«der arbeitsmarkt» 05/2006

Vielschichtige Vorbehalte

Arbeit und Behinderung Die Diskussion zur 5. IV-Revision verläuft falsch. Die Gleichstellung von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt ist noch nicht vollzogen. Olga Manfredi, Juristin und Co-Präsidentin des Gleichstellungsrates «Egalité Handicap», spricht im Interview mit dem «arbeitsmarkt» Klartext.

der arbeitsmarkt: Die Zahl der IV-Renten ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Worin sehen Sie den Grund?
Olga Manfredi: Zwei Kategorien von Neurentnern haben deutlich zugenommen, nämlich jene der Personen ab 55 und jene der ganz Jungen mit wenig adäquaten Ausbildungsplätzen oder aus geschützten Werkstätten, die auf dem freien Arbeitsmarkt wenig Chancen haben. 2005 dagegen erwirtschafteten allein die im Swiss Market Index vertretenen Schweizer Unternehmen einen kumulierten Reingewinn von 58 Milliarden Franken. Da stellt sich doch die Frage: Wie viele Leute haben zur Erreichung dieser Gewinne ihren Job verloren und sind dadurch mittlerweile bei der IV gelandet?
 
Wieso ist gerade die Gruppe der über 55-Jährigen so stark betroffen? 
In diesem Alter macht sich bei vielen eine angeschlagene Gesundheit bemerkbar, die ihnen nicht mehr erlaubt, zu hundert Prozent zu arbeiten, und es folgt oft der Stellenverlust. Sorgfältige Übergangslösungen für die Überführung ins Rentendasein fehlen. Man sollte sich mehr Gedanken darüber machen, ältere Arbeitnehmer mit einem reduzierten Pensum weiterzubeschäftigen, ohne dass ihnen dabei eine Kürzung der AHV-Rente droht. Auch für uns Behinderte stellen sich die Fragen: Wie schaffe ich den Ausstieg? Bin ich wirklich bis 65 in der Lage, meinen Job auszuführen? Zudem werden kurz vor der Pensionierung kaum noch berufliche Massnahmen zur Umschulung oder Weiterbildung finanziert.
 
Lässt sich ein grösserer Missbrauch der Renten feststellen?
Der seit Sommer 2003 viel diskutierte Missbrauch der IV-Rente ist für mich nichts als eine populistische Masche, um von den effektiven Problemen der IV abzulenken, also pure Schnappschusspolitik. Zu bedenken ist auch, dass nächstes Jahr die Wahlen des eidgenössischen Parlaments anstehen. Die Beantragung einer IV-Rente ist ein langes, kompliziertes Verfahren. Wenn es wirklich ein paar wenige gibt, die sich derart verstellen können, dann verfügt man bereits heute über die nötigen rechtlichen Mittel zur Leistungskürzung oder zur Leistungsverweigerung. Zugegeben, die IV-Stellen sind zunehmend überfordert, der veränderten Arbeitsmarktlage gewachsen zu sein, da sie personell und infrastrukturell unterdotiert sind. Die Eingliederungsbemühungen und die Rentenüberprüfung sind 
daher viel zu wenig effizient. Für die Früherfassung sollen bei der IV nun zusätzlich 40 Stellen und für die Frühintervention zusätzlich 200 Stellen geschaffen werden. Ganz wichtig wird dabei sein, wie die Besetzung der neuen Stellen aussieht. 
 
Wie ist die Lage der Behinderten auf dem Arbeitsmarkt? 
Es gibt viel zu wenig Daten über Menschen mit Behinderung, sofern es sich nicht um klare Versicherungsleistungen handelt. Bildungsweg, Arbeitssituation, Wohnung, hindernisfreier Zugang zu Bauten und Anlagen, Kommunikationsmittel von Behinderten – dafür wäre eine Erhebung dringend notwendig. Ohne Datenmaterial ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit Menschen mit Behinderung und ihrem Zugang zum Arbeitsmarkt sehr schwierig. 
 
Was ist der Hauptgrund für die schlechte Stellung der Behinderten auf dem Arbeitsmarkt? Lässt sie sich vor allem durch die Behinderung selbst erklären? 
Der Anteil an Leuten, deren Behinderung keine Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht, ist eher klein. Denn der Anteil Schwerstbehinderter an der Gesamtzahl der Behinderten beträgt in der Schweiz nur etwa 5 Prozent. Der Hauptgrund für die schlechte Beschäftigungslage der Behinderten ist gesellschaftlich bedingt. Dieses Phänomen ist allerdings vielschichtig und resultiert aus historisch gewachsenen gesellschaftlichen Ansichten unter dem Schlagwort Separation/Stigma von Behinderten. Zudem sind in den vergangenen zehn Jahren zunehmend Nischenarbeitsplätze gestrichen worden. Weiter sind die Anforderungen an die Arbeitnehmenden gleichzeitig massiv gestiegen, und nicht nur behinderte Menschen sind diesen nicht mehr gewachsen. 
 
Gibt es deutliche Unterschiede zwischen Menschen mit unterschiedlicher Behinderung?
Die grundrechtliche Diskussion betrifft alle Behindertengruppen gleichermassen. Im Einzelnen sehen die Lebenssituationen von unterschiedlich Behinderten aber völlig anders aus. Auf dem Arbeitsmarkt lassen sich Körper- und Sehbehinderte mit stabiler Behinderung am besten vermitteln. Grössere Schwierigkeiten haben vor allem Gehörlose, weil hier das Kommunikationsproblem sehr gross ist. Menschen mit geistiger Behinderung sind meist in geschützten Werkstätten beschäftigt. Ein grosses Problem stellt sich für viele Menschen mit psychischer Behinderung, da sie in der Regel selten konstante Leistungen 
erbringen können und daher oft nur schwer vermittelbar sind.
 
Haben sich die Anforderungen für Arbeitsuchende verändert?
Das Schwierigste bei der Arbeitssuche sind heute vor allem die strengen Anforderungsprofile. Erst wenn diese erfüllt sind, machen sich Arbeitgeber Gedanken über mögliche Folgen bei der Anstellung behinderter Personen und stellen Überlegungen über eventuelle Leistungseinbussen überhaupt an. Dazu sind Jobs oft zeitlich begrenzt in Projektarbeiten zu finden. Die IV zahlt aber keine baulichen Anpassungen für kurzfristige Jobs, was immer wieder zur Nichtanstellung behinderter Menschen führen kann. 
 
Wie sieht die Ausbildungssituation Behinderter aus?
Über lange Zeit sind Behinderte nicht ihrem Talent entsprechend ausgebildet worden, was sich heute noch auswirkt. Heute besitzen jedoch einige Behinderte einen Hochschulabschluss; 
insgesamt stellt sich die Ausbildungssituation Behinderter zunehmend unterschiedlich dar. 
 
Ist die Erwerbstätigkeit von Behinderten von ihrer Ausbildung abhängig?
Der Ausbildungsgrad kann entscheidend sein, muss es aber nicht. Auch gut ausgebildete Behinderte finden häufig keinen Job. Denn nicht nur die Behindertenlandschaft hat sich stark verändert. Auch die Arbeitswelt ist viel komplexer geworden.
 
Schaffen neue Technologien neue Chancen für Behinderte oder mehr Isolation?
Mit neuen Technologien werden sicher mehr Türen geöffnet. Positiv dürfte sich auswirken, dass neue Arbeitsplätze mit der Möglichkeit von Teilzeitarbeit oder der Möglichkeit, den Job teilweise von zuhause aus zu erledigen, geschaffen werden. Allerdings hängt dies auch von der Art der Behinderung ab. Technisch machbar, aber oftmals nicht beachtet wird die Anpassung für Sehbehinderte. Neue Technologien können für viele Menschen eine Überforderung bedeuten, nicht nur für Behinderte oder ältere Menschen. Die Frage der möglichen Isolation sehe ich hingegen als eine sehr persönliche Frage an, die vom persönlichen Umfeld und nicht von der Behinderung abhängt.
 
Behindertenquoten oder finanzielle Anreize für Unternehmen – halten Sie das für taugliche Instrumente für die bessere Eingliederung von Behinderten auf dem Arbeitsmarkt? 
Eine Quotenregelung mit Malussystem kann nur eine Ultima Ratio sein. Allerdings müssen die Arbeitgeber wieder vermehrt zur Verantwortung gezogen werden. Vor allem durch gute Information über ihre Rechte, durch Motivation, durch klare Unterstützung seitens der Sozialversicherungen und allenfalls durch ein Bonussystem.
 
Wie sollte auf die Arbeitgeber zugegangen werden?
Wichtig ist, dass die Zusammenarbeit zwischen den Institutionen der Sozialversicherungen und den Arbeitgebern auf einer positiven Ebene läuft. Ich persönlich halte vom Malussystem 
wenig. In Deutschland beispielsweise, wo Unternehmen Strafzahlungen zu leisten haben, wenn sie über eine gewisse Grösse verfügen, aber keine Behinderten beschäftigen, werden diese 
bereits im Voraus budgetiert.
 
Mit welchen Leistungen können Firmen, die Behinderte beschäftigen, bereits heute rechnen?
Die heutigen IV-Leistungen für Unternehmen, die Behinderte beschäftigen, wie Einarbeitungszuschläge, Übernahme von Sozialversicherungsleistungen, behinderungsbedingte Anpassung des Arbeitsplatzes, erachte ich als sinnvolle Anreize. Sie sollen sicherstellen, dass Arbeitgeber nicht zusätzliche Aufwendungen haben, wenn sie eine behinderte Person einstellen. Die Informationen darüber müssen aber wesentlich verbessert werden.
 
Behinderte, die voll erwerbstätig sind, verdienen in etwa gleich viel wie Nichtbehinderte, aber sie haben Zusatzkosten. Weiss man, wie hoch diese in etwa liegen und was sie selbst tragen müssen?
Die behinderungsbedingten Mehrkosten werden von den Versicherungen getragen. Je nach Versicherung sind die Leistungen aber quantitativ sehr unterschiedlich. Beispielsweise erhalten 
Suva-Versicherte bessere Leistungen als IV-Versicherte. Mehrkosten ergeben sich für mich als Rollstuhlfahrerin eher versteckt. Will ich beispielsweise essen gehen, dann muss ich mich eher für teurere Restaurants, die hindernisfrei gestaltet sind, entscheiden. Dasselbe gilt auch für Ferien- und Freizeitangebote. 
 
Ist die schweizerische Arbeitswelt noch zu wenig für Hindernisse und Probleme behinderter Menschen sensibilisiert? 
Grundsätzlich sind die Vorbehalte gegenüber Behinderten sehr vielschichtig. Je enger Arbeitgeber mit behinderten Menschen vertraut sind, desto eher werden behinderte Personen auch eingestellt. 
 
Wie sehen Ihre eigenen Erfahrungen aus?
Ich persönlich habe Glück gehabt und während meiner Rollstuhlkarriere nicht auf Arbeitssuche gehen müssen, sondern sogar bereits zweimal einen Job angeboten bekommen. 
 
Wo sehen Sie Ihre grösste Herausforderung im Rollstuhl?
Bei uns Rollstuhlfahrenden sind es überwiegend bauliche Hindernisse, die uns von der Öffentlichkeit fern halten. Nur 70 Prozent der Bauten in der Schweiz sind überhaupt für uns zugänglich. Auch der öffentliche Verkehr ist noch nicht ideal angepasst. Wir wollen unser Leben leben, nur müssen wir uns viel mehr Gedanken machen, wie wir unsere Vorhaben umsetzen können. Da stellen sich oft simple Fragen: Wie komme ich zum Beispiel in ein 
Museum hinein? Ist eine rollstuhlgängige Toilette vorhanden? 
 
Sprechen wir von der jüngsten Diskussion zur 5. IV-Revision im Nationalrat. Welche positiven Elemente sehen Sie aus Sicht der Behinderten?
Ehrlich gesagt, überwiegen für mich die negativen Elemente, vor allem weil die Diskussion unter dem Motto der Missbrauchsdebatte geführt wurde. Begrüssenswert bei der jüngsten IV-Revision ist sicher der Ansatz zur Früherkennung und Früherfassung, aber der müsste durchdachter ausgestaltet werden. 
 
Was ist problematisch an der vorgeschlagenen Früherkennung?
Es gibt drei grosse Haken im jüngsten Vorschlag: Die Anmeldung zur Früherkennung kann auch ohne Einwilligung des Betroffenen erfolgen, damit fehlt dessen Mitbestimmungsrecht und Eigenverantwortlichkeit. Zudem wird diese Person später gezwungen, sich bei der IV zu melden, sonst muss sie im Falle einer möglichen Behinderung Kürzungen oder sogar eine Verweigerung der Rente fürchten. Schwer wiegt auch, dass der Datenschutz nicht gewährleistet wird, da die ärztliche Schweigepflicht aufgehoben werden kann. Das Problem, wie man Personen, die bereits IV-Rentenbezüger sind, wieder zurück auf den Arbeitsmarkt führt, kam überhaupt nicht zur Sprache, und da sehe ich ein ganz grosses Problem. 
 
Wie muss die Früherkennung angepackt werden?
Früherkennung muss aus meiner Sicht heissen, dass vor allem die IV und die Arbeitslosenversicherung, allenfalls auch die Krankenkasse und die Unfallversicherung, früher und enger zusammenarbeiten und eruieren, ob es medizinische oder gesundheitliche Massnahmen braucht oder ob jemand derart angeschlagen ist, dass er wirklich eine Rente braucht. 
 
Welches sind Ihre Hauptkritikpunkte an der jüngsten IV-Diskussion?
Erstens spaltet sie die Behinderten in zwei Lager, zweitens wurde die angestrebte materielle Revision nicht mit der Finanzierungsfrage gekoppelt und drittens werden einige Grundrechte missachtet, was nicht tolerabel ist. 
 
Inwiefern trifft sie Behindertengruppen unterschiedlich? 
Durch die engere Fassung des Zugangs zur IV-Rente sollen Behinderte mit instabilen Behinderungen künftig einen sehr erschwerten bis gar keinen Rentenanspruch mehr haben. Viele Behinderungsarten sind aber instabil. Dazu gehören beispielsweise Personen mit psychischen Behinderungen, mit Depressionen oder Psychosen, weiter auch Menschen mit Multipler Sklerose, Muskelerkrankungen, Schmerzproblematiken oder Schleudertraumas. 
 
Was halten Sie von der Zumutbarkeit der Eingliederung?
Die Zumutbarkeit der Eingliederung ist viel zu eng gefasst, da vorgeschlagen ist, dass man praktisch alle Arten von Jobs annehmen muss. Werden Beschäftigungsprogramme eingeführt, stellt sich bei deren längerer Dauer das Problem der Zwangsarbeit, welches zum einen verfassungswidrig ist und zum anderen internationalen Verträgen widerspricht. 
 
Wie sieht es mit der Kostenfrage in den IV-Diskussionen aus?
Die Kostenfrage bleibt mit den Vorschlägen zur 5. IV-Revision ungelöst und der Abbau des Schuldenbergs wurde gar nicht angegangen. Mit der Streichung der Zusatzrenten oder des Karrierezuschlags als Kompensation für einen erschwerten Zugang zu Karrieremöglichkeiten werden die Schwächsten getroffen, nämlich Geburts- und Frühbehinderte. Aber auch viele behinderte Frauen, welche in der Regel über weniger gut qualifizierte Ausbildungen verfügen und gegenüber den Männern in tieferen Lohnsegmenten arbeiten. Nach dem Wegfall der Minimalgarantie für Taggeld werden Behinderten die Ausbildungsmöglichkeiten erschwert oder es muss oft Sozialhilfe beansprucht werden. Mit der jetzigen materiellen Diskussion spart man nur wenig Geld, schafft noch mehr Stellen, die mehr kosten, und das Resultat durch weniger Neurenten wirkt sich erst 2010 bis 2012 aus. So lange kann man aber mit der Sanierung nicht zuwarten, sonst wird der AHV-Fonds gefährdet. 
 
Wie könnte der Schuldenberg der IV abgebaut werden?
Als Ansatzpunkte stehen eine höhere MWST, höhere Lohnbeiträge oder allgemeine Bundesgelder im Mittelpunkt. Die IV-Prämien wurden im Gegensatz zu anderen Prämien seit 1995 nicht mehr erhöht. Wenn man den Stimmbürgern klar machen kann, dass eine Erhöhung des Lohnbeitrages um ein Promille für ein Durchschnittseinkommen nicht mehr bedeutet als einen Kaffee und ein Gipfeli pro Monat, dann dürfte der Widerstand allerdings gering sein. Aber die Erhöhung der Lohnpromille dürfte nicht ausreichen. 
 
Welche Prioritäten setzen Sie als Co-Präsidentin des Gleichstellungsrates im laufenden Jahr?
Leider ist die Frage der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung durch die IV-Revision stark in den Hintergrund gerückt. Primär stehen wir als Betroffenenrat der Fachstelle Egalité Handicap als strategische Führung vor, mit der Aufgabe, diese aus Sicht von Menschen mit Behinderung optimal zu beraten und die notwendigen Inputs zu geben. Weiter setzen wir uns mit Fragen um die Behindertengleichstellung in unterschiedlichen Rechtsbereichen auseinander, zum Beispiel hinsichtlich der 5. IV-Revision oder dem Entwickeln eines Handbuches für behindertengerechte Verwaltung. Der Schwerpunkt unserer Medienarbeit ist dieses Jahr dem Thema Arbeit gewidmet.
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