09.06.2015
FOTO UND TEXT: Ines Schöne

Noreena Hertz spricht vor 1500 Schweizer Unternehmern am Swiss Economic Forum 2015.

Europäische Wirtschaft

Auf wackligen Beinen

Als fragil betrachtet die britische Ökonomin Noreena Hertz die wirtschaftliche Erholung Europas. Zuversichtlich ist sie trotzdem. Am Swiss Economic Forum 2015 in Interlaken nennt sie fünf Faktoren, von denen die Zukunft Europas abhänge.

Die globale Wirtschaftslage ist so komplex wie schon lange nicht mehr. Auch Europa kann sich stark verändern – muss aber nicht. Wer Veränderungen nicht möge, der mache ab jetzt besser Yoga am Strand, findet Wirtschaftsprofessorin Noreena Hertz. Alle anderen sollten wachsam bleiben.

Zur wirtschaftlichen Entwicklung in Europa in den kommenden 18 Monaten riet die britische Visionärin den Unternehmern am diesjährigen Swiss Economic Forum, keine definitiven Entscheidungen zu fällen. Besser sei es, einen Plan B, C und sogar D in der Schublade zu haben.

Folgende fünf Komponenten können laut Noreena Hertz bis Ende 2016 die grössten Veränderungen in Europa herbeiführen:

  • Schwankender Ölpreis
    Die Prognosen für den Ölpreis reichen von 45 Dollar pro Barrel im Oktober 2015 bis 90 Dollar im Jahr 2016. Europas Wachstum profitiert von einem niedrigen Ölpreis, da es für seine Energieversorgung und sein Transportwesen viel Öl importiert. Ein steigender Preis würde das Wachstum zum Stillstand bringen.
  • Zukunftsweisende Parlamentswahlen
    In Spanien, Polen und Dänemark stehen Parlamentswahlen an, die laut Prognosen die bürgerlichen Zentren entmachten könnten. Linksextreme Parteien stehen für die Rechte von Benachteiligten ein. Rechtsextreme sind tendenziell gegen Immigranten und für einen Austritt aus der Europäischen Union. Jede dieser Wahlen könnte auf Europa grosse Auswirkungen haben.
  • Verschuldetes Griechenland
    Griechenland muss in diesem Monat 1,6 Milliarden Euro Schulden zurückzahlen, ohne dieses Geld zu haben. Entweder die Umschuldung gelingt und das Land nimmt neue Kredite auf. Oder Griechenland geht bankrott und zieht den Euro, die Europäische Zentralbank und die Europäische Union mit in den Abgrund.
  • Bedrohte Sicherheit
    Europa ist laut Sicherheitsexperten zunehmend von Anschlägen militanter Islamisten bedroht. Urbane, vernetzte und damit empfindliche Zentren sind ihre Zielscheiben. Von Russland könnten zudem militärische Angriffe ausgehen, das Land habe mehrfach Invasionen in Estland angedeutet, warnt die Ökonomin.
  • Neue Technologien
    Von den fünf Aspekten sei dies der einzig sichere, sagt Noreena Hertz. Gewaltige Veränderungen auf dem Gebiet der Technologie existieren in allen Sektoren der Wirtschaft. Viele Branchen sind durch die Konkurrenz im Internet vom Markt verdrängt worden. Kinder wachsen mit Bildschirmen auf. Sie seien Mitbenutzer, Youtuber und Multiscreener und hätten ihr eigenes Konsumverhalten, das für «Oldies wie uns» oft nicht verständlich sei. Diese Entwicklung werde sich in gleichem Tempo fortsetzen, ist die Ökonomin überzeugt.

Trotz allem ist Noreena Hertz optimistisch. Europa könne Krisen überwinden, erinnert sie ihre Zuhörer. Im Kollektiv sei es stark, «wenn alle europäischen Länder über ihre Grenzen hinweg denken». Für die Wirtschaft böten sich dabei viele Chancen: «Mit jungen Unternehmen Bündnisse eingehen, in die richtige Technologie investieren und innovative und experimentierfreudige Mitarbeitende fördern» – dies seien gute Massnahmen für die Zukunft.

Noreena Hertz, 47, ist Ökonomin und Bestseller-Autorin. Sie hat mit 18 Jahren das University College London in Philosophie und Wirtschaft abgeschlossen. Mit 21 beriet sie die russische Regierung beim Aufbau der ersten Börse. In den 1990er Jahren promovierte sie über russische Geschäftsbeziehungen während der dortigen Reformen. Heute ist sie Professorin für Entscheidungswissenschaft am University College London. Ihr letztes Buch heisst «Eyes Wide Open: How to Make Smart Decisions in a Confusing World» (2013).