27.05.2015
TEXT: Katja ImmeFOTO: ZvG

Margrit Stamm inmitten ihres Forschungsteams des Instituts Swiss Education.

Potenzial der Generation 60+ nutzen

Viele Talente und Ressourcen der Generation der Babyboomer bleiben ungenutzt. Zu diesem Schluss kommt «Talent Scout 60+». Die Studie räumt mit Vorurteilen auf und fordert einen Perspektivenwechsel.

Älter werden muss nicht unbedingt heissen, sich auf die faule Haut zu legen. Im Gegenteil: Viele Menschen über 60 verfügen über Talente und Wissen, die sie gerne einsetzen würden. Dies zeigt die Studie «Talent Scout 60+» des Forschungsinstituts Swiss Education in Bern.

Hauptziel der Studie war es, die Talente und Expertisen der Teilnehmenden zu erfassen. Obwohl nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung der Schweiz, seien die Erkenntnisse wertvoll, so die Autoren. Denn die Studie räumt mit Vorurteilen auf: Die Pensionierung wird nicht länger als Beginn des Restes vom Leben empfunden, sondern als Start in einen neuen Lebensabschnitt. Demnach verfügen 31 Prozent der befragten 60 bis 65-Jährigen (siehe Kasten) in einem der sieben Bereiche – Kunst, Intellekt, Sozial, Sport, Spirituell, Handwerk, Natur – über weit überdurchschnittliches Wissen und Können. Für 36 Prozent trifft dies sogar auf mehr als einen Bereich zu. Die bittere Pille dabei: Diese Talente und Expertisen werden bisher nur rudimentär genutzt.

Bild vom Alter ist veraltet

Margrit Stamm, emeritierte Professorin der Universität Freiburg und Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education, stellt fest, dass unser Bild vom Alter durch zwei Stereotype geprägt ist. Zum einen würde Alter mit Schwäche gleichgesetzt. Demgegenüber stünde ein Jugendwahn, Ausdruck des «Nichtannehmenwollens» des Alterns. «Dazwischen liegt wohl die Realität», sagt die Studienautorin. Das kalendarische Alter sei sowieso keine taugliche Klassifizierung. «Da die Menschen immer älter werden, und dazu länger gesund bleiben, haben sich deren Bedürfnisse geändert.»

Alte sind unterfordert

Wie die Resultate der Studie «Talent Scout 60+» weiter zeigen, würden Pensionierte ihre Talente gerne nutzen: 

  • 32 Prozent wollen sich nachberuflich neu engagieren
  • 15 Prozent wollen in ihrem Beruf weitermachen
  • 11 Prozent möchten Verpasstes nachholen
  • 42 Prozent wünschen, befreit den Ruhestand zu geniessen.

Weniger als die Hälfte entspricht also dem landläufigen, einseitigen Bild. Bezeichnenderweise sind Männer unter denen, die sich Befreiung wünschen, häufiger vertreten. Der Anteil von Frauen ist den ersten drei Bereichen höher. Die Autoren vermuten, dass Frauen oft wegen Familien-Engagements gebrochene Biografien haben, und deshalb etwas nachzuholen haben.

«Fakt ist, dass über die Hälfte der Alten unterfordert ist, weil sie ihr Talent nicht entfalten kann, da diese Ressource nicht nachgefragt wird. Über diese Babyboomer war diesbezüglich wenig bekannt, weil sich die Begabungsforschung bisher auf Kindheit und Jugend beschränkte», sagt Margrit Stamm. Das hat die Studie nun korrigiert.

Perspektivenwechsel ist nötig

Allein die Frage nach einer Flexibilisierung des Pensionsalters führe nicht weit genug. Margrit Stamm fordert ein öffentliches Umdenken: «Wir müssen andere Blickwinkel einnehmen, mit Vorurteilen aufräumen, hin zu einer Alterskultur, welche die Generation 60+ als Impulsgeberin mit besonderer Bedeutung für den Transfer von Wissen und Können versteht. Dazu reicht es nicht, die Studienergebnisse wahrzunehmen. Man muss auch etwas tun.».

Margrit Stamm hat die Idee, Kantone könnten als eine Art Manifest «Altersleitbilder» formulieren. «Sie tun damit einen ersten Schritt zu einer systematischen Vernetzung bestehender Angebote von Organisationen wie Pro Senectute mit privaten Initiativen à la seniorweb, kleineren Unternehmen und Gemeinden.»

Zudem sei ein systematisches Age-Management in Unternehmen und Organisationen nötig. «Um die Potenziale Älterer auszuschöpfen, braucht es mehr Möglichkeiten zu flexiblen Arbeitspensen, zur Beschäftigung über die Pensionierung hinaus, gerade auch für Frauen.» Den Beispielen etwa von ABB und SBB müssten weitere folgen.

Margrit Stamm macht sich aber keine Illusionen. Sie befürchtet, das Interesse an den Studienergebnissen könne sich als Strohfeuer erweisen. «Es wird wohl erst wieder auflodern, wenn der Leidensdruck hoch genug ist, das heisst die Expertise der Babyboomer – wegen des Fachkräftemangels – gebraucht wird.