18.10.2016
FOTOS UND TEXT: Barbara Camenzind

Voller Einsatz auf der Seitenbühne: Soufflieren ist ein Traumberuf.

Die Opern-Souffleuse

Gute Fee mit Nerven 

Retten, bevor die Oper aus der Kurve fliegt: Die Aufgaben einer Souffleuse sind im Musiktheater viel weiter gefasst als im Schauspiel. Eine Selbsterfahrung bei den Endproben zu «Le nozze di Figaro» von Mozart am Stadttheater St. Gallen.

Es ist 19 Uhr, das Orchester hat gestimmt, die Ouvertüre zu «Figaro» beginnt. Das ist der Point of no Return, der Opernzug rollt. Ich sitze in der sogenannten Nullgasse beim linken Bühnenrandportal. Eine Generalprobe ist immer ein Hürdenlauf. Die Sängerinnen und Sänger sind angespannt und blicken mir über die Schulter in die Noten. Seit dieser Spielzeit bin ich die neue Opern-Souffleuse am St. Galler Stadttheater. Aussertourlich, denn eigentlich war für Mozarts Oper «Le nozze di Figaro» niemand vorgesehen, der diesen Job macht.

Das Musiktheater, an sich schon teuer genug, muss sparen. Doch bei «Figaro» haben sich die Sänger durchgesetzt. Die Oper ist lang, und es ist in den Sprechgesangspassagen, Rezitative genannt, unendlich viel Text zu bewältigen. Ich liebe das Theater. Da ist auch im Zeitalter der modernen Technik viel Handwerk gefordert. Die Sängerinnen und Sänger arbeiten hart, um ihren Schöngesang mit den szenischen Herausforderungen in Einklang zu bringen. Die Bühnenmeister arbeiten mit Seilzügen, die aus der Karavellenseglerei des 18. Jahrhunderts stammen. Die meisten Kostüme entstehen in Handarbeit, und das Orchester sitzt im Graben und spielt unverstärkt. Der gnadenlose, aber geniale Taktgeber ist Wolfgang Amadeus Mozart, mit seinem Advocatus Diaboli, dem Dirigenten.

Von der Sängerin zur «Maestra suggeritore»

Seit dem 18. Jahrhundert ist die Souffleuse dafür zuständig, dass im Theater niemand Textschwierigkeiten bekommt. Der Begriff «Souffleuse» meint «Einbläserin» und stammt aus der Kirchenmusik. Die meist auswendig singenden Scholaren brauchten Unterstützung. Zudem war der damals meist männliche Souffleur noch für die Blasebälge der Orgel zuständig. Daher der Name. 

Heute ist Soufflieren ein Frauenberuf. Das hat zwei Gründe. Erstens: Es gibt keine Ausbildung dazu, die Karrierechancen sind gleich null. Zweitens: Frauen verfügen über eine feinere Beobachtungsgabe und können besser antizipieren. Das heisst, ich muss es schon im Voraus ahnen können, wenn in den Köpfen auf der Bühne die grosse Leere beginnt. Dann schreite ich ein. Am besten so, dass es das Publikum nicht merkt. Wir Opernsouffleusen werden daher «Maestra suggeritore» genannt. Die Aufgaben sind weitreichender als beim Schauspiel. Wir müssen Noten lesen können, am besten eine Kapellmeisterausbildung absolviert haben, mehrere Sprachen beherrschen oder sind lange Jahre als Sängerin selbst auf der Bühne gestanden. 

Alles klar? Verständigung mit «Barbarina».

Das Musiktheater unterscheidet sich in ein paar wesentlichen Punkten vom Schauspiel: Die Regie muss der Musik folgen. Die Arbeitsweise ist höchst undemokratisch. Der Mann mit dem Taktstock ist der Boss. Sonst geht es nicht. Die Souffleuse ist also eine wichtige Schnittstelle zwischen Kapellmeister, Bühne und dem Cembalisten, der die Rezitative begleitet. 

Die Augen überall

Das erste Duett läuft. Zum Glück ist Figaro ganz in meiner Nähe, er sieht meine Hand. Die schwierigen Einsätze meistert er ohne Probleme. Dann die vertrackten schnellen Rezitative, alles auf Italienisch: Kurz vor dem Einsatz gebe ich das Stichwort, notfalls singe ich auch hinein, falls sich jemand in der Tonart vertut.

Ich muss höllisch aufpassen, den Faden nicht zu verlieren. Hochkonzentriert arbeite ich mit einem Auge auf dem Buch, einem Auge auf der Bühne. Schielen zu können, kann hier von Vorteil sein. 

Mit der Zeit kennt jede Souffleuse die «Pappenheimer», die viel Unterstützung brauchen. Zum Glück kann ich das Stück fast auswendig. Schnell helfe ich noch einer Sängerin, der das Kostüm verrutscht ist. Allen Klischees zum Trotz, Kollegialität wird in der Oper grossgeschrieben. 

Reine Nervensache 

Meistens passiert hinter der Bühne mehr als auf der Bühne. Das Publikum bekommt davon wenig mit, es sei denn, etwas läuft schief. Vom Schnürboden fällt der falsche Nesselvorhang, die Darsteller vergessen ihren Auftritt – oder verhaspeln ihren Text. Für Ersteres ist der Bühnenmeister verantwortlich, fürs Zweite die Inspizientin, die den Ablauf leitet, und für Letzteres ich. Die Zeiten, als die Souffleusen in einer Art Kasten im Fadenkreuz zwischen Dirigent und Sängern sassen, sind in St. Gallen längst vorbei. Das ist dem modernen Regietheater geschuldet; es wird gerannt, geklettert und gekrochen. An meinem Platz gleich hinter dem Vorhangzug unterstütze ich den Dirigenten, der im Septett unmöglich allen Sängern Einsätze geben kann. Über Bildschirm ist er mir zugeschaltet. 

Kurz nach 22 Uhr, das grosse Finale beginnt. «Contessa, perdono», singt Graf Almaviva im schönsten Pianissimo. Es friert mich jedes Mal. Die Generalprobe ist gelungen, die Sänger bedanken sich bei mir. Ich gebe ihnen Sicherheit, auch wenn sie mich nicht brauchen. Das ist ein wunderbares Gefühl.