13.05.2020
TEXT: Minna Studer-AlderFOTO: Christoph Ruckstuhl / NZZ
Der Schriftsteller und Journalist Hugo Loetscher verfügte wie kein anderer über die Fähigkeit, genau hinzuschauen.

Hugo Loetscher 2003 in seiner Wohnung und Arbeitsstätte an der Storchengasse in Zürich.

Hugo Loetschers fabelhafte Welt zwischen Antike und Neuzeit

Ein Tausendsassa der Erzählkunst im Reich der vermenschlichten Tiere

Mit scharfem Blick und pointiert formulierten Sätzen erzählt der Schweizer Schriftsteller in seinem Buch «Der predigende Hahn: das literarisch-moralische Nutztier» aus dem Leben der vermenschlichten Tiere. Dabei deckt er mit heiterer Ironie menschliche Doppelbödigkeit auf. Verlogenheit allerdings entlarvt er durch gnadenlose Spitzen.

Fabeln und ihre Interpretationen zu lesen, kann sehr vergnüglich sein. Brillant geschrieben, wie jene von Loetscher, sind sie zudem unterhaltsam und bildend zugleich. Zumindest haben es Fabeln so an sich, dass sie anregen, selber zu denken: «Der Verdacht, der Affe sei sich bei seinem Nachreden gar nicht bewusst gewesen, was er jeweils vorbrachte, spricht nicht gegen seine Fähigkeit, als Mensch aufzutreten. Auch Menschen imitieren sich und reden einander nach, ohne genau zu wissen, worüber sie jubeln und wogegen sie protestieren, ohne deswegen gleich in den Verdacht zu geraten, sie seien als Jünger Parteigänger und als Fans Affen oder Papageien.»

Loetscher gelingt in seinem Buch «Der predigende Hahn: das literarisch-moralische Nutztier» das Kunststück, alte Fabeln zu interpretieren und in diesem Prozess neue zu generieren.

Gesellschaftskritik ohne erhobenen Zeigefinger
Der Schriftsteller und Journalist Hugo Loetscher verfügte wie kein anderer über die Fähigkeit, genau hinzuschauen. Immer wieder auch selbstironisch und mit einem Schmunzeln stellt er alltägliche Unzulänglichkeiten eines jeden dar. In seinen Fabeln demaskiert er allerdings mitunter böse und gnadenlos Heuchelei und den Missbrauch der Schwächeren in einer Gesellschaft.

Er versieht sein Fabelwerk mit keinem Inhaltsverzeichnis und die einzelnen Geschichten mit keinen Titeln. Daher sollte die Leserin oder der Leser die Bereitschaft haben, sich auf das Erzählte einfach einzulassen. Ich habe den Geschichten nach der Lektüre als Experiment oder Orientierungshilfe zum Teil eigene Überschriften gegeben. Das ist eine Möglichkeit, leichter durch den Lesestoff zu kommen. Der Autor schöpft nämlich aus seinem immensen historischen und literarischen Wissen.

Lesen aus Lust oder Wissensdurst
Die Bibliographie am Ende des Buches und das Verzeichnis der Autoren, über deren Fabeln Loetscher schreibt, helfen dabei, sich bei näherem Interesse genauer zu informieren. Der Lesefluss ist hie und da aber durch dieses Hin-und-her-Blättern etwas unterbrochen. Wenn das stört, empfiehlt es sich daher, einfach zur nächsten Fabel überzugehen. Sie wird den einen oder die andere überraschen und zu lautem Lachen oder leisem Kichern anregen.

Wahrscheinlich gibt es aber je nach Leserschaft auch andere Reaktionen auf die Laus, «welche als Referenz längere Aufenthalte auf lichten Professorenköpfen angab, erläuterte, dass das eine nicht das andere sei und dass bei Unterschieden Unterschiede abzugrenzen seien. Der halbvolle Saal leerte sich bald, was die Referentin nicht beeindruckte, da sie kaum vom Manuskript aufsah, zur Schau stellend, dass sie nicht nur reden konnte, sondern auch lesen, und sei es bloss Selbstverfasstes.»

Alles in allem sei gesagt, dass die Lektüre von Loetschers Fabelwerk vor allem dann ein Vergnügen ist, wenn einem Selbstironie nicht fremd ist und die Leserin oder der Leser dort und da – falls erträglich – einen Blick in den Spiegel wagt.

 

Hugo Loetscher

Der predigende Hahn: das literarisch-moralische Nutztier

Diogenes Verlag, Zürich, 1993

Taschenbuch, 376 Seiten

Fr. 12.90

ISBN: 3-257-22673-X

Hugo Loetscher (1929 in Zürich – 2009 ebenda) studierte Politische Wissenschaften, Soziologie, Wirtschaftsgeschichte und Literatur in Zürich und Paris. Er arbeitete stets parallel als Schriftsteller und Journalist. Letzteres anfangs als Literaturkritiker für die «NZZ» und die «Weltwoche». Bei der Zeitschrift «Du» gründete er die Literaturbeilage «Das Wort». Später schrieb er als freier Autor für die Presse. Er bereiste als Redaktor Europa, Asien, Nordafrika und Amerika. Dabei wurde Brasilien zu einem seiner Spezialgebiete. Er beschäftigte sich insbesondere mit den gesellschaftspolitischen und kulturellen Eigenheiten des Landes. Bei aller Horizonterweiterung durch seine Reisen verlor er nie das Interesse für das aktuelle Geschehen in der Schweiz. Gegen Ende seines Lebens zeichnete sein Werk mehr und mehr ein globalisiertes Bewusstsein aus.