«der arbeitsmarkt» 03/2007

Die Gunst der Mittagsstunde sinnvoll nutzen

Bei den mediterranen Völkern wird er seit Jahrzehnten geschätzt und regelmässig praktiziert. Die Rede ist vom Mittagsschlaf, dem sogenannten Power Nap. Auch in der Schweiz steigt das Bedürfnis nach etwas Ruhe über Mittag.

Wer kennt es nicht: Ein unterdrücktes Gähnen, die Augen fallen langsam zu. Nur mit Mühe und Not können wir uns gerade noch wach halten. Wer will schon unangenehm auffallen. Dabei ist die Mittagsmüdigkeit ein natürliches Phänomen, das zu unterdrücken vielleicht gar nicht gut ist. Denn Untersuchungen zeigen, dass der Mittagsschlaf nicht auf Faulheit oder Trägheit zurückzuführen, sondern ein angeborenes Bedürfnis ist. So ist es völlig normal, gegen Mittag in ein Energietief zu rutschen.
Da kann ein 20-minütiger Mittagsschlaf wahre Wunder bewirken. Durch den kurzen Schlaf wird die Leistungsfähigkeit am Nachmittag gestärkt, was sich entsprechend auch auf das Konzentrations- und Reaktionsvermögen auswirkt. Aus diesem Grund haben viele Firmen in Japan und den USA für ihre Mitarbeitenden Schlaf- oder Ruheräume eingerichtet. Neudeutsch spricht man statt vom Mittagsschläfchen vom Power Napping.

Vorteile für Gesundheit und Arbeitsleistung

Mediterrane Völker, die seit jeher den Mittagsschlaf pflegen, werden ungerechterweise als faul oder träge bezeichnet. Diese Haltung hindert bei uns viele Leute daran, sich dem natürlichen Bedürfnis hinzugeben.
61 Prozent der befragten Topmanager in der Schweiz gaben an, mehr Schlaf zu brauchen, um leistungsfähig zu bleiben. Trotzdem verzichten viele auf einen Mittagsschlaf. In einer leistungsorientierten Gesellschaft ist es nicht verwunderlich, dass die körperlichen Bedürfnisse übergangen werden. Dies, obwohl laut medizinischen Studien der Mittagsschlaf das Herzinfarktrisiko beträchtlich senkt und damit die Wahrscheinlichkeit erhöht, uralt zu werden. Schlaf wirkt ausserdem vorbeugend gegen Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht und Bluthochdruck.
Er stärkt das Immunsystem, indem er die Bildung von Antikörpern fördert. Bei Schlafentzug ist der Körper also anfälliger für Infektionen.
Gemäss Studien sind die meisten Autounfälle am Nachmittag auf Übermüdung zurückzuführen. Mit der Zeit wird auch die Psyche in Mitleidenschaft gezogen. Work-
aholics neigen eher zu Depressionen. Wenn der Körper ermüdet, leidet auch die Psyche darunter.
Doch die Workaholic-Mentalität wird heute zunehmend kritisch hinterfragt, wie Barbara Ryser-Inderbitzin von der Firma «Ruhe und Aktivität» (R&A) bestätigt. Dieses «Zentrum für Erholungskompetenz» berät unter anderem Firmen bei der Einrichtung von Ruheräumen. Die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers in Zürich zum Beispiel geht mit gutem Beispiel voran. Seit November 2005 stellt sie den Mitarbeitenden «Sphere Rooms» zur Verfügung. Bei dezenter Hintergrundmusik können sie sich ausruhen und inspirieren lassen. Ebenso fortschrittlich sind etwa IBM Schweiz, das Zürcher Universitätsspital und die ETH Zürich. Sogar drei Ruheräume bietet der Fleischverarbeiter Micarna in Bazenheid SG an.
Laut Barbara Ryser-Inderbitzin mehren sich die Anfragen von Jahr zu Jahr. Selbst an Kongressen bestehe das Bedürfnis nach Ruheräumen. Dies bestätigt auch der Gründer der Firma «Ruhe und Aktivität», Bernhard Brändli. Zur Initialzündung für dieses Projekt wurde die Begegnung mit Ernest Rossi, dem Autor des Buches «20 Minuten Pause». Brändli selbst weiss den Mittagsschlaf und seine positiven Wirkungen sehr zu schätzen. «Ich bin seit über 20 Jahren nicht mehr ernsthaft erkrankt», erklärt der 55-Jährige. «Gegen 17 oder 18 Uhr bin ich immer noch frisch und leistungsfähig.»
«Ein idealer Ruheraum sollte ruhig und abgedunkelt sein», erklärt Barbara Ryser-Inderbitzin. Der Ruheraum Restpoint an der Sumatrastrasse in Zürich erfüllt diese Kriterien. Pro Ruhepause bis 20 Minuten zahlen die Gäste 5 Franken. Einer der Betreuer ist Fredi Rudorf. Er empfängt die Gäste und führt sie in den Schlafraum. Dort wird ihnen ein frisches Handtuch gereicht. Fredi Rudorf, Rechtsanwalt und Mediator, ist ein überzeugter Verfechter des Mittagsschlafs. Auch er führt ihn regelmässig durch, mit positivem Ergebnis. Pausen seien produktivitätssteigernd und qualitätsfördernd, davon ist er überzeugt.

Wer isst, schläft über Mittag gratis

Selbst wenn das Mittagsnickerchen hierzulande immer noch verpönt ist, steigt das Interesse rasant. Dies beweisen einige Pilotprojekte wie die so genannten «Siesta-Hotels» in Basel, Bern, Luzern und Zürich. Das Pilotprojekt wurde am 14. November 2005 gestartet und dauerte fünf Wochen. Gäste des Siesta-Hotels Merian in Basel, des Bären in Bern, des Flora in Luzern und des Glockenhofs in Zürich durften nach dem Mittagessen ein Gratisnickerchen machen. Ohne Mittagessen galt ein Pauschalbeitrag von 20 Franken. «Seit der Aktion ist das Interesse gestiegen», bestätigt Beatrice Imboden, Direktorin des Hotels Bären in Bern. Seit März 2006 stehen deshalb ständig Betten für den Mittagsschlaf zur Verfügung.
Wissenschaftliche Studien belegen es immer wieder: Wer über genügend Energiereserven verfügt, kann mehr aus seinem Leben machen respektive aus seinem Potenzial schöpfen. Dies beweisen auch bekannte, längst verstorbene Persönlichkeiten, die ihr Nickerchen zu Mittag regelmässig pflegten, wie zum Beispiel Albert Einstein, Leonardo da Vinci und Johann Wolfgang von Goethe. Weitere bekennende Verfechter des
Mittagsschlafes sind Helmut Kohl, Hans Dietrich Genscher und Bill Clinton. Aber im Gegensatz zu den Angestellten mussten oder müssen diese Personen weder eine Bewilligung bei ihren Chefs einholen noch eine Erklärung oder Rechtfertigung abgeben.

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