14.01.2016
FOTOS UND TEXT: Nora Dämpfle

Hans-Ueli Scherrer gründete die Sozialfirma fiwo 2005. Seither ist der Betrieb ständig gewachsen und verarbeitet heute rund ein Drittel der inländischen Schafwolle.

Arbeitsintegration

Isolationen produzieren und soziale Isolation durchbrechen

Die Sozialfirma fiwo in Amriswil (TG) produziert mit Ausgesteuerten Isolationsmaterial und andere Produkte aus Schweizer Schafwolle, die sonst entsorgt werden müsste.

Ein Geruch hängt in der Luft, nach Schaf, Schafstall, Schafbock, Schafmist. Er intensiviert sich, als Hans-Ueli Scherrer die Türe öffnet – nicht zu einem Stall, sondern zum Sortierraum der fiwo. Scherrer leitet die Sozialfirma bei Amriswil, die nicht nur rund ein Drittel der Schweizer Schafwolle zu Isolationsmaterial verarbeitet, sondern auch 36 Arbeitsplätze, vor allem für Ausgesteuerte, anbietet. 

Im Sortierraum ein Berg aus kunterbunten Plastiksäcken. Aus vielen schauen Wollfetzen heraus. «Hier wird das Rohmaterial angeliefert, gewogen und nach Qualität und Farbe verlesen», erklärt Scherrer. Die Sortierarbeit geschieht an einem Fliessband, welches im Moment aber stillsteht. «Leider ist das keine Ausnahme, bei uns gilt: Die Aufträge stehen, die Mitarbeitenden nicht immer», sagt der Arbeitsagoge. 

100 statt 5 Tonnen Wolle

Bevor er vor zehn Jahren die fiwo, Förderung innovativer Wollverarbeitung Ostschweiz, ins Leben rief, arbeitete Scherrer beim Arbeitsintegrationsverein Kompass. Mit seiner Idee, aus Wolle Isolationsmaterial herzustellen, stiess er bei Handwerkern auf Interesse, und so gründete er die Sozialfirma. 

Der Firmenleiter erinnert sich, wie er damals in der «Tierwelt» ein Inserat aufgab, er suche fünf Tonnen Wolle. Bekommen hat er rund 100 Tonnen. «Damit hatten wir nicht gerechnet. Wahrscheinlich war die Resonanz auf das Inserat auch so gut, weil Schafhalter oft nicht wissen, wohin mit der Wolle.» 

Der eigentlich wertvolle Rohstoff wird in der Schweiz stiefmütterlich behandelt. Denn die Schweizer Schafe haben ein eher grobes Kleid, das nicht besonders für Pullover und Ähnliches geeignet ist. Darum landet ein grosser Teil auf dem Abfall oder wird verbrannt – eine Tatsache, die auch dem Bundesamt für Landwirtschaft nicht behagt. Das BAL subventioniert deshalb die Verarbeitung von inländischer Wolle. Heute verarbeitet die fiwo zirka 300 Tonnen Wolle im Jahr und erwirtschaftete 2015 einen Umsatz von 2,27 Millionen Franken. Die Wolle kommt aus der ganzen Schweiz und wird entweder angeliefert oder bei Sammelstellen abgeholt.Yvonne Scherrer ist ständig im Kontakt mit den zuweisenden Stellen wie Sozialämtern und Stiftungen.

Die Leute aus dem Bett holen

Dort abholen, wo sie stehen, das müssen Scherrer und sein Team auch die Programmteilnehmenden. Eine gute Mischung aus Fingerspitzengefühl und Durchsetzungsvermögen spielt im Umgang mit den Mitarbeitenden eine wesentliche Rolle. «Am Morgen aufstehen? Frühstücken, Termine pünktlich wahrnehmen? Für unsere Teilnehmenden ist oft selbst das eine Herausforderung», erzählt Scherrer. Darum bietet die fiwo verschiedene Beschäftigungsmodelle an. Beim Einstiegsangebot «Taglohn» liegt der Fokus darauf, sich wieder an einen regelmässigen Tagesablauf zu gewöhnen. Teilnehmer lernen, Zeiten ein- und Arbeitstage durchzuhalten. Die fiwo zahlt ihnen den Grundbedarf gemäss Vorgabe der zuweisenden Stelle – oft ist dies das Sozialamt – täglich aus. Arbeitsleistung hat hier eine untergeordnete Priorität. «Was für viele selbstverständlich scheint, ist für unsere Mitarbeitenden, die meist schon sehr lange ohne Arbeit sind, schwierig», sagt Scherrer, der zusammen mit seiner Frau Yvonne und einem Arbeitsagogen die Teilnehmenden begleitet. Dazu gehört weit mehr als die fachliche Anleitung. «Wenn jemand nicht zur Arbeit kommt, was oft geschieht, telefonieren wir, bis wir wissen, warum. Manchmal gehe ich zu den Leuten nach Hause und hole sie aus dem Bett.»

Aufmuntern, beschwichtigen, loben

Kein Schaf-, sondern Siedfleisch steht heute auf dem Menüplan. Das gemeinsame Essen findet der Firmenleiter wichtig. «Mindestens eine warme Mahlzeit pro Tag sollte sein, darum gibt es bei uns diese Form des organisierten Mittagstisches», sagt Scherrer, der zwischen den Teilnehmenden am runden Tisch sitzt. Beim Essen wird deutlich, was Yvonne und Hans-Ueli Scherrer meinen, wenn sie von familiärer Atmosphäre im Betrieb sprechen. Es wird nachgefragt, aufgemuntert, beschwichtigt, gelobt, geschlichtet, motiviert. Die Zurückhaltenden, Wortkargen versucht das Team aus ihren Schneckenhäusern zu locken, die Lauten sachte zu bremsen.

Um den Teilnehmenden Sicherheit zu vermitteln, werden bei der fiwo meistens unbefristete Arbeitsverträge abgeschlossen. Manche fühlen sich so wohl, dass sie nicht mehr wegwollen. «Heute Morgen stand einer unserer ehemaligen Teilnehmenden, ein junger Mann aus Eritrea, vor der Tür und wollte arbeiten. Er wisse nicht, was er sonst machen soll den ganzen Tag lang», erzählt Scherrer. Nun versuche man mit der zuständigen Stelle, eine Lösung zu finden.

Hauptabnehmer des Dämmmaterials, wie hier der Trittschalldämmungsmatte, sind Handwerker. Sie schätzen die Schafwollprodukte wegen ihrer ausgezeichneten Dämmeigenschaften. Zudem ist die Verarbeitung angenehm. Einen grossen Teil der Wolle holt die fiwo bei Sammelstellen in der ganzen Schweiz ab. Rund ein Drittel der jährlich in der Schweiz anfallenden 900 Tonnen Schafwolle wird von der fiwo verarbeitet. Für bis zu 500 Tonnen wäre Kapazität vorhanden. Im Sortierraum hängt gut sichtbar dieses Brett mit Proben der verschiedenen Wollqualitäten. Weisse langfaserige Wolle eignet sich besser für die Duvetherstellung, kurzfaserige, bunte und sehr grobe eher für Isolationsprodukte. Ist die Wolle sortiert, wird sie in Gebinden von rund 250 Kilo verpackt. 72 solcher Ballen, rund 18 000 Kilo, umfasst eine Fuhre zur Wäscherei in Strengelbach (AG). Die Abfälle – durch Mist, Urin und Einstreuresten stark verschmutzte Wollfetzen –wandern nicht etwa in den Müll. Aus ihnen wird in dieser Pelletiermaschine wertvoller Dünger für Nutz- und Zierpflanzen hergestellt. Wenn die gewaschene Wolle wieder in Amriswil angekommen ist, wird sie als Erstes entstaubt und mit einem kleinen Anteil Recyclingwolle vermischt. Je nach Produkt kommen noch synthetische oder natürliche Stützfasern hinzu. Ein Gebläse transportiert die Wollflockenmischung zu dieser Maschine. Sie verteilt die Fasern gleichmässig und formt sie zu dünnen, wolkigen Schichten. Die Wolle wird von dieser Maschine in lockeren Bahnen übereinandergeschichtet. Im nächsten Arbeitsschritt kommt ... ... das flauschige Schichtwerk in den Thermoofen ... ... und auf der anderen Seite als genadelter Filz mit einer Dicke von drei bis zehn Millimetern wieder hinaus. Dämmplatten werden in verschiedenen Ausmessungen produziert. Bei grösseren Aufträgen auch auf Kundenwunsch. Was nach dem Zuschnitt übrigbleibt, wird einfach wieder in die Produktion eingespeist. Abfall, der entsorgt werden müsste, entsteht auch hier keiner. In dieser Produktionshalle werden alle Isolationsmaterialien hergestellt. Nicht immer laufen alle Maschinen, wie sie sollten ... ... wallende Wollmassen sind das Ergebnis. Fast fertig: Nur noch ein stabilisierendes Fadennetz fehlt, dann kann der Dämmzopf aufgewickelt werden. Rund 250 Meter befinden sich auf einer Rolle. Der Dämmzopf ist im Verkauf ab 11.90 Franken pro Kilo zu haben und wird zum Beispiel zur Isolation von Fenster- und Türrahmen gebraucht.
Fotos: Nora Dämpfle

Für andere läuft das Programm auf eine längerfristige Beschäftigung hinaus, weil eine Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt nicht mehr Ziel ist. Trotz allen Bemühungen sei es oft so wie heute: «Aktuell haben wir 22 Teilnehmende, davon sind 7 heute anwesend», sagt Hans-Ueli Scherrer auf dem Weg in die Produktionshalle. Auch wenn die Firma mit fünf Vollzeitkräften ihre Aufträge bewältigen könnte, ist es darum nicht immer einfach, die Waren termingerecht fertigzustellen. «Die Begleitung der Teilnehmenden und die Produktion stehen im Vordergrund. Andere Dinge wie gründliches Putzen bleiben da auf der Strecke», sagt Scherrer und deutet auf den feinen Wollstaub, der wie Wölkchen auf den Maschinen liegt. 

Tiefe Strukturkosten, tiefe Auslastung

Wieder Schafgeruch, aber deutlich angenehmer, kein Bock mehr, kein Stall. In der Produktionshalle wird die gewaschene Wolle zu Dämmplatten und -zöpfen, Blockhausvlies und Einblasdämmung verarbeitet. Die Produktion läuft trotz geringer Besetzung auf Hochtouren, 300 Quadratmeter Trittschalldämmung müssen fertiggestellt werden. 

«Wir sind von den Plätzen her eigentlich nie ausgebucht, obwohl wir im Vergleich mit Beschäftigungsprogrammen relativ günstig sind.» Das «Taglohn»-Programm kostet 50 Franken pro Tag, das Basis-Programm 650 Franken pro Monat. Die zeitweise bescheidene Auslastung der Firma, die eine Non-Profit-Organisation ist, macht Scherrer in seiner Zukunftsprognose für das Unternehmen skeptisch. «Dabei sind wir in der Schweiz konkurrenzlos und finanzieren uns zu über 80 Prozent durch unsere Produkte und Spendengelder. Aufträge haben wir genug.»

Wer die Anforderungen des «Taglohn»-Programms bewältigt, kann zum Basis-Programm wechseln. Hier ist der Fokus stärker auf die Arbeitsleistung gerichtet. Zusätzlich werden die Teilnehmenden bei ihren Stellenbewerbungen unterstützt, können diese während ihrer Arbeitszeit bei der fiwo im Büro schreiben. Regelmässig finden Standortgespräche satt. Beim Basis-Plus-Programm schliesslich ist die Integration in den ersten Arbeitsmarkt oberstes Ziel. Rund 30 Prozent der Teilnehmer erreichten in den vergangenen Jahren dieses Ziel und fanden eine unbefristete Festanstellung.

Neben ausgesteuerten Personen beschäftigt die fiwo Menschen in der IV-Abklärung, bei denen festgestellt werden soll, welche Arbeiten sie zukünftig mit ihren Einschränkungen noch leisten können. Ebenfalls ein kleiner Teil der Beschäftigten sind Flüchtlinge aus diversen Ländern.Bei den Sortierarbeiten wird die Wolle nach Farbe, Qualität und Verschmutzungsgrad sortiert.

Wenn die Kraft fehlt

Im Sortierraum läuft das Fliessband nun doch. Vier Teilnehmer sortieren am Band die Wolle. Einer von ihnen ist Ruedi Saner (Name geändert). Er ist seit fünf Monaten bei der fiwo und hat sich in dieser Zeit gut eingelebt. Zuerst noch zögerlich erzählt Saner: Wegen Arthrose und anderer gesundheitlicher Einschränkungen könne er seinen Beruf als Landschaftsgärtner nicht mehr ausüben. Nach mehrfachen Spital- und Reha-Aufenthalten nahm er an einem Beschäftigungsprogramm teil, dann kam er zur fiwo. «Bis jetzt stimmt das hier für mich. Ich hatte auch noch mit niemandem ernsthafte Differenzen. Anderswo war das nicht so», sagt Saner, der ohne Schmerzmittel nicht durch den Tag kommt. Er lächelt. Saner kann nur noch Teilzeit arbeiten. Tätigkeiten, die Kraft erfordern, liegen gar nicht mehr drin. «Meist bin ich hier in der Wollannahme und beim Sortieren. Riecht nicht so gut hier», sagt er und zieht die Nase kraus. «Aber ich habe mich daran gewöhnt.»