03.06.2015
FOTO UND TEXT: Ines Schöne
Stefan Selke

Warum es uns reizt, unseren Alltag aufzuzeichnen, erklärte Stefan Selke am 1. Juni 2015 in Zürich.

Digitales Logbuch

Robinson Crusoe 2.0

Kleinste Sensoren, einfache Apps und grosse Datenspeicher machen Lifelogging für jedermann möglich. Wie moderne Robinson Crusoes protokollieren wir unser Leben. Die Grenze ausloten zwischen Spass und Ernst, Optimierung und Überwachung ist das Spezialgebiet des Soziologen Stefan Selke.

Was war das Erste, was Robinson Crusoe auf der einsamen Insel tat? Er machte sich morgens eine Aufgabenliste, die er abends auswertete. Das Soll und Ist seines Lebensprotokolls – auch Lifelog genannt – war geboren.

Erfassen, speichern, visualisieren und auswerten – was bei der Romanfigur Robinson Crusoe im Kopf passierte, erledigt für uns heute die App auf dem Smartphone. Das Prinzip ist dasselbe, sagte der Soziologe Stefan Selke bei seinem Vortrag zum Thema Lifelogging am 1. Juni in Zürich: Die Gesellschaft ist immer da, in Form von Normen, auch wenn wir allein sind. Wie wir diese Normen festlegen und wie wir digitale Vermessungstechnik einsetzen, zeigte der Soziologieprofessor und Buchautor an zahlreichen Beispielen – harmlosen und bedenklichen.

App registriert Leistung

So hat der heutige Robinson Geräte und Programme zur Auswahl, um seine Fitness zu messen und Fortschritte zu protokollieren. Bei einer Velotour registriert er Kalorienverbrauch, Herzfrequenz und Schlafzeiten. Er sieht, wie viel Prozent der Strecke er über Geröll gefahren ist. Seine App zeigt ihm, an welchem Tag er am wenigsten geleistet hat. Den Grund kennt er aber auch ohne seine App – er hatte Alkohol getrunken und zu wenig geschlafen. Braucht der Freizeitsportler also die Gewissheit des Lifelogs für sein Körpergefühl, oder macht er sich von der Technik abhängig?

Stefan Selke (47)

ist Professor für Soziologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (D). In seinem 2014 erschienenen Buch «Lifelogging. Wie die digitale Selbstvermessung unsere Gesellschaft verändert» stellt er die Wegbereiter des digitalen Protokollierens vor und zeichnet ein genaues Bild der Gesellschaftsbereiche, die sich verändern werden, zum Beispiel Beziehungen, Kriminologie und Bildung.

Gefahr digitale Sklaverei

Nicht nur der Einzelne nutzt digitale Technik, um sein Leben aufzuzeichnen. Auch Unternehmen können die Geschwindigkeit messen, mit der Mitarbeitende einen Brief am Computer schreiben. Mit Hilfe einer Software kann aufgezeichnet und ausgewertet werden, wie dieser am Telefon spricht. Dies lasse Rückschlüsse auf sein Verhalten zu, erklärt Stefan Selke. Einige Programme gehen sogar so weit, dass sie einfache psychologische Gutachten erstellen, indem sie die Abweichung von einer Norm messen. Digitale Sklaverei könnte real werden, und wir wären zurück in einer Gesellschaft wie der des Romanhelden.

Ethisch vertretbare Überwachung?

Eine besondere Anwendung des digitalen Human Tracking – der Aufzeichnung menschlicher Bewegungen – zeigte der Soziologe am Beispiel aus der Medizin. Ein Pfleger kann neben auffälligen Gurten oder Fussfesseln einem Demenzkranken auch Socken mit einem Sender anziehen. Geht der Patient spazieren und verläuft sich, kann die Station den Sender orten und ihn abholen. Die Technik erleichtert die Arbeit und gibt allen Beteiligten Sicherheit. Aber ist die Überwachung ethisch vertretbar? Diese Frage stellte Stefan Selke in den Raum und überlässt es der Philosophie, sie zu beantworten.