«der arbeitsmarkt» 09/2006

Mein spätes Welschlandjahr

Die Romands scheuen unser «allemand», und mir bricht «le français» fast die Zunge. Nichtsdestotrotz könnte daraus noch eine Liebesgeschichte werden.

Die Romands scheuen unser «allemand», und mir bricht «le français» fast die Zunge. Nichtsdestotrotz könnte daraus noch eine Liebesgeschichte werden.

Drei Stunden nach Lugano an den See, um mir zwei Cappuccini und ein halbes Buch zu gönnen – das geschieht mir dann und wann. Doch westwärts? Das braucht mehr als eine Laune, da muss ein echter Vorsatz her. Ich will die Romandie jetzt endlich ernst nehmen, sie gehört doch mit zur Schweiz, ist also ein Teil von mir. Als der Zug vor Freiburg den Röstigraben quert, geht das so schnell, dass ich die Saane verpasse. Das war sie also, diese ominöse Grenze, an der auch für die Welschen etwas aufhört und beginnt: outre sarine – das Land jenseits der Saane. Das schnuggelige Bahnhöfchen von Rosé macht mir bewusst, dass ich jetzt im Land der unbegrenzten Akzente bin. Das war doch ein Ägü! Und schon kommt die ganze Schulzeit hoch, vor allem aber das Trauma des Sübschogtif. Lehrer Schlegel hat mir auch Gutes angetan, gewiss, aber an unsere zweite Landessprache konnte er mich nicht heranführen, er, der Kondukteur war, bevor er umsattelte. Lehrermangel eben. Sein Zeigstock aus Bambus hetzte uns durch alle Zeiten. Wir hatten nicht mehr gesungen. Wenn du gesungen hättest. Ihr würdet nicht gesungen haben. Man sang nie. Lasst uns singen! Chantons!

Dennoch greife ich heute ins Leere, wenn ich auf Französisch sagen möchte, was ich sagen möchte. Schon beim Zuhören wird mir bange bei dieser glitschigen Sprache. Nie weiss man so recht, wo ein Wort aufhört und eines anfängt. «Sie reden einfach zu schnell», so soll einer der Jammersätze heissen, den Welschlandaufenthalterinnen in ihrem Heimweh ausstossen. Im welschen Radio, so sagt man mir, werden wichtige Infos dann und wann – sehr liebevoll spöttisch – für die Deutschschweizer Mitbürger tout tout langsam
wiederholt. Sie halten uns für langsamer. Aber da irrt ihr euch, liebe Romands! Als alemannischer Schweizer brauche ich die Zäsur, Strukturen, ja, Fassbares, das Abgetrennte, vielleicht gar Abgehackte. Das gehört zu uns. Wo beginnt etwas, wo hört es auf? An einer so flüssigen Sprache wie der euren verschlucke ich mich. Caprice des dieux! Für mich sind das drei Wörter. Ein Schmaus für die Ohren ist es, aber schwierig für mein Verständnis, wenn ihr alles zu einem Bandwurm macht. – Mä sa süffi! Ein rotes Tuch ist mir das Welschland nicht, nur einfach ein Stück ziemlich weisse Landkarte. Und von wegen Genf im Besonderen – in einen Autosalon bringen mich keine zehn Esel.

Hoch oben und völlig überraschend gleitet der Zug aus einem Tunnel in die lichtüberfluteten Waadtländer Weinberge hinein. Ein riesiger Spiegel ist der See des Lemanus, le lac léman, ein gewaltiger Boiler, der die Wärme an die Hänge abgibt und die Reben antreibt. Der Weinberg am Ende des Tunnels von Chexbres wird auch «clos des billets» genannt. Viele von der Landschaft überwältigte Deutschschweizer sollen hier ihr Retourbillett entsorgt haben. Damals, als man die Fenster noch herunterziehen konnte. Ich gestehe, es ist ein imposanter Ausblick. Als hätte die Schweiz Meeranschluss. Dort unten die «Alinghi»? Im Bahnhof von Lausanne zögere ich kurz. Nein, wenn schon, dann gleich die Romandie in extremis. Die Weiterfahrt gibt Zeit für ein paar Überlegungen darüber, wie das Oberflächliche über den Inhalt hinwegtäuschen kann. Als Bodenseebub trage ich es mit Fassung, dass der Genfersee leicht grösser ist. Aber dass er den doppelten Inhalt hat! Gar 22 Mal könnte man den Zürichsee hineinkippen. Ein Makabrer hat ausgerechnet, dass man die ganze aktuelle Menschheit im Genfersee versenken könnte und der Wasserstand stiege nur um knapp fünfzig Zentimeter. Mon Dieu!

«Proschähn Arrä: Schönäf!» Bei Genève Tourisme am Bahnhof frage ich gleich nach einem Hotel. «Nür ein bizzeli» spricht die Frau am Desk meine Sprache. Ich bleibe hartnäckig freundlich bei Deutsch. Weil ihr Anruf ins Hotel lange ins Leere geht, bleibt mir Zeit für Nachforschungen. Sie ist Walliserin, aus Siders genau, und Deutsch hat sie natürlich auch lernen müssen, «aber nur so hin und här». Sie macht zwischen uns eine verbindende Gestik. «Der Lärer sprischt etwas, dann spreschen alle etwas.» Jahrelang? Also auch sie eine didaktisch Geschädigte. Ich spüre die Wärme einer Schicksalsgemeinschaft. Heute sei der Unterricht aber viel besser als damals, «es ist alles sähr, sähr geändert». Damals aber. Sie ist 28. Ich gehe davon aus, dass in der Westschweiz in Sachen Deutschunterricht gerade ein Quantensprung stattgefunden hat, bei dem die junge Frau leider knapp noch nicht dabei sein durfte. Die nächste Generation also. Patience. Auf einen Zettel muss ich meinen Namen schreiben, mehr nicht, und auf dem Reservationsschein lese ich später verwundert meine Herkunft: Deutschland. Ich wurde also nicht enttarnt. Ach ja, und die Stadtrundfahrt morgen gibt es auch auf Deutsch, wie im Internet angegeben? Das kann die Walliserin nun wirklich nicht sagen, ihr Charme überschlägt sich: «Das kann ganz verschieden sein und je nach Guide différent.» Klar. Mit gesteigertem Selbstwertgefühl quatsche ich mich fortan zwei Tage durch Genf, mit Deutsch beginnend, komme aber nie mehr so weit wie bei meiner Walliser Freundin. Überall lässt man mich auf mein real gar nicht existierendes Französisch auflaufen und zweigt, wenn es untragbar wird, ins Englische ab. Deutsch macht in dieser Stadt einfach keinen Sinn. Was will ich darauf pochen, die Romands hätten in der Schule doch Deutsch gelernt? Diese Kehllaute sind hier für die Katz.

Geneva is a melting pot, Genf ist ein Schmelztiegel. Fast jeder Zweite ist ein Fremder und hier gar nicht fremd. Man ist, wer man ist. In meinem Hotel ist das gesamte Personal asiatisch und in einem Park an
der Rhone unten schreien hundert Palästinenser ihre Wut auf Israel aus der Brust, während stolz eine Gruppe völlig schwarz vermummter Frauen vorbeigleitet. Afghaninnen? Es gibt hier weit mehr Botschaften als in unserem Hauptstädtchen. Das geschleckte Genf der Bijoutiers, der Banquiers und Paläste gibt es zwar, aber ich habe mir von Genf immer – wen wundert es? – ein falsches Bild, ein typisches Fernsehbild gemacht. Fast kommen mir der Bahnhof und der Busbahnhof (mit Zielen wie Marokko oder Polen) etwas schäbig vor für eine Stadt von Welt. Es ist dieser mediterrane Groove, der uns anzieht und das Calvinistische etwas wegdrückt. Vor dem Postomat steht eine Warteschlange von einer Länge, wie ich sie in der Deutschschweiz noch nicht gesehen habe. Warum denn gibt es im nahen Bahnhof, wie in der Restschweiz üblich, nicht auch noch einen gelben Geldspucker? (Ich habe es reportergenau abgeklärt, es gibt dort keinen.) Solche lässlichen Sünden in Logistik und Organisation liebe ich. Auch in einer Warteschlange kann nämlich Leben stattfinden. Warten ist süss. Das haben wir Deutschschweizer schon fast vergessen. Dem Vordermann ein nettes Wort, der Hinterfrau einen lockeren Scherz – ça ne coûte rien. Es wird in Genf viel mehr über die Strasse gehühnert und fleissiger gehupt. Und natürlich muss der Passant dann und wann – möglichst elegant – einem Pariserbrot ausweichen. Friedlich nebeneinander werben am Morgen gleich zwei Gratiszeitungen um die Gunst der Genfer: «20 minutes» und «Le Matin bleu». Vive la chance. Die Prominenten, die am Kiosk abgefeiert werden, kenne ich mehrheitlich nicht. Der grosse Nachbar gibt den Ton an. Ici Paris.

Eher noch gibt es jenen Weisswurstäquator, der angeblich Bayern von «Preussen» trennt, als die «barrière de rösti». Schon innerhalb des Bahnhofkomplexes bietet ein Restaurant gross ausgeschildert «Rösti» an. Die derart zubereitete Knolle ist beidseits des Grabens ebenso beliebt. Und ein Sprachenproblem kann der eingewanderte Deutschschweizer, den ich auf der Rousseau-Insel anspreche, weit und breit nicht sehen. «Das sind die ewigen Gerüchte.» Auf einer Bank auf dem kleinen Rhone-Eiland feierabendlich die Füsse von sich streckend, gibt er vielmehr zu bedenken, dass wir Deutschschweizer auf politischem Gebiet «die Finger rausnehmen sollten». Ob Frauenstimmrecht, Europanähe, Widerwillen gegen den Vietnamkrieg oder Atomwaffen (die Schweiz überlegte sie sich tatsächlich!), unsere Romands sind meistens schneller. Die Deutschschweiz muss ihnen oft wie ein Klotz am Bein vorkommen.

Vevey war Vivis, Lausanne hiess auch Losanen, Nyon Neuss, Payerne Peterlingen und Chillon war Zillung. Das waren noch Zeiten, als grosse Teile der Romandie, voran die Waadt, Untertanenland der Berner waren. Umgekehrt wurden die Namen deutschschweizerischer Einwanderer von den Ämtern blumig ver(kauder)welscht. Baumgartner wurde Bongard, Vögeli Féguely, Dängeli Tinguely, Aebersold Abrezol und – très joli: Nid-de-Rose ist kein Rosennest, sondern lautmalt Niederhauser. Heute jedoch, bei der Besichtigung von la ville de Genève, werden wir von der Reiseführerin allesamt ungefragt anglisiert. Vorne im Bus winkt sie nach hinten: «You can understand me? Very nice.» Die reife, offensichtlich bildungsbeflissene Dame erklärt auf der Fahrt und sogar beim Spaziergang durch die Altstadt alles derart ausführlich, dass sie mit dem Sauerstoff ziemlich haushalten muss. Eine weitere Fremdsprache hätte gar keinen Platz. Dass Genf ein sündhaft teures Pflaster ist, belastet sie sichtlich, sie zeigt Alternativen auf. Welche Stadtteile preiswerter sind, interessiert das Paar aus Spanien etwas weniger, doch dass Schokolade bei Migros und Manor für weniger zu haben sei als in der Confiserie, wollen sie sich merken, sie nicken dankbar.

500 Liter Wasser pro Sekunde jagt der Jet d’eau in den Himmel, aber bei starkem Wind wird das Wahrzeichen abgeschaltet. Ein milderes Klima würden sich eigentlich alle Genfer wünschen, erfahren wir. Von den Helden der Stadt sollten wir vier nicht vergessen. Es sind die beiden Henri, Dufour und Dunant, sowie Calvin und Jean-Jacques Rousseau. Dass sie Söhne der Rhonestadt sind, war mir noch Passivwissen. Umso stärker macht es mir Eindruck, neu zu wissen, dass der grosse Rousseau ein «citoyen de Genève» war. Verlacht, verleumdet, verfolgt war er, eine schillernde Person, die nie etwas studiert hat; er war ein schräger und genialer Amateur. «Zurück zur Natur!» Ja, er war das. Switzerland als Tourismusland geht nicht unwesentlich auf ihn zurück. Nicht nur seinen Fingerzeig auf das Alpenglühen sollten wir ihm danken, er legte auch das Feuer, an dem sich später die Französische Revolution entfachen konnte. Man nenne mir spontan eine bessere Revolution! Voilà. Die Guillotinen dürfen unseren Blick nicht trüben. Der Genfer Uhrmachersohn Rousseau hat sich verbissen für das sinnvollste aller Güter eingesetzt, für die Gerechtigkeit, die Demokratie, die Selbstbestimmung. Schön, dass du zu uns gehörst, Genf. Merci beaucoup, Genève, je rêviendrôt … Ach lassen wir diese Détails.

Kontakt: www.geneve-tourisme.ch

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