Veröffentlicht am 12.11.2014TEXT: Leila ChaabaneFOTO: Daniel Uhl

Physische und symbolische Mauern

Die Zahl der Flüchtlinge und Asylsuchenden ist mit über 50 Millionen so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die europäischen Staaten sind unterschiedlich stark vom Migrationsstrom betroffen und müssen entlastet werden. Dies fordert Bundesrätin Simonetta Sommaruga.

Schutz und Sicherheit sind in der Bedürfnispyramide des Psychologen Abraham Maslow nach Essen, Trinken und Schlafen, der Menschheit wichtigstes Verlangen. Doch wo steht «Schutz gewähren» in der Hierarchie? An die Menschen, die nicht selten ihr Leben riskieren, um diesen einen Schritt über die Grenze, in ein sicheres Land zu schaffen? Schützen oder wegschauen? Unter diesem Titel fand Anfangs November 2014 die Jahrestagung der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM) im Kulturcasino Bern statt.

Die Sitten der Vorfahren

Während die Welt in den letzten Tagen des 25-jährigen Mauerfalls in Berlin gedachte, erinnerte  Christopher Hein, Direktor des italienischen Flüchtlingsrats, an die vielen symbolischen und physischen Mauern, die unterdessen gezogen wurden. Als Christopher Hein Ende Oktober mit dem Flug von Alitalia aus Algier in Rom landete, gelangten die Passagiere nur durch einen abgesperrten und von zivil gekleideten Beamten überwachten, schmalen Pfad zur Passkontrolle. Kurz davor befindet sich eine Anlaufstelle für Asylbewerber oder Rechtsschutzbedürftige ohne Einreiseerlaubnis oder gültiges Visum. Dunkelhäutige ohne EU-, oder nordamerikanischem Pass mussten sich auf eine Seite stellen, alle übrigen auf die andere Seite. Diese Trennung lief während 10 Tagen unter dem Name «Mos maiorum», zu Deutsch «Die Sitten der Vorfahren». Sie sollte illegale Zuwanderer physisch davon abhalten, einen Rechtsschutzantrag stellen zu können. «Das ist auch eine Art von Mauer, die errichtet wurde», sagte Christopher Hein. Oder wie kürzlich in Bulgarien, das an der Grenze zur Türkei eine Mauer aufzog, um den zunehmenden Flüchtlingsstrom abzuwehren. Und die Spanier, die erneut die Mauer um Ceuta und Melilla, den spanischen Enklaven, in Nordafrika erhöhten, damit Flüchtlinge nicht mehr drüberklettern können. «Von diesen Mauern ist sehr viel weniger die Rede. Dies sind aber die Mauern, die uns heute beschäftigen.» Christopher Hein forderte ein Umdenken: «Eine Globalisierung der Verantwortung, im Unterschied zum Rückzug auf das innere Grenzdenken.» Wie der römische Limes, der Grenzwall gegen die Germanenflut, zeige, habe der Schutz durch eine Mauer, dem Staat nicht viel Glück gebracht.

Kein System ist perfekt

Bunderätin Simonetta Sommaruga wies darauf hin, dass die Schweiz im Rahmen des Dublin-Systems, im Jahr 2014 60 Prozent der hierzulande Asyl Beantragenden, als Flüchtlinge oder als vorläufig Aufgenommene untergebracht habe, und damit die Zahl so hoch sei wie seit langem nicht mehr. 2013 waren es 14 Prozent und 2012 19 Prozent. Der Grundgedanke von Dublin stimme, doch mahnte Simonetta Sommaruga, dass sich gewisse Länder nicht an die Vorschriften hielten, indem sie Asylsuchende nicht registrierten oder ihnen keine menschenwürdige Unterkunft gewährten. «Das geht so nicht.» Die Staaten in Europa seien sehr unterschiedlich von Migrationsströmen betroffen. Mit dem Dublin-System verteilten sich in der aktuellen Situation die Arbeiten sehr unausgeglichen. Portugal habe von 2008 bis 2012 insgesamt 1000 Asylgesuche entgegengenommen. Im Vergleich dazu Schweden, das mit einer ähnlichen Bevölkerungszahl 155 000 aufnahm. Diese enormen Unterschiede verlangten einen Aktionsplan, der das Dublin-System weiterentwickle, um die betroffenen Länder zu entlasten. Dass das Dublin-System Schutzlücken aufweise, zeige das anfangs November ausgesprochene Urteil des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte (EGMR). Dieses untersagte der Schweiz, eine achtköpfige afghanische Familie in das Erstland Italien abzuschieben. Das Urteil werde nun analysiert. «Alle europäischen Staaten und die Europäische Kommission sind jetzt gefordert, diese Lücken rasch und konsequent anzugehen.» In aussergewöhnlichen Zeiten, müssten Staaten, diejenigen Länder mit einem grossen Flüchtlingsstrom, freiwillig im Rahmen des Dublin-Systems entlasten. Zum Beispiel könnten diese Staaten das Asylverfahren selbst durchführen. Klar sei jedoch auch, dass es in einem Bereich, wo Menschen im Fokus stünden, nie ein System geben werde, welches perfekt funktioniere.

Das Mittelmeer als Grab

Wie schwierig es ist, dem Flüchtlingsstrom zu begegnen, zeigt die italienische Operation «Mare Nostrum». Die Seenotrettung hat seit Oktober 2013 rund 91 000 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer geholt. «Mare Nostrum» wurde vor kurzem eingestellt und durch das Projekt «Triton» der europäischen Grenzschutzorganisation Frontex ersetzt.  Vorwürfe an «Mare Nostrum»: «Wir kriegen in der europäischen Union weit über 500 000 Asylbewerber. Die Kriegsmarine wird zum Schlepperverein.» Auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga schliesst nicht aus, dass die Schlepper, im Wissen um die Seenotrettung, bewusst sehr hohe Risiken eingingen. Die Aufgabe von «Triton» ist daher die Verbesserung der Aussenseegrenzüberwachung. Die Schweiz habe angeboten, Hilfspersonen zur Unterstützung von «Triton» hinzuschicken. «Der Übergang, von der Seenotrettung zu einer Überwachung der Aussenseegrenzen ist schwierig.» Doch auch hier stelle sich die Frage: «Was ist die Alternative?», so die Bundesrätin. Für Christopher Hein ist «Triton» in keiner Weise eine Verbesserung von «Mare Nostrum». Es sei zu hoffen, dass das Mittelmeer jetzt nicht noch mehr Menschen zu Grabe trage, betonte er. «Der Akzent liegt wieder mehr auf «Grenzen zu schützen», als auf «Menschen zu schützen».»

Wenn schützen, was? Die Grenzen oder die Menschen? Viele Fragen an der Jahrestagung EKM blieben unbeantwortet. Auch in der Maslowschen Pyramide ist Schutz gewähren, leider nicht unter den menschlichen Bedürfnissen zu finden.

 

 

«Eine Kontingentierung der Asylbewerber wäre unzulässig»

Über eine andere Art von Grenze, wird die Schweiz am 30. November 2014 abstimmen. Ecopop mache Ideen salonfähig, wie Menschen aus unserem Land fernzuhalten seien, sagte Simonetta Sommaruga an der EKM-Tagung. Sie stellte sich deutlich gegen die Initiative.  Diese will die jährliche Nettozuwanderung in der Schweiz auf durchschnittlich 0.2 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung beschränken und mindestens 10 Prozent der staatlichen DEZA-Mittel in Massnahmen zur Förderung der freiwilligen Familienplanung investieren.

Christopher Hein, Direktor des italienischen Flüchtlingsrats, einer Hilfsorganisation mit Sitz in Rom, äusserte sich im Interview mit dem arbeitsmarkt ebenfalls kritisch zur Ecopop-Initiative.

 

Interview Leila Chaabane

Was halten Sie von dieser Initiative?
Die Schweiz hat wie jedes andere Land das Recht, die Zahl der Arbeitsemigranten zu kontingentieren. Das kann aber nicht für die Asylbewerber gelten, die an der Schweizergrenze anklopfen oder in der Schweiz ankommen. Eine solche Kontingentierung wäre absolut unzulässig. Sie stünde im Kontrast mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz. Zudem verstiesse sie auch gegen die europarechtlichen Verpflichtungen, die die Schweiz  über die Assoziierung sowohl zum Schengen, wie zum Dublin System eingegangen ist.

Was wären die Konsequenzen für die Schweiz, wenn die Initiative angenommen wird?
Ich glaube, wir müssen zwischen einem rechtlichen und einem politischen Aspekt unterscheiden. Rechtlich gesehen vermag auch eine Volksabstimmung in der Schweiz nicht völkerrechtliche Verpflichtungen ausser Kraft zu setzen. Ein Asylbewerber kann nicht mit dem Argument, er wäre jetzt die Nummer eins oberhalb der 0,2-Prozent-Quote abgewiesen werden. Dann müsste die Schweiz für sich die Genfer Konvention ausser Kraft setzen und möglicherweise sogar die Europäische Menschenrechtskonvention.

Und politisch?
Der überwiegende Teil der Nichtschweizerbevölkerung sind keine Flüchtlinge oder Asylbewerber. Wenn jemand in die Schweiz zur Arbeitsaufnahme einreisen will, kann dies aufgrund von politischen Forderungen geregelt werden. Aber wie gesagt, es gibt zwei Ausnahmen: Das eine ist die Gewährleistung von Asyl und das andere das Recht auf Familienzusammenführung. Die Einheit der Familie ist ein Grundrecht der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Was bewegt die Menschen zu einer solchen Initiative?
Das ist in erster Linie nicht ein Mangel an Wissen, sondern eine Frage von Ängsten. Das ist wie das Henne-Ei-Problem. Reagiert die Politik auf die Stimmung der Wähler,  oder reagiert die Wählerschaft auf das, was die Politiker vorzeigen. In der Schweiz, wie anderswo, braucht die Bevölkerung Leadership – eine Führung. Diese muss informieren, Themen gut vorbereiten, öffentliche Debatten darüber führen und geduldig denen zuhören, die dagegen sind.

Dürfen wir mehr Menschen aus unserem Land fern halten, um unsere Umwelt zu schützen?
Absolut Nein. Schauen Sie: Wir alle sind bestrebt zu erhalten. Die Schweizer, wie auch die anderen hoch entwickelten Länder, wollen nicht nur ihre Ökonomie und ihre Sozialsysteme bewahren, sondern auch die Zusammensetzung ihrer Bevölkerung. Da muss man den Leuten sehr hart sagen, dass sie nicht beides haben können. Auf der einen Seite von der Globalisierung profitieren und auf der anderen so tun, als ob Ihr euch in der alten Eidgenossenschaft aus dem 15. Jahrhundert einschliessen könnt. Das eine oder das andere.

Das Dublin-System
Das Asylverfahren in der Schweiz ist über die Abkommen von Schengen und Dublin durch die EU-Asylpolitik geprägt. Das Dublin-System schreibt vor, dass ein Asylgesuch nur in einem Dublin-Staat gestellt werden darf. Ist eine asylsuchende Person bereits in einem anderen Mitgliederstaat registriert, wird auf das Asylgesucht nicht eingegangen und die Person, wenn möglich, dorthin überstellt. Die Schweiz ist im Rahmen des Schengen-Besitzstandes auch an diese EU-Rückführungsrichtlinie gebunden.
Quelle Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen EKM