Veröffentlicht am 08.10.2014TEXT: Kathrin FinkFOTO: zvg

Von links: Alain Métral, SEMO-Initiator; Alain Granger, SEMO-Koordinator Romandie und Tessin; Tony Erb, Ressortleiter Arbeitsmarktmassnahmen, SECO; Bernhard Bächinger, SEMO-Koordinator Deutschschweiz.

«Es braucht ein Auffangbecken für die Schulschwachen»

«Semestre de motivation» (SEMO), auf Deutsch Motivationssemester, heisst eine schweizweit verbreitete Massnahme, die Jugendlichen ohne Lehrstelle praktisch weiterhilft. Bernhard Bächinger, Koordinator SEMO Deutschschweiz im Interview.

Bernhard Bächinger, welche Jugendlichen kommen in ein SEMO?
Das sind vor allem die schulisch Schwächeren. Zwar absolvieren auch einzelne Sek A Schüler, die keine Lehrstelle finden, ein Motivationssemester. Aber diese Jugendlichen haben meist ein anderes Handicap.

Was meinen Sie mit Handicap?
Das können Verhaltensauffälligkeiten sein, oder Suchtprobleme mit Cannabis, Alkohol oder mit Videospielen. Auch psychische Probleme, etwa durch eine Scheidung der Eltern oder Depressionen können Gründe sein. Viele dieser Jugendlichen sind sozial benachteiligt, ihre Eltern kennen das Bildungssystem wenig oder sind sogar selbst arbeitslos. Die meisten haben einfach zu wenig Support von Zuhause aus. Früher kamen öfter auch Mädchen aus Kulturen, für die gewisse Berufe tabu waren, ins Programm. Das ist für eine freie Berufswahl natürlich schwierig. Doch ist dies heute seltener geworden.

Aus welchen Gründen entstand das SEMO vor 20 Jahren?
Damals herrschte in der Gegend um Monthey im Wallis eine grosse Jugendarbeitslosigkeit. Das Westschweizer Fernsehen drehte sogar einen Film darüber. Der Initiator des ersten SEMO, Alain Métral, gelangte mit dieser Problematik ans Staatssekretariat für Wirtschaft SECO und hat zusammen mit Tony Erb, Leiter des Ressorts Arbeitsmarktmassnahmen, die Idee entwickelt.

Welche Möglichkeiten hatten Schulabgänger ohne Lehrstelle vor dem SEMO?
Keine Speziellen. Zehnte Schuljahre existierten zwar schon lange, aber eine Massnahme für einen direkten, nicht schulischen Weg in den Beruf gab es nicht. Vielleicht gingen diese Jugendlichen direkt aufs Arbeitsamt. Schulabgänger haben jedoch noch nichts in die Arbeitslosenkasse eingezahlt und daher keinen Anspruch auf Taggelder. Gemäss Tony Erb war das SEMO ursprünglich als vorübergehende Massnahme geplant. Damals hätte niemand gedacht, dass das Motivationssemester nach 20 Jahren immer noch existiert.

Dies könnte auch negativ ausgelegt werden.
Das kann man negativ, aber auch positiv sehen. Im Vergleich mit dem Ausland steht die Schweiz hervorragend im Bereich Jugendarbeitslosigkeit da. Ich sage immer: Nicht alle Kindergärtler sind mit sieben Jahren schulreif. Genauso ist sind nicht alle Schüler, wenn sie mit fünfzehn oder sechzehn die Schule verlassen, bereit fürs Arbeitsleben. Es braucht ein Auffangbecken für die Schulschwachen, die noch nicht reif für den Arbeitsmarkt sind, sowie für solche, die noch nicht wissen, welchen Beruf sie ergreifen wollen. In der Schweiz sind das 15 bis 20 Prozent der Schulabgänger.

Was machen die Jugendlichen nach den SEMO?
Viele finden dank dieser Massnahme den definitiven Einstieg in die Berufswelt. Natürlich brechen einzelne die Lehre vorzeitig ab oder stürzen aufgrund privater Probleme ab. Einige landen später beim Sozialamt. Ich kenne jedoch eine Studie aus dem Kanton Wallis, die aufzeigt, dass SEMO-Teilnehmende die Lehre nicht häufiger abbrechen als Andere.

Kennen Sie typische SEMO-Karrieren oder Berufe?
Nach wie vor gilt die klassische Rollenteilung: Frauen wählen vorwiegend den Dienstleistungs- oder den sozialen Bereich, Männer bevorzugen handwerkliche Berufe. Je nach schulischem Rucksack absolvieren sie eine drei- oder vierjährige Lehre oder zuerst ein Berufsattest, früher Anlehre.

Holen einige der Teilnehmenden die Matura nach?
Für eine Matura fehlen meistens die Grundlagen. Da hätte schon viel früher etwas passieren müssen. In der Regel bleiben die SEMO-Teilnehmenden auf der Stufe der dualen Berufsbildung.

Wieso der Begriff «Motivationssemester»?
Das Staatssekretariat für Wirtschaft wollte einen positiven Namen. Und die einzelnen Programmverantwortlichen möchten mit den Jugendlichen zusammen das Ziel, eine Lehre zu finden, erreichen. Allerdings können die Mitarbeitenden nur jemanden motivieren, der auch motiviert werden will.

Motivationssemester (SEMO)
Programme 2014 laufen in der Schweiz 80 verschiedene SEMO-Programme. 60 davon in der Deutschschweiz, 18 in der Westschweiz und 2 im Tessin. Die einzelnen Programme sind selbständig organisiert und werden grösstenteils über die Arbeitslosenversicherung finanziert.
Voraussetzung Die SEMO-Programme sind eine Kombination von praktischem Arbeitseinsatz, ein bis zwei Tagen Schule pro Woche und intensivem Coaching. Wer an einem SEMO teilnehmen will, muss beim Arbeitsamt angemeldet sein und darf noch keine berufliche Grundbildung abgeschlossen haben. Die Angebote variieren von Kanton zu Kanton und dauern in der Regel sechs Monate.
Statistik Laut einer Umfrage des Staatssekretariats für Wirtschaft bei den einzelnen Programmen fanden in den Jahren 2012 und 2013 29 Prozent der SEMO-Teilnehmenden eine Lehrstelle. 18 Prozent blieben für ein weiteres Semester im jeweiligen Programm, 8 Prozent starteten mit einem Berufsattest. 27 Prozent der Teilnehmenden brachen das Programm ab oder fanden nach Abschluss keine Anschlusslösung. Die restlichen Teilnehmenden fanden entweder direkt eine Arbeitsstelle, machten ein Praktikum oder einen Sprachaufenthalt.