«der arbeitsmarkt» 12/2005

Freiwillige Anstandshüter

Ein Projekt der SBB soll das Sicherheitsgefühl von Bahnhofbenutzern erhöhen und die teilnehmenden
Freiwilligen bei ihrer Reintegration in den Arbeitsmarkt unterstützen. Umstritten ist die künftige Entlöhnung der Teilnehmer.

Elsbeth Schwarz staunte diesen Sommer eines Abends nicht schlecht: Auf einem Perron des Bahnhofs Thun machten es sich zwei Touristen gemütlich und begannen, auf einem mitgebrachten Grill ihre Würste zu braten. «Wir haben sie angesprochen und ihnen das nahe gelegene Seeufer als Grillplatz empfohlen», sagt die «Bahnhofpatin». Die Bahnhofpatenschaft ist ein Projekt, das die SBB in Zusammenarbeit mit Gemeinden und Vereinen lanciert haben, um Fehlverhalten, Gewalt und Vandalismus in Bahnhöfen einzudämmen. Thun ist die erste Schweizer Stadt, in der das Modell getestet wurde.

Sicherheit ist Aufgabe von Bahnpolizei und Securitas

Bahnhöfe sind Zentren des sozialen Lebens. Hier treffen unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen aufeinander: Pendler und Touristen, aber auch Singles, die abends einkaufen wollen, Jugendcliquen, die sich für den Feierabend verabreden, bettelnde Drogenabhängige. Die SBB wünschen sich lebhafte Bahnhöfe, sagt Thomas Weibel, Leiter der Abteilung Öffentliche Sicherheit der SBB. «Wir wollen sie aber nicht Leuten oder Szenen überlassen, die sich nicht an allgemein gültige Regeln halten.»
In grösseren Bahnhöfen sollen Bahnpolizei und private Sicherheitsdienste das Sicherheitsgefühl von Reisenden und Beschäftigten erhöhen. Für mittlere und kleinere Bahnhöfe haben die SBB das Konzept der «Bahnhofpatenschaft» aus Deutschland importiert. Bahnhofpaten sind Freiwillige, die allein durch ihre Präsenz und freundliches Ansprechen Reisende und andere Bahnhofbenutzer dazu bringen sollen, sich anständig zu verhalten. Sie haben nicht grössere Kompetenzen als jede andere Privat-person. Beobachten sie eine Schlägerei oder Sachbeschädigung, sollen sie nicht intervenieren, sondern die professionellen Sicherheitsdienste rufen. «Die Sicherheit als solche ist weiterhin Aufgabe von Bahnpolizei und Securitas», sagt Reto Keller, der für die Stadt Thun das im März gestartete Pilotprojekt koordiniert. Bei grösseren sicherheitsrelevanten Anlässen wie Fussballspielen oder Demonstrationen werden die Bahnhofpaten nicht eingesetzt.
Sie sind eine Mischung aus Helfern und Anstandshütern. «Wir machen bispielsweise darauf aufmerksam, dass Velofahren auf den Perrons oder Rauchen in der Thuner Bahnhofshalle verboten ist», sagt Elsbeth Schwarz. «Wir warnen davor, die weisse Linie zum Geleise zu übertreten, geben Auskünfte, helfen älteren Reisenden beim Aussteigen oder mit dem Koffer und sammeln auch mal Bierflaschen ein.» Die Zweierpatrouillen sind werktags zwischen 17 und 22 Uhr aktiv. Monatlich sprechen sie bis zu 100 Personen an. Die Pilotphase hat offenbar die erwünschte Wirkung erzielt: «Der Bahnhof ist sauberer denn je, das Sicherheitsgefühl gestiegen, Szenen haben sich wegen der ständigen Kontrollen nicht gebildet», ist Schwarz überzeugt. Reto Keller ergänzt, die Stadt habe daran grosses Interesse, weil ein Bahnhof eine wichtige Visitenkarte darstelle.
Die Thuner Bahnhofpaten werden vom Verein «swiss profis & kids» gestellt, der Gewalt- und Suchtpräventionsprojekte mit jugendlichen Sportlern durchführt. Elsbeth Schwarz ist Geschäftsführerin des Vereins und betreut fast jeden Abend die Bahnhof-paten vor Ort. Neben einigen erwachsenen Vereinsmitgliedern sind in Thun vor allem gefährdete oder stellenlose Jugendliche, zum Teil auch Ausgesteuerte im Einsatz. Es handelt sich aber nicht um ein Programm zur vorübergehenden Beschäftigung (PvB), sondern um einen freiwilligen Einsatz, der zudem eher symbolisch mit SBB-Fahrvergünstigungen entschädigt wird.

Umstrittene Abgeltung

Aus Sicht der Gemeindebehörden steht der Integrationsaspekt im Vordergrund. Reto Keller betont: «Wir möchten Leute, die aus der Gesellschaft herausgefallen sind, dazu animieren, zu fragen: Was kann ich für andere tun?» Elsbeth Schwarz möchte bei ihren Schützlingen das Selbstvertrauen stärken und Zivilcourage entwickeln. Und Thomas Weibel von den SBB ist der Ansicht, dass der zertifizierte Ausbildungsgang in Deeskalation und Gewaltprävention eine zusätzliche Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt darstellt. Zwischen den Patrouillengängen haben die Bahnhofpaten zudem Gelegenheit, unter Anleitung Stellenbewerbungen zu schreiben.
Nach Thun haben auch Liestal und Rüti ZH ein Patenschaftsprojekt gestartet, weitere Gemeinden sind interessiert. In Liestal nahmen die 14 Bahnhofpaten – Rentner, Arbeitslose, Erwerbstätige und Mütter – Anfang September ihre Patrouillen auf. Sie sind seltener werktags präsent als in Thun, dafür auch morgens sowie am Wochenende. Bereits in den ersten Tagen kam es zu Interventionen. Eines Abends habe man eine Randale beobachtet und die Polizei rufen müssen, ein andermal sei ein Zug mit qualmenden Bremsen in den Bahnhof eingefahren, sagt Projektleiter Alexej Eggenschwiler. Im Unterschied zu Thun haben die Liestaler auch von Anfang an Sponsoren für die Verpflegung der Bahnhofpaten gewonnen.
Die Abgeltung der bisher ehrenamtlich verrichteten Arbeit ist denn auch einer der umstrittenen Punkte des Projekts Bahnhofpatenschaft. Mittelfristiges Ziel sei es, den Thuner Bahnhofpaten ein Taschengeld bezahlen zu können, sagt Elsbeth Schwarz. Die SBB geben sich zurückhaltend und verweisen auf die Billettgutschriften und auf den immateriellen Nutzen für beteiligte Teilnehmer und Gemeinden. «Bahnhofpaten arbeiten nicht für das
Unternehmen SBB, sondern für die Gesellschaft», so Thomas Weibel.
Erwiesen ist dies nicht. Die Verhinderung von Szenenbildungen am Bahnhof könnte auch zu einer Verlagerung auf Gemeindegebiet führen – nur, dass sich die SBB dann nicht mehr an den Sicherheitskosten beteiligen müssten. Wenn ein Bahnhof dank den «Göttis» sicherer und sauberer wird, könnten die SBB zudem versucht sein, die Frequenz ihrer Securitas- und Putzpatrouillen und somit Kosten zu senken. Weibel weist diesen Verdacht von sich: Ziel sei nicht, durch die Patenschaften anderswo Personal abzubauen oder Kosten zu sparen. Klar ist hingegen, dass die Bahnhofpaten durch ihren Einsatz zu einer kommerziellen Wertsteigerung der Bahnhofareale beitragen. Die SBB und die eingemieteten Geschäfte profitieren somit in jedem Fall von der Gratisarbeit der Paten. Fast wie in der Familie: Dort sind Göttis ja in erster Linie dazu da, um Geschenke zu machen.

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