Veröffentlicht am 01.07.2013TEXT: Melinda Melcher

Illustration: Patrick Herger

Ist Sprache nicht mehr als twittern?

Melinda Melcher
Journalistin «der arbeitsmarkt»

Die Lust auf Macht ist en Vogue. Sich als absolute Bestmarke zu betrachten neustes Gebot. Perfektes Eigenmarketing empfiehlt sich als bestmögliche Methode zum Erfolg. «Ich denke, also bin ich» (Descartes) wurde durch «ich kommuniziere, also bin ich» abgelöst. Facebook, Twitter und Co. stehen für das Ich-Marketing allzeit und relativ kostengünstig zur Verfügung. Die grosse Reichweite und die vermeintlich seriöse Erfolgsmessung via «likes» und «Google Statistics» soll Methodik und Kontrolle suggerieren. Jeder zwischenmenschliche Kontakt wird zum medialen Ereignis.

Die meisten sozialen Interaktionen mutieren zu potenziellen Bühnen. Xing-, LinkedIn-, Google Plus- und Facebook-Profile, Experten-Blogs oder die eigne Webseite sind die entsprechende Verpackung. Die Sprache – öfters auch die Bildsprache – ist das Mittel zur Selbstdarstellung. Weitere Bühnen für das Ich-Marketing bieten sich bei Präsentationen innerhalb der Firma, politischen Engagements, Podiumsdiskussionen, Kommentaren in Fachpresse oder im Social-Media-Bereich. Selbst wohltätige Aktivitäten dienen der Ich-Marke.

Nur, wie geht Mann und Frau mit dem legitimierten Narzissmus ein Leben lang um, frage ich mich? Kann Schall und Rauch die Langstrecke halten? Erkennt sich die Twittergemeinde in ihrer eigenen Sprache selbst wieder? Wen interessiert das Übermorgen, wenn regelmässiges Tagesziel ist, sich gegenüber Vorgesetzten, Mitarbeitern, Kollegen oder Partnern als Bestmarke zu positionieren?
Zielgerichtetes Networking und die Pflege der Ich-Marke sowie der alltägliche Wahnsinn absorbieren und lassen weder Raum für Musse, noch Platz, um sich selbst zu vergessen.

Zu viel Selbstbespielung löst bei mir Übelkeit aus. Ich brauche kontaktleere Zwischenräume. Mit 40 Jahren bin ich mir bewusst, dass die Dinge meist doch anders kommen als geplant, Kontakte flüchtige Gebilde sind, Freunde auch mal zu Feinden werden können, dass Planung vor allem Mahnung ist und das Weltgeschehen von wiederholenden Geschichten geprägt ist.

Was wären wir Menschen ohne Visionen und Wünsche? Selbst Illusionen sind erlaubt. Aber Achtung: Der Markt ist allgegenwärtig. Eigene wilde Ideen und nicht konforme Berufsexperimente zwecks Horizonterweiterung und Perspektivenwechsel sind gewagt. Marktkonformität gegenüber dem «Aktienmarkt», «Arbeitsmarkt» oder «Wohnungsmarkt» schützt und beruhigt die Akteure. Herr und Frau Schweizer wissen, dass sie sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und gewagte Selbstexperimente unterbinden sollten.

Konsens ist die Essenz unserer Kultur. Auffallen sollen die andern. Das Korrektiv bekommen auch prominente Abtrünnige dieser Maxime wie der Thuner Intellektuelle und Globalisierungskritiker Jean Ziegler oder der Bündner Unternehmer und Globalisierungsritter Daniel Vasella zu spüren. Soziale Unverträglichkeit ziemt sich in der «neutralen» Schweiz nicht. Hier fällt mir ein, dass selbst die klassische Sozialarbeit mit den Messgrössen «Norm» und «Abweichung von der Norm» arbeitet. Michael Becker, ein Experte der politischen Philosophie, erklärt die Sozialarbeit als Erhaltungsinstanz der Konformität. Sozialarbeiter haben die Aufgabe, Querschläger zu neutralisieren und auf den Pfad der gesellschaftlich akzeptierten Normierung zurückzubringen.

Heute ist die Marktwirtschaft die Norm, der sich «alle» zu beugen haben und in der die meisten ihr Glück – auch mit Hilfe des Ich-Marketings – suchen. Kurz: Die Marktwirtschaft ist eine von Menschen geprägte und organisierte Arbeitsgemeinschaft, deren Steuerung vordergründig dem Preis zugeschrieben wird. Auch in der Wohlstandsschweiz steht Wirtschaftlichkeit über allem. So thront die Hochfinanz über dem einfachen Volk und backt ihr eigenes Brot.
Im Leben 2.0 zählen die «richtigen» Beziehungen. Diese bringen einen ans Ziel. Somit wird die Suche nach Gleichgesinnten, Partnern und Investoren übers Netzwerken (online oder offline) als wegweisend erklärt. Netzwerkkönige wie Google und Facebook kreieren unsere neuen gläsernen Spiele. Hierzulande entwickelt Google zum Beispiel «Google Glass» – noch ohne Gesichtserkennung – um das Tauschgeschäft mediale Sichtbarkeit für Geld zu optimieren beziehungsweise zu revolutionieren.

Heutige Kommunikation erzeugt Tempo und Transparenz. Herr und Frau Schweizer passen sich so gut als möglich an. So wurde auch unser wohlgehütetes Bankgeheimnis zur offenkundigen und geborgenen Datenmine. Die neutrale kleine Schweiz musste sich der aktuellen Führungscrew des 21. Jahrhunderts – zu der auch «Commander Data» gehört – beugen. «Data» ist derzeit noch für ein westliches Regime im Ansatz. Aber auch die Illusionisten, die die Star-Trek-Episoden kreierten, beschäftigten sich mit der Frage: «Wem gehört Data?» Lieutenant Commander Data, ein Android, ein Supercomputer, der völlig logisch agiert und unfähig ist, Humor zu verstehen oder andere Gefühle zu empfinden, der dazu dient, Daten zu sammeln und zu speichern.

Mir ist das Ich-Marketing, das derzeitige Globalisierungsgebaren mit seiner selbstbezogenen Machtmarketingkultur, etwas suspekt. Liegt das nun daran, dass ich 1973 auf der Sträflingsinsel Australien geboren wurde, eine Individualistin, die keine digitale Eingeborene ist – bin – und vom Bankgeschäft und Datenbergbau keine Ahnung habe?

Nein, gewiss nicht. Zahlreiche Individualisten meiner Art sind bestimmt auch etwas über den vorherrschenden Datenwahn irritiert. Selbst in Amerika, der Heimat von «Comander Data» und Goolge und Co.,  wird die digital orientierte «Me-Generation» – die von sich überzeugte aber relativ konforme zwischen 1980 bis 2000 geborene Ich-Generation – in Frage gestellt.

Wir alle kreierten die Ich-Generation und prägten ihre Attitüde mit. Selbstverliebte medialinszinierte Machtmensch-Vorbilder fehlten dabei nicht. Sogar in der angepassten Schweiz bezeichneten sich Wirtschaftsführer und Meinungsmacher wie Herr Blocher selbst als «den Fähigsten» (NZZ Online).

Um aus der Masse herauszustechen soll der Mensch seine Einzigartigkeit nutzen. Die Ich-Marke-Berater fordern auf, diese Einzigartigkeit zu entdecken und sie im Freundeskreis sowie über andere Kommunikationskanäle zu üben. Dazu sei ein «gesundes» Mass an Selbstprofilierung und Selbstbehauptung notwendig. Nur bitteschön alles in angepasster Form, innerhalb der marktkonformen Struktur- und Profilangeboten. Die vorgefertigten Social-Mediaprofile lassen grüssen...

Aber auch Unangepasste und gesellschaftlich weniger einflussreiche Mitbürgerinnen und Mitbürger verfügen über Einzigartigkeit. Auch Arbeitslose, Behinderte, Straffällige und Querulanten zeichnen sich durch Ihre Besonderheit aus. Nur sind deren Originalität und Perspektive nicht konform. Ihr Stellenwert scheint unbedeutend. Ihr Marktwert ist eher tief. Ihre Ich-Marke abgestürzt und aus dem Verkehr gezogen.

Glücklicherweise verbindet Menschen letztlich mehr als der Markt und Konformität. Auch das hat die Geschichte mehrfach gezeigt. Persönlich inspiriert mich das kraftvolle Beispiel einer unbeirrten Frau, die an die Macht der Taten glaubte und mit Verstand die Mächtigen dieser Welt überzeugte – die Kenianerin Wangari Maathai (1940-2011), Professorin, Politikerin und Begründerin der Grüngürtel Bewegung, einem Wiederaufforstungs- und Sensibilisierungsprogramm, und Friedensnobelpreisträgerin 2004. Wangari Maathai hat global Menschen und Wurzeln bewegt. Neugierde, emanzipiertes Denken, Empathie, Gerechtigkeitssinn und wahre Kooperation bedarf wahrer Werte, analoger selbstsicherer Menschen, Menschen mit einem Offline-Leben, geprägt von Leidenschaft und Vorstellungskraft mit gelebten Höhen und Tiefen.

Mir ist die analoge, physische, natürliche Welt lieb und teuer und die digitale «on demand» nützlich. In der Leere jedoch begegne ich mir selbst. Dort entstehen Ideen und meine unbeirrte Motivation trotz allem authentisch zu bleiben und meinen eigenen Weg zu gehen – selbst bei begrenzter Mehrheitstauglichkeit.

Hallelujah. Werde ich durch das Ausformulieren meiner Ansichten nun zur idealistischen Wutbürgerin? Nein, wieso auch. Ich nutze und entdecke bloss die Sprache, suche nach meiner eigenen Stimme. Ich kommuniziere, also bin ich.