28.06.2017
FOTO UND TEXT: Fabian Jeker
Verkehren bald führerlose Züge auf dem Schweizer Schienennetz?

Verkehren bald führerlose Züge auf dem Schweizer Schienennetz?

Automatisiertes Fahren

Eisenbahn 4.0 im Test

Die Schweizerische Südostbahn (SOB) strebt ein Pilotprojekt für das automatisierte Fahren im offenen Schienennetz an. Verkehren bald Züge ohne Personal im täglichen Betrieb? Verschwindet der Traumberuf Lokführer?

Beim Begriff «Automatic Train Operation» denke ich sofort an meine Modellbahnanlage. Dort werden Züge ohne Lokführer durch die Digitalzentrale ferngesteuert. Die mitreisenden Plastikfiguren sind dem Willen meiner für sie unsichtbaren Hand ausgeliefert, die nach Lust und Laune in die Fernsteuerung eingreifen kann. An wen können sich die Reisenden im Ereignisfall noch wenden, wenn kein Personal mehr im Zug anwesend ist?

Markus Barth, Leiter Infrastruktur der Schweizerischen Südostbahn (SOB) und gelegentlich als Lokführer auf SOB-Regionalzügen unterwegs, beruhigt: Geisterzüge auf dem Schweizer Schienennetz seien sicher nicht beabsichtigt. Das Pilotprojekt der SOB zielt auf die Automatisierungsgrade 2 und 3 (siehe Kasten), bei denen sich weiterhin Personal im Zug befindet. Das Projekt ist auch keineswegs Spielerei für ältere Herren ohne Modellbahn. Es geht darum, in Zusammenarbeit mit der Industrie Erfahrungen mit dem automatisierten Fahren im Mischverkehr – manuell und automatisch gesteuerte Züge – auf dem offenen Schienennetz zu sammeln. Vom automatisierten Fahrbetrieb verspricht sich die SOB die folgenden Vorteile:

  • Bessere Ausnutzung der bestehenden Infrastruktur und deutliche Kapazitätssteigerungen durch kürzere Fahrzeiten und optimale Disposition der Züge;
  • Steigerung der Zuverlässigkeit durch Erhöhung der Pünktlichkeit und Verfügbarkeit der Züge;
  • Zeitgewinn durch die Automatisierung von Prozessen beim Wenden und bei der Inbetriebnahme, womit möglicherweise Zugskompositionen im Umlauf eingespart werden können;
  • Energieeinsparung und Verschleissreduktion an der Infrastruktur durch ressourcenschonendes Fahren;
  • Erhöhung der Sicherheit durch Verhinderung überhöhter Geschwindigkeiten und des Überfahrens von Rotlichtern;
  • Verbesserung des Kundenservice, da das Zugpersonal vermehrt für die Kundenbetreuung zur Verfügung steht.

Ein Projektteam von zehn Mitarbeitenden ist mit den Vorbereitungsarbeiten betraut, wobei alle Beteiligten nur einen kleinen Teil ihrer Pensen für das Projekt aufwenden. Für die Ausschreibung des Pilotprojekts hat die SOB beim Bundesamt für Verkehr einen Finanzierungsantrag in der Höhe von 850 000 Franken eingereicht. Die effektiven Kosten lassen sich laut Markus Barth jedoch erst nach der Ausschreibung anhand der Offerten aus der Industrie abschätzen. Die Ausschreibung des Pilotprojektes ist bis Ende 2017 vorgesehen, die Vergabe für Mitte 2018. Die Ausrüstung der Fahrzeuge soll 2019 erfolgen, womit der Pilotbetrieb 2020 starten könnte. Ein kommerzieller Einsatz ist frühestens im Zeitraum 2023 bis 2025 denkbar.

Weg der kleinen Schritte in Abstimmung mit Partnern
Warum strebt gerade die SOB als regional verankerte Bahngesellschaft ein Pilotprojekt des automatisierten Fahrbetriebs an? Die SOB versteht sich als Mobilitätsdienstleisterin, die zu Innovationen im öffentlichen Verkehr beitragen will. Sie verfügt zwischen Mogelsberg und Nesslau-Neu St. Johann (siehe Karte) über eine geeignete Teststrecke von rund 20 Kilometer Länge mit sieben Stationen und dem Bahnknoten Wattwil. Die Strecke ist mit modernsten elektronischen Stellwerken und einer Betriebsleitzentrale ausgerüstet.

Eine Einzäunung der Strecke ist gemäss Markus Barth nicht notwendig. Abschrankungen in den Bahnhöfen wären im Mischverkehr auch gar nicht möglich. Das grösste Risiko stellten Bahnübergänge dar. Auf der vorgesehenen Teststrecke existieren nur wenige Bahnübergänge. Im täglichen Betrieb sind modernste Fahrzeuge im Einsatz. Mit Wattwil besteht die Möglichkeit, das System auch in einem Bahnknoten zu testen. Zwischen Mogelsberg und Brunnadern-Neckertal wurde im Auftrag des Bundesamts für Verkehr bereits das nationale Pilotprojekt für Breitbandkommunikation im Bahnverkehr «Leaky Feeder Corridor» installiert. Dieses erlaubt Highspeed-Kommunikation zwischen den Zügen und 4G-Verbindungen für die Fahrgäste.

Pilotstrecke im Toggenburg. Grafik: Doris Urfer (Karten von geodata ©swisstopo und Schweizer Weltatlas ©EDK, 2017)
Pilotstrecke im Toggenburg. Grafik: Doris Urfer (Karten von geodata ©swisstopo und Schweizer Weltatlas ©EDK, 2017)

Doch wählt die SOB keinesfalls den Alleingang. Das Projekt ist mit den Partnern im Verband öffentlicher Verkehr abgestimmt. Um die technischen und finanziellen Risiken zu minimieren, wurde ein pragmatischer Weg der kleinen Schritte gewählt. Das Projekt baut auf der bestehenden Infrastruktur mit dem «ETCS Level 1 LS» («European Train Control System Level 1 Limited Supervision») auf.

Für die technologische Entwicklung ist die Industrie zuständig, Vorgaben und Implementierung liegen in der Verantwortung der Bahnen. Um teure Teillösungen der Industrie zu verhindern, haben die Bahnen gemeinsame Schnittstellen definiert. In der Vorbereitung des Pilots stand die SOB in regem Kontakt mit der Schweizer Systemführerin SBB sowie mit dem Kompetenzzentrum für automatisiertes Fahren der Deutschen Bahn in Frankfurt am Main. Die SOB wird sich zudem mit den Verantwortlichen der Nürnberger U-Bahn und der RER-A in Paris austauschen.

Die Zukunft des Lokführer-Berufs
Das Berufsbild des Lokführers wird sich in den kommenden Jahrzehnten nachhaltig verändern. Lokführer werden zwar noch längere Zeit benötigt, doch verschiebt sich ihr Tätigkeitsfeld in Phase zwei der Automatisierung zu überwachenden Aufgaben im Führerstand. Auch die Berufe der Kundenbetreuer im Zug und der Zugverkehrsleiter in den Betriebsleitzentralen werden vom technologischen Wandel betroffen sein. Mit fortschreitender Automatisierung nimmt die Monotonie zu. Die grösste Herausforderung besteht daher darin, die Attraktivität dieser Berufsbilder zu fördern und interessante Arbeitsplätze anzubieten. Die SOB erkennt als kleine Bahngesellschaft die grosse Chance, das Wissen der Mitarbeitenden für neue Aufgaben zu nutzen. Beispielsweise könnte das streckenkundige Lokpersonal bei Infrastrukturplanungen beigezogen werden. Jedenfalls bekräftigt die SOB, dass auch beim automatisierten Fahren weiterhin Personal im Zug benötigt und anwesend sein wird. 

Die vier Grade der Automatisierung («Grades of Automation», GoA)

Die «Union Internationale des Transports Publics» (UITP) hat die folgenden vier Grade der Automatisierung definiert:

  • GoA 1: Manuelle Fahrt mit Zugsicherung
  • GoA 2: Automatische Fahrt, wobei Überwachungsfunktionen durch den Lokführer im Führerstand durchgeführt werden (z.B. Gleis frei, Türen zu)
  • GoA 3: Weitestgehend automatischer Betrieb, wobei aber für Störungsfälle immer Personal im Zug ist, das den Zug mit Einschränkungen fahren und sonst fahrgastbezogene Aufgaben wahrnehmen kann
  • GoA 4: Vollautomatischer Betrieb ohne Personal im Zug