27.06.2016
TEXT: Julia AntoniouFOTO: zVg.

Christian Ruch, Historiker und Religionssoziologe, hält es grundsätzlich nicht für unethisch, Tiere zu töten.

Die neue Frömmigkeit

«Veganismus ist eine Religion ohne Gott»

Dank der veganen Bewegung hat die Welt endlich zur Kenntnis genommen: Die industrielle Massentierhaltung ist ein Riesenskandal. Aber wieso soll der Verzicht auf tierische Produkte die Welt zu einer besseren machen? Und wieso wird um Ernährung heute so ein Theater gemacht? Religionssoziologe Christian Ruch stellt interessante Zusammenhänge her.

Warum entzünden sich die Fragen nach Ethik und Moral heute am Essen?
Der Mensch muss wissen, wo er im Leben steht. Er braucht eine Rückbindung, etwas, worauf er sich verlassen und beziehen kann, und sucht die Bestätigung in einer Glaubensgemeinschaft. Früher bekam er diese Rückbindung – das bedeutet ja der Begriff Religion – in den Grosskirchen. Heute wird der Glaube sehr privat gelebt, in Communitys von Gleichgesinnten, die das Gefühl von Gemeinschaft vermitteln. An die Stelle von Gott sind weltliche Themen wie eben die Nahrung getreten. Denn Essen ist etwas Alltägliches, das uns sehr nahe ist. Es könnte aber genauso gut um Kleider gehen, die ebenfalls unter schlimmen Bedingungen produziert werden. 

Trifft dies auf die Veganer zu?
Ja, Veganer finden diese Rückbindung in ihrer Ernährungsform. In einer komplexen, unübersichtlichen Welt gibt ihnen der Veganismus Prinzipien vor, an denen sie sich orientieren können. Etwas überspitzt gesagt: «Ich komme zwar nicht draus in dieser Welt, aber wenigstens weiss ich, wie man korrekt isst.» 

Hat der Veganismus religiöse Züge?
Durchaus. Der Veganismus ist im Grunde eine missionarische Erlösungsreligion. Um die Welt zu retten, erlösen die «Gläubigen» das Tier als Teil der Natur vom Leiden und damit sich selbst. Dadurch erleben sie ein Einssein mit der Natur. Der Veganismus kennt auch verschiedene Konfessionen: solche, die auch Eier oder nur Früchte essen, oder solche, sich nur teilzeitig vegan ernähren. Und es gibt Mitglieder der Gemeinschaft – quasi Taliban auf dem Teller –, die eine fundamentalistische und intolerante Haltung einnehmen und versuchen, andere zu missionieren und von ihrer Heilslehre zu überzeugen.

Gibt es ethische Gründe für den gänzlichen Verzicht auf tierische Produkte?
Veganer sehen Tiere als gleichwertige Wesen. Aber Tiere haben kein Bewusstsein, keine Reflexion über sich selbst. Ich halte mich an das buddhistische Verständnis, wonach Tiere leidensfähige Wesen sind und deren Leiden zu vermeiden ist. So gesehen sind wir aufgefordert, etwas gegen die katastrophalen Bedingungen in der Fleischindustrie und in den Schlachtereien zu unternehmen. Grundsätzlich halte ich es aber nicht für unethisch, Tiere zu töten. Ich lebe im Kanton Graubünden. Die Jagd ist dort wichtig, um zu grosse Wildpopulationen zu vermeiden, weil sie den Schutzwald schädigen.

Was bringt dieser Verzicht den Veganern?
Im Verzicht praktizieren die Veganer eine moderne Form der Askese. Askese gehörte schon immer zu den spirituellen Traditionen, die fast alle Religionen kennen, und ist immer Ausdruck von grosser Frömmigkeit. Veganismus ist wie eine Religion ohne Gott. Sie verleiht den «Gläubigen» ein gutes Gefühl. Das Individuum kann im Kleinen etwas zur Besserung der Welt beitragen und dazu den grossen Ohnmachtsgefühlen begegnen, die der Klimawandel oder die Syrienkrise auslösen. Für mich ist Veganismus ein Luxusproblem. Für Menschen, die nicht in einer Wohlstandsgesellschaft leben, stellen sich solche Fragen nicht. Sie sind froh, wenn sie überhaupt etwas auf dem Teller haben.

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