19.01.2016
FOTOS UND TEXT: Jürg Streuli
Ungeliebte Ladenstürmer

Beeindruckende Einkaufsmengen vor dem Aldi in Jestetten.

Einkaufstourismus

Ungeliebte Ladenstürmer

Der starke Franken hat den Kauf von Konsumgütern im Ausland massiv verbilligt. Der Einkaufstourismus aus der Schweiz schadet dem heimischen Detailhandel und führt in Deutschland zu unliebsamen Folgeerscheinungen.

Beschaulich liegt das 5000 Einwohner zählende Jestetten im deutschen Zipfel zwischen Rafz und Neuhausen am Rheinfall. Doch an Samstagen ist es mit der Ruhe vorbei. Dann nämlich herrscht der Ausnahmezustand. Endlose Autokolonnen, zu etwa zwei Dritteln mit Schweizer Verkehrsschildern von ZH bis LU, drängen sich lärmend durch die Dorfstrasse. Für Fussgänger hat die Gemeinde eigens Lichtampeln aufgestellt, damit diese gefahrlos die Strasse überqueren können. Das Ziel der allwöchentlichen Invasion aus der Schweiz sind die Supermärkte von Edeka und Aldi. Der Ansturm ist derart massiv, dass einzelne Artikel zeitweise vergriffen sind, weil die Logistik mit dem Nachschub überfordert ist. Vor insgesamt zehn Kassen reihen sich im Aldi die Käufer dicht an dicht, um den Inhalt der überquellenden Einkaufswagen auf das Laufband zu legen. Die Kassen drucken gleichzeitig mit dem Kassenzettel den Ausfuhrbeleg aus. Vom deutschen Zoll gestempelt, kann damit beim nächsten Einkauf die Mehrwertsteuer vergütet werden. Die Möglichkeit der Rückerstattung bedeutet eine zusätzliche Verlockung.

Zwischen Deutschland und der Schweiz hat es schon immer gegeben, was heute als Einkaufstourismus bezeichnet wird. Dieser schwappt mit den Veränderungen der Wechselkurse im Laufe der Jahrzehnte hin und her. Seit die Schweizerische Nationalbank am 15. Januar 2015 die Stützung des Mindestkurses von 1.20 Franken aufgegeben hat, ist der Kurs des Euro gegenüber dem Schweizer Franken auf zeitweise weniger als einen Franken gesunken. Als Folge davon hat der Einkaufstourismus nach Deutschland massiv zugenommen. Schweizer kauften für fast 11 Milliarden Franken ein, wie die neuesten Zahlen der Credit Suisse belegen. Die Auswirkungen auf die ansässige Bevölkerung sind unerfreulich.

Einheimische meiden die Samstage
Ein Gespräch mit dem Jestetter Bürger Reinhard Reiss demonstriert die Frustration in der Bevölkerung: «Das Einkaufen ist an Samstagen für die Einheimischen lediglich noch kurz nach Ladenöffnung oder vor Ladenschluss erträglich. Viele Bewohner ärgern sich über das Verkehrschaos und die überfüllten Einkaufszentren.» Lange Wartezeiten sind ebenso im Postbüro sowie bei den Abholstellen für die sogenannten Grenzpakete zu verzeichnen. Das sind Pakete von Absendern in Deutschland, die sich den Aufwand für die internationale Spedition für die Kunden in der Schweiz einsparen wollen. Doch liegt die Kostenersparnis ebenso im Interesse der Selbstabholer aus Helvetien.

Die finanziell Leidtragenden sind die Schweizer Händler. Gemäss einer Studie des Forschungszentrums für Handelsmanagement der Universität St. Gallen im Jahr 2015 verliert der Schweizer Detailhandel hauptsächlich in den Branchen Lebensmittel, Drogerie, Bekleidung, Sport und Einrichtung. Doch am stärksten leidet die Lebensmittelbranche. Deren Umsatzabfluss beträgt geschätzte 2,8 Milliarden Schweizer Franken. Die Preisunterschiede sind die grössten Treiber, um jenseits der Grenze einzukaufen. Gemäss der Untersuchung würde erst ein Wechselkurs von 1.40 Franken den Einkaufstourismus unattraktiv machen.

Massnahmen lassen auf sich warten
Auch Ira Sattler, die charmante Bürgermeisterin von Jestetten, ist über die chaotische Verkehrssituation nicht erfreut. «Selbst ich vermeide Einkäufe an Samstagen. Trotzdem sind von amtlicher Seite keine Massnahmen gegen die belastende Situation geplant. Denn über die Gewerbesteuer profitiert Jestetten vom Einkaufstourismus.» Vermehrt will die Gemeinde hingegen die Benützung der Eisenbahn propagieren. Der kürzlich ausgebaute Bahnhof Jestetten mit seinem guten Zugsangebot befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Aldi. Die mit dem öffentlichen Verkehr anreisenden Einkaufstouristen werden jedoch aus praktischen Gründen immer in der Minderheit bleiben. Deshalb hat die Gemeinde Jestetten die vordringliche Aufnahme einer Umfahrungsstrasse in den Bundesverkehrswegeplan beantragt. Die Inbetriebnahme kann allerdings erst in etwa zehn Jahren erwartet werden. Dann wird es möglich sein, den Verkehr auf direktem Weg zu den Einkaufszentren zu lenken, um das Dorfzentrum zu entlasten. In den 1980er-Jahren hatte die Bevölkerung in einer Volksabstimmung den Bau einer Umfahrungsstrasse verworfen.

Ungeliebte Ladenstürmer
Zum Ärger der Lokalbevölkerung wälzen sich jeden Samstag lange Autokolonnen durch Jestetten.

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