«der arbeitsmarkt» 03/2006

Brachliegendes Pixelpotenzial

Elektronische Unterhaltung ist gefragt. Mit virtuellen Welten wird weltweit jährlich ein Umsatz von 21 Milliarden US-Dollar erzielt. Die Schweiz läuft trotz besten Voraussetzungen Gefahr, ein Absatzmarkt zu bleiben, statt zum Produzenten aufzusteigen.

In der Ecke des Zimmers steht eine dreidimensionale Figur in Lebensgrösse mit langen, abstehenden Ohren und einer grossen Schusswaffe auf den Schultern. Daneben, auf Karton gebannt und im Comicstil gehalten, lächeln dem Betrachter zwei Teenager entgegen. Es stehen diverse Spielkonsolen auf dem Tisch und zwei an die Wand geschraubte Monitore mit 100 Zentimeter Bildschirmdiagonale laden zum Spielen ein. So muss eine Zimmerausstattung im Traum eines Jugendlichen aussehen. Doch hier verbringt kein pickliger Teenager seine Freizeit. Es handelt sich um das Sitzungszimmer von Roger Frei, Chef von Sony Entertainment in der Schweiz. Frei ist ein erwachsener Mann, der seine Brötchen mit Videospielen verdient. Er sorgt dafür, dass die Versorgung mit Videogames und Zubehör in der Schweiz konstant hoch bleibt und – so hoffen seine Chefs in
Japan – weiter steigt. Bisher läuft das Geschäft sehr gut, denn der Bedarf an elektronischer Unterhaltung ist hoch. Gemäss einer OECD-Studie vom April 2005 werden mit Video- und Computerspielen jährlich 21 Milliarden Dollar umgesetzt; umgerechnet fast 30 Milliarden Franken.
Roger Frei kennt die neusten Zahlen für die Schweiz: «Insgesamt hat die Branche letztes Jahr einen Umsatz von 271 Millionen Franken erzielt.» Das Wachstum gegenüber 2004 betrug 4 Prozent. Frei amtet nebenbei als Verbandspräsident der noch jungen, vor drei Jahren geschaffenen Swiss Interactive Entertainment
Association (SIEA). Auf der Mitgliederliste stehen Namen wie Microsoft Schweiz, Ubisoft und jener der Schweizer Nintendo-Vertretung. In der Schweiz verdienen an die 200 Menschen ihr Geld direkt mit dem Videospielmarkt. Dabei handelt es sich in erster Linie um Jobs im kaufmännischen Bereich. Doch indirekt müssen es laut Roger Frei Tausende von Jobs sein, die von dieser Branche abhängen. Man denke allein an die vielen Werbeaufträge. Geld wird in der Gamebranche auch mit dem Verkauf von eigener Hardware gemacht. Frei freut es besonders, dass die neuen Spielkonsolen wie die PlayStation Portable, die Xbox 360 von Microsoft und Nintendos DS stark zum Umsatzplus beigetragen haben. Der Verkauf von mehr als 300000 Konsolen im letzten Jahr zeigt, wie beliebt diese Abspielgeräte geworden sind. Die PC-Spiele verlieren derweil immer mehr an Terrain. Dabei galt die Spielbranche noch vor drei Jahren als der Technologietreiber für Heimcomputer. Immer schnellere Grafikkarten und Prozessoren wurden entwickelt, um die immer komplexeren 3D-Grafiken darstellen, Musik in CD-Qualität abspielen und die Übertragung grosser Datenmengen bewältigen zu können. Solch hochgerüstete Computer sind für den Betrieb eines normalen Textverarbeitungsprogramms viel zu schade und zu teuer. Die Spielindustrie löst sich daher zunehmend von der PC-Plattform und schafft sich ihre eigenen, speziell zugeschnittenen Abspielgeräte, die in Sachen Prozessorleistung, wie der Cell-Prozessor beweist, den herkömmlichen, mit Intel-Prozessoren bestückten PCs weit überlegen sind.

Entwicklerwüste Schweiz

Nach wie vor werden in der Schweiz viele Computer gekauft. Im Besonderen steigt der Absatz von Laptops von Jahr zu Jahr. Doch wer meint, darauf würden Computerspiele programmiert, der irrt. Die Schweiz gilt als erstklassiger Absatzmarkt für Videospiele, doch entwickelt werden diese anderswo. Zum Beispiel in Deutschland. Dort tummeln sich an die tausend Spielentwickler. Sie werkeln in rund fünfzig Unternehmen an neuen, originellen Spielideen. Und dennoch betrachtet das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» die deutsche Entwicklerszene in Anlehnung an die erfolgreiche «Siedler»-Spielreihe als «beinahe unbesiedelt». Im Vergleich mit Grossbritannien, das etwa 25-mal mehr Firmen im Gamebereich beheimatet und an die 20000 Personen beschäftigt, ist das sicher zureffend.
Die kleine, aber feine deutsche Szene konnte in der Vergangenheit bereits Erfolge feiern und wurde mit den mittlerweile als Klassiker geltenden Spielen wie dem erwähnten «Siedler» oder etwa «Anno 1503» und «Anno 1602» weltbekannt. Trotzdem wird auch dort gejammert. Der deutsche Bundesverband der Spielentwickler mit dem sinnigen Namen G.A.M.E. (für Games Art Media Entertainment) fordert vom Staat, auf den Umsatz der Computer- und Videospiele eine Abgabe von 1 bis 1,2 Prozent zu erheben und damit die Produktion von Prototypen, die Ausbildung von Spieldesignern und die Förderung von Spielen mit regionalem Bezug zu finanzieren. Gemäss G.A.M.E. ist eine staatliche Förderung notwendig, um gegen die subventionierte Konkurrenz aus Frankreich und England bestehen zu können und die Standortnachteile gegenüber den USA und Kanada auszugleichen.

Keine Unterstützung für Pioniere

Solche Probleme wird die Schweiz, wenn überhaupt, erst in ferner Zukunft kennen. Denn es gibt hier kein einziges professionelles Spielentwicklerunternehmen. Entwickelt wird höchstens nebenbei. Einer dieser Freizeittüftler ist Reto Schmid. Sein Projekt nennt sich «Tell – Dawn of a Legend» und befindet sich noch in der so genannten Alpha-Phase. Darunter wird die erste lauffähige Version des Spiels verstanden. Das Spiel hat also noch nicht die Marktreife erreicht. Zusammen mit zehn Kollegen gründete Schmid 2003 das Entwicklungsstudio Gathering of Developers in Switzerland (GODS). Zusammen gingen die Unentwegten daran, in ihrer Freizeit das Actionrollenspiel zu entwickeln. In «Tell – Dawn of a Legend» werden die Feinde aus vergangenen Zeiten, die Habsburger, bekämpft.
Andere Hobbyentwickler aus helvetischen Landen backen kleinere Brötchen. Auf der Internetseite «swissgamedev.ch» versammeln sie sich, tauschen sich aus und präsentieren ihre Arbeiten. Trotz dieser Bemühungen sieht Schmid kaum eine Chance, dass in der Schweiz eine Entwicklerszene wie in Deutschland oder gar in den USA entstehen könnte: «Wenn sich die Branche etabliert hat, schätze ich die Firmendichte auf etwa zwei grössere und fünf kleinere Entwickler.» Und weiter: «Potenzial ist vorhanden. Nur ist es für die Pioniere dieser Branche natürlich umso schwieriger, etwas zu erreichen, wenn ihnen niemand hilft.»

Vorurteile halten der Realität nicht stand

Hilfe in Form von Finanzierungszuschüssen ist für Schweizer Videospielentwickler nirgends in Sicht. Diese Erfahrung musste auch die Zürcherin Alexandra Papadopoulos machen, die erfolgreich Internetseiten und Edutainment-Software entwickelt. «Ich wurde auch schon beim Kulturprozent der Migros vorstellig: ohne Chance.» Ihr Spielprojekt «WusiWorld» zählt zur Gattung der Rollenspiele und richtet sich primär an ein weibliches Publikum. Trotz guter Dokumentation und Präsentation liess sich bisher kein Finanzpartner finden. Häufig ortet Papadopoulos eine Unsicherheit oder gar Vorurteile gegenüber Computerspielen: «Es scheint, als müsse unbedingt ein pädagogischer Aspekt in einem Spiel vorhanden sein, damit es als förderungswürdig eingestuft wird.» Oder schlimmer noch, man denkt beim Wort Computerspiel gleich an die sogenannten Egoshooter, bei denen es darum geht, möglichst viele Gegner in die «ewigen Jagdgründe» zu befördern. Diese Sparte hat der Branche zwar anfangs viel Geld eingebracht, mittlerweile verschafft sie ihr nur noch ein schlechtes Image. Dabei machen diese Egoshooter gerade mal zehn Prozent der gespielten Videogames aus, wie Daniel Süss, Dozent im Fachbereich Kommunikations- und Medienpsychologie an der Hochschule für Angewandte Psychologie in Zürich, zu berichten weiss.
Spielen allein um der Unterhaltung willen wird oft nur Kleinkindern zugestanden. Dabei liegt das Durchschnittsalter der Videospieler in den USA heute bei 30 Jahren. Und 43 Prozent der Spielenden sind Frauen, wie Süss erklärt. Frauen und Männer unterscheiden sich dabei in ihrer Spielewahl. Zu den Genre-Vorlieben sagt Daniel Süss: «Frauen haben insgesamt aufgeholt. Sie bevorzugen aber Simulationen und Rollenspiele wie die ‹Sims›, während die Männer eher Action- und Sportspiele mit entsprechenden
Figuren schätzen.»

Die Schweiz droht den Zug zu verpassen

Keine Genderfrage ist in der Ausbildung auszumachen. Ob für Frau oder Mann, die Schweiz hat hier bereits die ersten Schritte in Richtung Gameentwicklerland getan. Die Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich (HGKZ) bietet ein vierjähriges Diplomstudium «Gamedesign» an. Hier werden den Studenten Gestaltung, 3-D-Modelling, Drehbuch- und Konzeptarbeit und die Game-Engine-Programmierung beigebracht. Als Voraussetzung wird die Berufsmatura verlangt, doch besonderen Talenten soll auch ohne eine Chance gegeben werden, wie Ulrich Götz, Leiter des Studienprogramms, gegenüber der Zeitung «20 Minuten» verriet. Die Spielprogrammierer verfolgen meist den klassischen Weg über ein Informatikstudium mit anschliessendem Selbststudium, wo sie sich in die spieltypischen und plattformspezifischen Gegebenheiten einarbeiten. Angst, danach keinen Job zu finden und als Taxifahrer zu enden, brauchen die Studenten nicht zu haben. Glaubt man einer Studie des Beratungsunternehmens PricewaterhouseCoopers (PwC), wird die Unterhaltungsindustrie der Wachstumsmotor der Zukunft sein.
Die PwC-Studie «Global Entertainment and Media Outlook 2005–2009» erwartet für die Videospielindustrie ein durchschnittliches jährliches Wachstum von 17 Prozent. Als Verlierer aus der Medien- und Unterhaltungsbranche werden laut PwC bis 2009 das Fernsehen, das Radio und die Printmedien hervorgehen. Wegen der weltweit steigenden Zahl der Anschlüsse wird das Internet nach den Videospielen der am stärksten wachsende Mediensektor sein. Die werbefinanzierten Medien suchen nach neuen Einnahmequellen und gleichzeitig wachsen die Ausgaben der Verbraucher für Spiele, wie die Studie weiter feststellt. Angesichts solcher Prognosen könnte ein Umdenken in der Medienindustrie stattfinden. Sie wird sich überlegen müssen, ob sie die ausgebildeten Fachleute ins Ausland abwandern lassen oder ihnen nicht besser im eigenen Land eine Zukunft bieten soll.
Gegenwärtig sieht es nicht gut aus. Spielentwickler Reto Schmid gibt sich kämpferisch: «Die Ignoranz der Wirtschaft gegenüber dieser Branche ist für uns eigentlich schon Motivation genug, es trotzdem zu schaffen.» Dabei erhält er Schützenhilfe vom Industrievertreter Roger Frei. Dieser kann sich eine starke einheimische Spielentwicklerszene durchaus vorstellen: «Es müsste eine Arbeitsgruppe zusammenkommen, die ein klares Commitment abgibt mit dem Ziel, die Schweiz innert fünf oder sieben Jahren neben Japan, England, Frankreich und den USA zu einem der Majors im Spielebereich zu machen.»
Durchhaltewille und Mut werden Reto Schmid und die einheimische Entwicklergemeinde gut brauchen können. Die heutigen Spiele, die auf dem Weltmarkt bestehen müssen, sind hoch komplex und werden mit grossem finanziellem wie auch personellem Aufwand hergestellt. Die Kosten von Erfolgsspielen belaufen sich auf 50 bis 100 Millionen Dollar, sind also vergleichbar mit jenen einer Hollywood-Filmproduktion. «Und die Kosten werden in Zukunft deutlich steigen», gibt Roger Frei zu bedenken. Da werden die Schweizer sich mit kleineren Projekten begnügen oder sich einen Nischenmarkt ergattern müssen. Analog zur Filmbranche hiesse dies, lieber einen «Sternenberg» oder «Eugen» zu produzieren, statt sich gegen einen «King Kong» oder «Herr der Ringe» zu stemmen. Schliesslich müsse ein gutes Spielkonzept nicht teuer sein, gibt selbst der Mann von Sony zu.

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