte nicht erkannt werden und auch keine Rückschlüsse auf den Arbeitgeber ermöglichen.

Reto Räb heisst ebenfalls anders. Er gilt als sehr zuverlässig, ausdauernd und belastbar. Die Ruhe selbst. Während über 30 Jahren stand er ohne Murren mitten in der Nacht auf oder kam am frühen Morgen von seinem Dienst nach Hause. Die anspruchsvolle Turnusabfolge nahm er in Kauf; er mochte seine Arbeit und hatte eine Familie zu ernähren.

Schleichend stellte sich eine chronische körperliche und geistige Müdigkeit ein. Seine Konzentrationsfähigkeit liess nach. Er grübelte immer häufiger über eine Reduktion seines Arbeitspensums oder vorzeitige Pensionierung nach. Die Kinder waren inzwischen erwachsen und seine Frau nach der Erziehungspause ebenfalls wieder berufstätig.

«Mein Leben erschien mir sinnentleert»

Seine Frau durchkreuzte die Pläne. Das Paar hatte sich voneinander entfremdet, «wir sahen uns ja kaum mehr». Es kam zur Scheidung. Die finanziellen Forderungen seiner arbeitstätigen Frau warfen Reto Räb aus der Bahn. Seine jahrzehntelange kräftezehrende Berufstätigkeit erschien auf einmal vollkommen sinnentleert. Wozu hatte er sich dermassen verausgabt? Eine Weile lang schleppte er sich wie ein Roboter zur Arbeit. Dann brach er zusammen. 

Überlastung lange nicht eingestanden

Regula Biberis und Reto Räb sind beide gestandene, gewissenhafte Persönlichkeiten in verantwortungsvollen Berufen. Beide ignorierten lange pflichtbewusst ihre Überlastung. Ein häufiges Phänomen.

Krankheitsbild

Burnout wird von der WHO (World Health Organization) als «Multifaktorielle Befindlichkeitsstörung» definiert. Es handelt sich um eine durch Erschöpfung charakterisierte Stressreaktion aufgrund andauernder Überlastung am Arbeitsplatz, die zu einem anhaltenden negativen Gefühlszustand führt. 

Die Burnout-Betroffenen sind oft jahrelang enormem Druck ausgesetzt gewesen und fühlen sich ständig erschöpft, erkennen die Anzeichen vielfach selber nicht oder wollen sie nicht wahrhaben – bis sie völlig zusammenklappen. Angst vor Arbeitsplatzverlust, fehlende Unterstützung und ausgeprägtes Verantwortungsgefühl begünstigen Burnout.

Beide Protagonisten wandten sich an ihre Hausärzte. Der Arzt von Regula Biberis schien erleichtert: «Ich bin froh, dass Sie endlich kommen!» Er riet ihr zu einer Burnout-Therapie. Eine ambulante Psychotherapie stand für sie nicht zur Diskussion. «Ich wollte mich völlig herausnehmen.» Sie willigte in einen stationären Klinikaufenthalt ein, um Distanz zur Arbeit zu gewinnen und wieder zu sich selber zu finden. 

Zuvor standen noch Ferien an. «Ich erholte mich gut in den drei Wochen und erwog, den geplanten Klinikaufenthalt abzusagen», erzählt sie. Doch kaum zwei Tage nach der Rückkehr schienen die Ferien bereits wieder sehr lange her zu sein. Also begab sie sich doch in die Obhut der auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie auf Psychosomatik und Psychotherapie spezialisierten Klinik Gais in Appenzell Ausserrhoden. Ein grosser Teil der Klinikpatienten kämpft mit einer Erschöpfungsdepression, wie Burnout auch genannt wird.

Einfach sein und sich wieder spüren

Regula Biberis plante, nach maximal zwei Therapiewochen in Gais an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Zu sehr plagte sie das schlechte Gewissen. Binnen einer Woche gewann sie genügend Abstand, um sich auf ihre eigenen Bedürfnisse einzulassen. «Inzwischen ist es mir gleich, vier Wochen oder länger zu bleiben. Ich fühle mich sehr wohl in dieser grünen Insel. Keine Anrufe, keine Kontakte, einfach die Seele baumeln lassen», fasst Frau Biberis ihr Befinden zusammen. «Mein Tag wird für mich organisiert, die Therapien für mich zusammengestellt.» Dennoch: Ganz kann die Abteilungsleiterin die Arbeit nicht ausblenden. «Wenn ich darüber nachdenke, schnürt es mir die Luft ab.» Sie möchte, dies sei ihr klargeworden, nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurück.

Eine klinische Burnout-Therapie zielt nicht darauf ab, die Patienten zu einem Arbeitsplatzwechsel zu bewegen, im Gegenteil. «Die Reintegration in den alten Arbeitsplatz ist leichter, als neu anzufangen», erklärt Thomas Baisch, Chefarzt der ambulanten Psychosomatik-Station der Klinik Gais. Dies setzt natürlich voraus, dass die Situation am Arbeitsplatz nicht völlig verfahren oder unzumutbar ist. «Und der Patient sich innerlich nicht bereits verabschiedet hat», ergänzt er. 

Arbeitgeber werden nach Möglichkeit einbezogen

Der Chefarzt versucht oft, die Patienten zu überzeugen, den Arbeitgeber möglichst frühzeitig «ins Boot» zu holen und zu einem Gespräch einzuladen. «Einbezogene Vorgesetzte zeigen mehr Verständnis, und der Arbeitnehmer kann wieder dort arbeiten.»

Therapeutisch wird darauf hingewirkt, den Patienten so rasch wie möglich aus der Klinik zu entlassen. Im Schnitt dauert die stationäre Therapie vier bis sechs Wochen, denn, so Baisch: «Die Hürde, an den Arbeitsplatz zurückkehren zu können, wird mit jedem Rehabilitationsmonat höher.» Zur Festigung des Erreichten und zur weiteren psychischen Stabilisierung folgt bei Bedarf eine ambulante Nachbehandlung durch die Klinik. Von Haus aus ist sie limitiert auf drei Monate. Wenn nötig wird die Therapie von einem niedergelassenen Arzt weitergeführt. «Manche Therapien dauern Jahre.»

In der Klinik Gais werden überwiegend stationäre Burnout-Therapien durchgeführt. Weit weniger Patienten werden von Anfang an ambulant behandelt. Patienten mit leichteren Burnout-Symptomen schicken Hausärzte häufig direkt zu einem niedergelassenen Facharzt für Psychiatrie. Erst bei ausgeprägterem Krankheitsbild überweist der Hausarzt oder ein Psychotherapeut Burnout-Betroffene an eine spezialisierte Klinik wie Gais. «In Vorabklärungen, sogenannten diagnostischen Vorgesprächen, ermitteln wir, ob es ein intensives, also stationäres Behandlungsangebot braucht oder ein ambulantes Angebot zur Genesung ausreicht», erläutert Baisch.

Klinik Gais

Die Klinik Gais ist neben psychosomatischen auch auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen spezialisiert. Ein Stück weit ergab sich dies aus der Geschichte des Krankenhauses. Die Praxis zeigt, dass die Symptome von Burnout- und Herz-Kreislauf-Patienten teilweise fliessend ineinandergreifen. «Bei kardiologischen Patienten sind emotionale Stressoren häufig mit schuld an der Erkrankung», erklärt Baisch. «Beide Patientengruppen sind einander näher, als viele denken. Ein Appenzeller Bauer wird eher wegen Herz-Kreislauf-Beschwerden in der Kardiologie zu finden sein als auf der Psychosomatik.» Entsprechend richten sich einige Gruppentherapien und Vorträge an beide Gruppen. 

Wandern und Klangmeditation am beliebtesten

Bei somatoformen Krankheitsbildern wie Burnout kommen eher bewegungstherapeutische Massnahmen zum Einsatz. Am beliebtesten sind die Halb- und Ganztageswanderungen, aber auch Klangmeditation und Einzelgesprächstherapien. Das Alterssegment von Patienten mit psychosomatischen Beschwerden liegt zwischen 25 und 70 Jahren mit Schwerpunkt um die 50. In der Kardiologie trifft man hauptsächlich Personen ab 50 Jahre an.

Zusatzangebote zur Gesundheitsförderung

Die Klinik Gais bietet für Gesundheitsbewusste auch eine Art Wellnessprogramm mit präventivem Charakter an. Das einwöchige Programm «Gesund und fit» nehmen viele ehemalige stationäre Patienten wahr. Statt eine Woche in der Sonne zu schmoren, frischen sie ihr Kräftereservoir in der Abgeschiedenheit der Klinik auf. Krankenkassen übernehmen die Kosten für derartige Präventionsangebote nicht.

Ambulante oder stationäre Therapie: Kassen reden mit

Mitentscheidend für eine ambulante oder stationäre Therapie können auch die Krankenkassenstatuten und Abkommen zwischen Versicherungen und den Kliniken sein: «Einige Krankenkassen haben mit der Klinik Gais ausschliesslich die Kostenübernahme für ambulante therapeutische Massnahmen vereinbart, andere nur stationäre», erklärt Baisch. Wieder andere Kassen fordern, dass sämtliche ambulanten Möglichkeiten erfolglos ausgeschöpft worden sein müssen, bevor sie eine Kostengutsprache für eine stationäre Behandlung gutheissen. 

Klinische Burnout-Behandlung freiwillig

Eine stationäre Burnout-Behandlung in Gais erfolgt freiwillig. «Es kommt schon vor, dass Patienten sagen, ihr direktes Umfeld habe empfohlen, klinische Hilfe in Anspruch zu nehmen», erklärt Baisch. Bei Unsicherheit oder fraglicher Motivation wird eine Probewoche vereinbart. «Die Behandlung ist besonders dann erfolgreich, wenn der Patient einsichtig, reflexionsbereit und motiviert ist», so Baisch.

Bei den ambulanten Behandlungen stehen stundenweise Gesprächstherapien oder die tagesklinische Betreuung zur Disposition. «Der grosse Vorteil der ambulanten Behandlung besteht darin, dass der Patient in seinem gewohnten Umfeld bleiben kann, wobei gegebenenfalls das Arbeitspensum reduziert wird. Dies ist insbesondere Müttern, Alleinerziehenden und Selbständigerwerbenden wichtig. Therapeutisch begleitet, löst es Reize aus, welche für die Situationsbewältigung nötig sind», führt Baisch aus. 

Glücksfall verständnisvoller Arbeitgeber

Diesen Weg wählte Reto Räb. Sein Hausarzt hatte ihn krankgeschrieben und an einen ortsansässigen Psychiater überwiesen. Räb informierte seinen Arbeitgeber und hatte grosses Glück im Unglück. Denn seine Vorgesetzten reagierten äusserst fürsorglich. Ihm wurde eine weniger anspruchsvolle Arbeit zugewiesen und das Arbeitspensum über einen Zeitraum von sechs Monaten stufenweise von 50 auf 100 Prozent heraufgesetzt. So konnte er in Ruhe und ohne Existenzangst regenerieren. Einmal die Woche ging er zum Psychiater. Nach dem halben Jahr konnte er an seinen eigentlichen Arbeitsplatz zurückkehren. Zwei Jahre später senkte er seiner Gesundheit zuliebe sein Arbeitspensum, finanziellen Einbussen zum Trotz. In seiner Freizeit treibt er viel Sport und erkundet auf Wanderungen die Schweiz.

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Gewinnausfälle in Milliardenhöhe

Gemäss der 2016 veröffentlichten «Medizinischen Statistik der Krankenhäuser» des Bundesamtes für Statistik wurden in der Schweiz im Jahr 2014 rund 95 300 Personen wegen psychischer Störungen hospitalisiert. Die grösste Diagnosegruppe umfasste Burnout-Fälle und Depressionen, mit über 26 000 Hospitalisierungen so viele wie nie zuvor. 

Dauerstress senkt Arbeitsproduktivität

Stressbedingte Erkrankungen wie Burnout wirken sich zunehmend auf die Arbeitsproduktivität und somit auf das Bruttoinlandprodukt aus. Seit 2014 wird von der Gesundheitsförderung Schweiz in Zusammenarbeit mit der Universität Bern und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften jedes Jahr ein Stress-Monitoring durchgeführt. Die wissenschaftliche Studie ermittelt drei Kennzahlen zu den Auswirkungen von arbeitsbedingtem Stress auf die Gesundheit und Produktivität von Erwerbstätigen: den Job-Stress-Index, den Anteil Erschöpfter und die Auswirkungen auf das Wirtschaftspotenzial. Die Erhebung von 2016 ergab, dass jeder vierte Erwerbstätige am Arbeitsplatz gestresst ist und sich erschöpft fühlt. Als Folge davon entstehen den Unternehmen in der Schweiz vermeidbare Verluste. Die Gesundheitsförderung Schweiz schätzt die ökonomischen Einbussen im Jahr 2016 auf 5,7 Milliarden Franken. 

Präventionsprogramm KMU-vital

Die Gesundheitsförderung Schweiz ist eine Stiftung, die von den Kantonen und Versicherern getragen wird. Sie initiiert, evaluiert und koordiniert Massnahmen zur Gesundheitsförderung mit gesetzlichem Auftrag, darunter das Programm KMU-vital mit Empfehlungen zur Stress- und Burnout-Prävention auf individueller und betrieblicher Ebene. 

Firmen können sich gezielt über arbeitszufriedenheitsfördernde Massnahmen beraten lassen. Die Gesundheitsförderung Schweiz und der Schweizerische Versicherungsverband vergeben auf Wunsch Unternehmen, welche die Auflagen erfüllen, das Label «friendly workspace». Die Stiftung unterliegt der Kontrolle des Bundes.