Veröffentlicht am 18.08.2014FOTO UND TEXT: Salomé Weber

Wo früher eine Wiese war, wird heute gebaut: Blick aus der Wohnung der Autorin in Zürich.

Zubetonierte Aussicht

Salomé Weber
Journalistin «der arbeitsmarkt»

Lange Zeit erfüllte mich der Blick von unserer Wohnung auf eine schöne grüne Wiese mit Freude. Eigentlich wusste ich schon lange, dass sie eines Tages einer städtischen Wohnsiedlung weichen würde. Erst jetzt, da es Realität geworden ist, merke ich, wie sehr sie mir fehlt. Mit Argwohn erwartete ich die Bauerei, mit Misstrauen verfolgte ich, wie sich die Bauphase Schritt für Schritt entwickelte. Zuerst wurden die Bäume gefällt, danach die ganze Parzelle mit einer Bauabsperrung abgeschottet und dann fuhren die Bagger auf. Unsere Wohnung liegt im vierten Stock, so dass der Blick nach draussen über die Bauabsperrung reicht und wir das ganze Geschehen auf der Baustelle überschauen können. Pünktlich zur Morgendämmerung begleitet nun der monotone Lärm von Baumaschinen mein Erwachen. Die erholsame Ruhe zur Morgenstunde kann ich nur noch an Wochenenden und Feiertagen geniessen. Ich hätte nie damit gerechnet, dass der gewohnte Ausblick aus dem Fenster zu einem Alptraumblick werden könnte und wie dieser Wandel mein Innenleben bewegt. Auf den Höhepunkt dieser Erkenntnis gelangte ich nach einer krankheitsbedingten, verwirrten Nacht, als ich früher als üblich beobachten konnte, wie die Baustelle langsam erwachte und sich einer nach dem andern am neuen Arbeitsort einfand. Plötzlich fuhr eine riesige, kranartige Bohrmaschine über den durchnässten Lehmboden. Stück für Stück präparierten die Bauarbeiter den Boden mit Baumstämmen, damit die Bohrmaschine einen fixen Stand bekam. Danach begannen sie mit krachendem Lärm eine überdimensionale Drehspirale in die Erde zu bohren. In der Lärmkulisse der Bohrgeräusche wurden mir die Dimensionen der neuen Überbauung bewusst. Vor meinem geistigen Auge erahnte ich, wie viel Platz sie ungefähr in meinem Blickfeld einnehmen und meinen Ausblick versperren würde. Nur die Höhe des Gebäudes und die damit verbundenen Schattenwürfe beziehungsweise die sich verändernden Lichtstimmungen kann ich mir noch nicht vorstellen.

Zum Glück musste ich zu einem Termin und konnte mich aus der einnehmenden Gewalt des Geschehens vor meinem Fenster lösen. Ich stieg in den Bus und fuhr übernächtigt durch die Stadt. Überall erkannte ich Baustellen: Da wird das Trottoir aufgerissen und werden neue Kabel verlegt, dort wird ein Platz neu bepflastert und hier wird der Verkehr umgeleitet, weil der Belag ersetzt wird. Die ganze Stadt befindet sich in einem nicht enden wollenden Bauboom. Zwei Hände reichen nicht aus, um die Anzahl der bis zum Horizont sichtbaren Kräne zu zählen. Mit dieser Beobachtung bin ich wohl nicht alleine, aber in diesem Sommer bin ich selber davon betroffen, denn es geschieht vor meiner eigenen Haustür.

Noch am selben Tag entschied ich mich, Vorhänge zu nähen, um den Ausblick auf die Baustelle verdecken zu können, die mich mindestens noch ein Jahr begleiten wird. Zusätzlich hat sich die Verwaltung entschieden, direkt nördlich unseres Hauses, den Zwischenbereich zum Nachbarhaus mit einem Neubau zu füllen. Spasseshalber haben wir schon mit Freunden darüber gewitzelt, dass wir zwar Opfer des verdichteten Bauens werden, jedoch Heizkosten sparen können, wenn unsere Nordseite isoliert wird. Tatsache ist, dass unser Badzimmerfenster zugemauert und der gegenüberliegende Balkon abgerissen wird – wovon ich bereits geträumt habe. Unsere Verwaltung lässt uns immer noch im Ungewissen, zu welchem Zeitpunkt die Bauarbeiten starten und wann sie in unser Badezimmer eingreifen werden. Trotzdem sind schon Veränderungen sicht- und hörbar. Ich spüre in meinen eigenen vier Wänden eine Entwurzelung. In der Wohnung bleibt zum Glück alles beim Gewohnten. Die Einrichtung ändert sich nicht, alles hat seinen Platz. Aber die Wohnumgebung verändert sich mit rasantem Tempo, so dass ich mich auf einmal fremd fühle. Diese Veränderung braucht Zeit, um verdaut zu werden. Und solange die Arbeiten ihren Lauf nehmen, bleibt die Veränderung und kann noch nicht verarbeitet, geschweige denn verdaut werden.

Mir bleiben wehmütige Erinnerungen an eine Wiese, die da lag umgeben von Bäumen, an Blumen, die mir den Lauf der Jahreszeiten ankündigten und im Ganzen einen positiven Einfluss auf mein Wohlergehen hatten. Die Wiese, die Grünfläche und die Natur haben wir mit einem Ritual verabschiedet. Auf kleine Fahnen konnten die Besucher ihre Wünsche und Erinnerungen aufschreiben und die Fahnen aufhängen. So wurde der grünen Wiese ein Andenken geschenkt. Der natürliche Kreislauf vom Werden und Vergehen nimmt seinen Lauf. Mit Vorfreude erwarte ich das neue Leben im Quartier, welches bis jetzt nicht sonderlich zu spüren war. Ich freue mich sehr darauf, dass neue Bewohner meine Nachbarn werden und Leute einen zahlbaren Wohnraum, ja, ein neues Zuhause finden werden. Ich freue mich auf die neue Lebensfläche, auf die neuen Ladenlokale, die neuen Gemeinschaftsräume, die Kinderkrippe, den neuen Spielplatz, die neue Begrünung, die neuen Bäume, auf alles was kommen wird. Es wird ein urbanes Lebensgefühl, welches mit diesem Neubau einen Anfang setzt, mittendrin zu sein, am Puls des Geschehens. Doch dies ist noch Zukunftsmusik. Vorerst bleibt eine Zeit des Lärms, des Drecks, des Staubs und der Veränderung. Eines ist sicher: Ich werde keine Fenster putzen, denn glasklar brauche ich die Baustelle nicht täglich zu sehen.