02.05.2018
FOTOS UND TEXT: Susanna Fricke
Glücklich ist, wer mit einer vollen Blase eine freie Toilette in einem Zug der SBB nutzen kann.

Eine freie Toilette in einem Zug der SBB.

SBB

Die Not mit der Notdurft

Sie gehören zu einem Zug wie das Ticket zum Passagier: Toiletten. Sind diese unbenutzbar und ist innert nützlicher Frist kein Halt geplant, wird die Notdurft zum Notfall.

Das kennen alle Reisende: Stetig mehr drückt die Blase und wenn es ganz dick kommt, gar der Darm. Welche Erlösung, wenn schnell ein stilles Örtchen aufgesucht werden kann. Welche Qual, wenn zuerst eine Toilette gesucht werden muss. Ein Horror, wenn das einzige Klo nicht in Betrieb ist und der Zug erst nach über 20 Minuten wieder hält.

Ist dieses Horrorszenario Schwarzmalerei oder ein echtes Problem der SBB? Eine Zählung auf einer Fahrt zwischen 7.30 und 8 Uhr ergab, dass zwischen Langenthal und Zürich das einzige stille Örtchen, das zur Verfügung stand, neun Mal aufgesucht wurde. Vier Tage später wurde das Klo im selben Zeitraum acht Mal benutzt. Bei drei von neun Fahrten war die Toilette jeweils ausser Betrieb.

Bekanntes Problem
Die Erfahrung, dass Zugtoiletten oft besetzt oder gar unbenutzbar sind, machten schon fast alle spontan befragten Zugsreisenden vor Ort und im persönlichen Umfeld. Auch Martin Bracher, der regelmässig zwischen Bern und Zürich pendelt, vermisste bereits freie Toiletten im Zug. «Ich ging dann so schnell wie möglich im Hauptbahnhof zu den WC-Anlagen von Mc Clean. Der Toilettenmangel ist wirklich mühsam.»

Das Geschäft mit dem kleinen und grossen Geschäft.

Vier von vier befragten Zugbegleitern, die willkürlich ausgewählt wurden, bestätigten, dass sie immer wieder mit dem Problem unbrauchbarer Toiletten konfrontiert seien. Das Zugpersonal könne notfalls zur Erleichterung der Fahrgäste einen ausserordentlichen Halt einlegen, versicherten drei von vier. Dafür den richtigen Ort zu finden, sei aber schwierig, viele Bahnhöfe hätten keine öffentlichen Toiletten mehr.

Zug fällt aus
Nicht nur unbrauchbare Toiletten seien ein Problem, sondern generell die Anzahl stiller Örtchen auf Schienen. Zugbegleiter erklärten, es sei schon vorgekommen, dass sich ein Lokführer geweigert habe, loszufahren, weil im Zug keine einzige Toilette in Betrieb war. Die entsprechenden Zugverbindungen seien dann ausgefallen. Die Gewerkschaft des Verkehrspersonals, SEV, konnte keine Auskunft darüber geben, ob das Personal darunter leidet, immer wieder Passagiere betreuen zu müssen, die dringend aufs Klo müssten, aber wegen fehlender Toiletten nicht können. Dazu seien keine genauen Angaben bekannt.

Kein Durchgang
Früher setzte sich ein Passagierzug aus einer Lokomotive und fast beliebig vielen Wagons zusammen, die alle über eine Toilette verfügten und miteinander so verbunden waren, dass die Reisenden durch den gesamten Zug gehen konnten. Heute besteht ein Zug aus mehreren Einheiten aus Triebwagen, Führerstand und Passagierzonen sowie einer oder zwei Toiletten. Diese Einheiten können zusammengehängt werden, sind aber nicht durchgängig begehbar. Somit können die Passagiere nur das Toilettenangebot derjenigen Einheit nutzen, in der sie reisen. Im Nahverkehr ist das normalerweise ein Klo, im Fernverkehr sind es zwei. Es kann aber vorkommen, dass im Fernverkehr auch Einheiten des Nahverkehrs eingesetzt werden.

Auf die Frage, warum beispielsweise auf der Strecke Bern-Zürich Wagenkombinationen eingesetzt werden, die nur für den Nahverkehr gedacht sind, also nur eine Toilette haben, antwortete Reto Schärli, Mediensprecher der SBB: «Nur zu Randzeiten sind im Fernverkehr kurze Kompositionen mit nur einer Toilette unterwegs.» Und bei Strecken mit einer durchschnittlichen Dauer von 20 Minuten halten es die SBB laut Schärli für zumutbar, eine Toilette pro 100-Meter-Komposition anzubieten. Eine solche Komposition kann inklusive Stehplätze bis zu 540 Personen befördern.

Volle Blase wegen leerem Tank
Wie oft es im vergangenen Jahr auf dem Schienennetz der SBB zu ausserplanmässigen Halten respektive Verspätungen wegen defekter Toiletten kam, konnte das Bahnunternehmen nicht beantworten, darüber werde keine detaillierte Statistik geführt.

Schärli: «Konkret ist uns ein Fall bekannt. Weil in einem Zug wegen eines leeren Wassertanks kein WC zur Verfügung stand, begleitete das Zugpersonal einen Reisenden auf die Personaltoilette am Zürcher Hauptbahnhof. In der Zwischenzeit füllte ein Techniker den Tank auf. Der Zug traf trotzdem pünktlich am Ziel ein.» Er rät den Fahrgästen, sich bei Problemen mit Toiletten an das Zugpersonal zu wenden.

Klo-Bahn-SBB

Nicht nur das Klo ist in einem Zug gefragt, auch das Waschbecken.

«Das ist eine Sauerei»
Ist die Not mit der Notdurft im Zug also kein dickes Problem der SBB? «Doch! Das ist wirklich eine absolute Sauerei», ärgert sich Marcel Burlet, Sekretär der Vereinigung Pro Bahn, die sich für die Kundschaft des öffentlichen Verkehrs einsetzt. Das mangelnde Toilettenangebot der SBB beweise den stetigen Abbau des Service Public. «Die SBB setzen nicht nur zwischen Zürich und Bern, sondern beispielsweise auch zwischen Zürich und Chur Fahrmaterial ein, das für den Nahverkehr beschafft wurde», sagt Burlet. Dadurch stünden den Fahrgästen weniger Toiletten zur Verfügung.

Viele Passagiere würden sich gar nicht mehr beschweren, aus Frust, weil das doch nichts nütze. Viele hätten resigniert, den schleichenden Abbau hingenommen. Zwar betreffe nur etwa jede zehnte Klage, die bei Pro Bahn eingeht, die Zugtoiletten, «aber wer sich umsieht, merkt schnell, wie gross das Problem ist», so Burlet.

Stau im Zug
Nicht nur Alte, Gehbehinderte oder Inkontinente seien betroffen, sondern vor allem auch Familien. «Wenn ein Kind sagt, es muss aufs Klo, dann muss es jetzt aufs Klo und nicht erst in 15 oder je nachdem in 50 Minuten», weiss Lehrer und Grossvater Burlet. Gerade sonntags beobachte er in Regionalzügen vor den Toiletten immer wieder längere Kolonnen mit Kindern, die Angst hätten, sich gleich in die Hose zu machen. «Das ist kein entspannter Ausflug und kein Anreiz, mit dem Zug zu reisen.»

Wer Gruppenreisen mit dem Zug veranstaltet, wie etwa Lehrpersonen oder Vereine, tue gut daran, einen Aufenthalt in einem Restaurant in der Nähe des Bahnhofs einzuplanen, um nicht in Bedrängnis zu geraten. Oder der Organisator müsse viel Kleingeld dabei haben, um den Besuch der Bahnhofstoiletten zu ermöglichen. «Dabei gehört das Toilettenangebot eigentlich zum Service, den man sich mit einem Bahnbillet kauft», sagt Marcel Burlet.

Er ruft die Fahrgäste dazu auf, ihren Ärger beharrlich den SBB zu melden. Und sich auf jeden Fall an die Vereinigung Pro Bahn zu wenden (sekretariat@pro-bahn.ch).

Toilette-SBB-Zug-Defekt

Zurzeit sind in den Zügen der SBB insgesamt 2716 WCs unterwegs. Das Unternehmen investiert gemäss seiner Webseite jedes Jahr 10 Millionen Franken allein in die Instandhaltung der geschlossenen WC-Systeme. «Die Verfügbarkeit der Toiletten ist auf einem stabilen, hohen Niveau von 97,2 Prozent im Fernverkehr und 98,5 Prozent im Regionalverkehr», schreibt das Bahnunternehmen. In den Klos landen auch Sachen, die eigentlich nicht dort hinein gehören und zu Defekten führen wie Kreditkarten, Portemonnaies oder Spielzeugautos. Reisende sollen sich bei Problemen an das Zugpersonal wenden. Weiter gibt es bei jeder Toilette eine Notsprechanlage.  Defekte oder Verschmutzungen können auch via Mobile-App gemeldet werden.