«der arbeitsmarkt» 05/2015TEXT: Tomas HricoFOTO: Denise Ferrarese
Religionswissenschaftler

Wenn Religion auf Wissenschaft trifft

 Als eine der führenden Persönlichkeiten auf dem Gebiet der religionswissenschaftlichen Forschung setzt sich der Universitätsprofessor Christoph Uehlinger schon viele Jahrzehnte sachlich, kritisch und aus unterschiedlichen Perspektiven mit der kulturellen Entwicklung der Religionen auseinander.

Für Christoph Uehlinger könnte der Tag nicht besser beginnen. Zwischen sechs und sieben Uhr morgens lauscht der Frühaufsteher den Nachrichten und danach der Sendung «MP3» im Westschweizer Radio. Das ist Balsam für seine Ohren und eine gute Gelegenheit, unterschiedliche Persönlichkeiten über ihre musikalischen Vorlieben kennenzulernen. Die Leidenschaft für Musik ist jedoch nicht die einzige. Religionswissenschaftliche Themen beflügeln die Sinne des Professors mindestens ebenso stark. Im Laufe der Karriere entwickelte sich der 56-Jährige zu einer Koryphäe auf dem Gebiet der allgemeinen sowie vergleichenden Religionsgeschichte. Seit über zehn Jahren ist er an der Universität Zürich tätig und erforscht als Professor für Religionsgeschichte und Wissenschaft die unterschiedlichsten religiösen Entwicklungen in der Menschheitsgeschichte.

Prägende Erlebnisse

Aus gemischtkonfessionellem Elternhaus stammend und katholisch wohlerzogen, strebte der Maturand nach einem Leben als Mönch in einer ökumenischen Gemeinschaft. Mit 19 Jahren begann er deshalb, katholische Theologie an der Universität Fribourg zu studieren. Als er während des Studiums ein Jahr in Jerusalem verbrachte, entdeckte er seine Faszination für den antiken Orient.

In Israel begegneten ihm Juden unterschiedlichster Herkunft, die in Israel eine Heimstätte gefunden hatten, palästinensische Christen und Muslime sowie westliche und orientalische Kirchen unterschiedlichster Couleur: «Ich lernte das spannungsreiche Nebeneinander mehrerer Weltreligionen und ein buntes Spektrum von religiös bewegten Menschen kennen», erzählt der Forscher gestikulierend und mit fester Stimme. Nicht zuletzt war er von der Vielfalt der Rituale, die sich in Israel verfolgen liessen, hin- und hergerissen. «Diese gelebte Religion fand nicht nur im Kopf statt, sondern beanspruchte mitunter sämtliche Sinne und den ganzen Körper.»

Der Hochschüler erfuhr fern seiner Heimat, wie Israel, Palästina und die Levante über Jahrtausende hindurch Zeugen zahlreicher Kulturkontakte gewesen waren. «Diese zogen nicht nur Hoffnungen, sondern auch konkurrierende Deutungen, Besitzansprüche und Konflikte nach sich.» Die Erfahrungen im Orient flössten dem Studenten grossen Respekt ein, krempelten sein bisheriges europäisch-christliches Weltbild grösstenteils um und drängten ihn Richtung religionsgeschichtliche Erforschung. Er konzentrierte sich darauf, was sich aus archäologischen Befunden, Inschriften und insbesondere antiken Siegelbildern über altorientalischen Kulturaustausch erfahren liess.

Analysierender Verstand

Zurück in der Schweiz ergänzte er sein Theologiestudium um Lehrveranstaltungen in Ägyptologie sowie Altorientalistik, und er fing an, sich fortan mit religionswissenschaftlichen Zusammenhängen zwischen Ägypten, Mesopotamien und dem «Heiligen Land» sowie zwischen altorientalischen Religionen und den Texten der Hebräischen Bibel, des «Alten Testaments», zu beschäftigen. Mit unübersehbarem Stolz erzählt er, wie unter der Leitung seines Lehrers Othmar Keel an der Universität Fribourg eine archäologische Sammlung entstand, die heute als Bibel+Orient Museum bekannt ist.

Der Gelehrte hält kurz inne, richtet behutsam seine Lesebrille und streift sich durch seine lockigen, schwarz-grauen Haare. Gelegentlich prallen Sonnenstrahlen auf sein markantes Gesicht, was ihn jedoch kaum irritiert. Die Begegnung mit seiner Frau hielt ihn schliesslich vom Leben als Mönch ab und führte ihn vollends zur Religionswissenschaft hin. «Ein Religionswissenschaftler muss nicht zwingend religiös sein, um sich mit den Religionen als seinem Forschungsgegenstand befassen zu können.» Die Antwort auf die Frage, ob es eine oder viele Wahrheiten gebe, sei für seinen Beruf irrelevant: «Meine Aufgabe besteht vielmehr darin, religiöse Praktiken und Diskurse zu beobachten, für heilig gehaltene Schriften wie die Bibel, den Koran oder das Buch Mormon vergleichend zu analysieren und aus dem Vergleich Indizien für historische Beziehungen oder strukturelle Eigenheiten zu gewinnen.»

Christoph Uehlingers Studien haben ergeben, dass sich das Bild, das Forscher von der Religion und Geschichte des antiken Israel rekonstruiert haben, nicht immer mit dem deckt, was Gläubige aus den biblischen Texten herauslesen. So gingen früher viele Theologen davon aus, der Gott Israels sei immer bildlos verehrt worden. Heute bezweifelt dies die Wissenschaft aufgrund von Inschriften, Bildern und neuen Lesarten der Bibel immer mehr.

Der Religionswissenschaftler setzte sich nicht nur mit Spuren bildhafter Verehrung des Gottes Israels auseinander, sondern versuchte gleichzeitig, die etappenweise erfolgte Entstehung der biblischen Kultbildverbote historisch einleuchtend aufzuarbeiten. Des Weiteren faszinierte ihn, wie sich das Bewusstsein der Auserwählung und Andersartigkeit Israels unter den Völkern des Vorderen Orients stufenweise entwickelte. In seiner Arbeit verglich er die unterschiedlichen Religionen, deren Traditionen sich getrennt voneinander entwickelten und deshalb Parallelen aufweisen. Zum Beispiel ist die Vorstellung, dass mit einem Messias eine neue, bessere Welt anbrechen und die alte Welt überwunden sein werde, Judentum, Christentum und dem schiitischen Islam gemeinsam.

Provozierende Erkenntnisse

Einer brisanten Frage ging der Wissenschaftler eine Zeitlang besonders eifrig nach: Hatte der Gott Israels einmal eine weibliche Gefährtin namens Aschera? Dies wurde seit den 1980er-Jahren unter Religionshistorikern und Theologinnen kontrovers diskutiert. Die Initialzündung zu der hitzigen Debatte lieferten Malereien und Inschriften aus einer abgelegenen Karawanenstation im nördlichen Sinai. Christoph Uehlingers kühne These, eine judäische Terrakottagruppe aus der Zeit König Hiskijas könnte eine Darstellung Jahwes und seiner Aschera sein, empörte einige Frommgeister unter den Wissenschaftskollegen. Eine Professur an der Universität Fribourg kam nicht mehr in Betracht. Als sich vor zwölf Jahren die Gelegenheit bot, eine Professur für allgemeine Religionsgeschichte an der Universität Zürich anzutreten, ergriff Christoph Uehlinger ohne zu zögern erleichtert diese Chance.

Der Religionswissenschaftler erinnert sich im Rückblick lachend und dankbar: «An meinem ersten Arbeitstag öffnete ich das Fenster meines Büros neben dem Grossmünster und atmete erstmals tief durch, in der Gewissheit, hier wieder frei forschen und denken zu können, von niemandem der Falschgläubigkeit bezichtigt und auch nicht mehr unter Gewissensdruck gesetzt werden zu können.» An seinem Arbeitsort an der Universität Zürich schätzt er den liberalen Geist, die vielfältigen Möglichkeiten der Zusammenarbeit und des Austauschs über Fakultäts- und Disziplingrenzen hinaus. Der Professor für Religionsgeschichte ist auch im Bereich der Asienwissenschaften tätig, arbeitet mit Einrichtungen wie dem Museum Rietberg zusammen und hat zusammen mit einer Kollegin in der universitätseigenen Archäologischen Sammlung eine Ausstellung über Kunstschätze aus Assyrien organisiert. «Durch den Kontakt mit Fachleuten der Islamwissenschaft, der Indologie, Japanologie und Sinologie, der Ethnologie oder der vergleichbaren Rechtswissenschaft hat sich mein Denk- und Diskussionshorizont in den vergangenen Jahren beträchtlich geweitet.»

Gefährliche Deutungen

Die Tätigkeiten des Professors erfordern Konzentration, Durchhaltevermögen sowie Geduld. Setzte sich der Beruf früher aus 50 Prozent Forschungsarbeit und 50 Prozent Lehre zusammen, so wandelte er sich in den letzten Jahren stark. Beträchtlich viel Arbeitszeit investiert Christoph Uehlinger in Verwaltung, Dienstleistungen, Gutachten und die Herausgabe einer international renommierten wissenschaftlichen Publikationsreihe. Für die jüngeren Nachwuchsforschenden findet er trotzdem noch genügend Zeit, berät sie und hält ihnen für ihre eigenen Forschungen den Rücken frei. Der Austausch mit den Studenten ist für den Professor besonders wertvoll: «Mit Menschen zu arbeiten, die mittlerweile jünger sind als die eigenen Kinder, junge Frauen und Männer zu kritischem, analytischem Denken anzuleiten, mit ihnen auch kontrovers über religiöse Gegenwartsfragen diskutieren zu können, ist für mich das grösste Privileg meines Berufs.»

Der Wissenserschaffer ist auch für ungewöhnliche Projekte zu begeistern. Im vergangenen Sommer bestritt er mit einem Kollegen, einer Schauspielerin und Musikern des Tonhalle-Orchesters einen Abend über den Prometheus-Mythos im Rahmen der Zürcher Festspiele. Gemeinsam mit Mitarbeitenden und Studierenden fährt er ab und zu auf Entdeckungsreise. Vor ein paar Jahren war er drei Wochen in der Türkei und in Syrien unterwegs. Im kommenden Sommer wird er während dreier Wochen zusammen mit 30 Studierenden den Iran bereisen und fünf Jahrtausende Religionsgeschichte durchlaufen. 

Anders als der Alttestamentler, dessen Fokus vor allem auf heiligen Schriften des ersten Jahrtausends liegt, beschränkt sich der vergleichende Religionshistoriker nicht auf eine einzige Epoche, Region oder Tradition. Dennoch kann er in der heutigen hochspezialisierten Wissenschaft nicht Experte für alles sein. Er ist sich der Gefahr des «Universaldilettantismus», das heisst, über alles ein wenig und nichts wirklich genau zu wissen, durchaus bewusst. Ein guter Wissenschaftler müsse selbstkritisch sein und nüchtern stets auch die Grenzen seiner Expertise kennen.

An der Zürcher Universität sind für den ehemaligen Bibelwissenschaftler islamische Themen mittlerweile ebenso wichtig geworden wie jüdische oder christliche. Der sogenannte «interreligiöse Dialog» sei zwar kein Geschäft der Religionswissenschaft, sondern ein Anliegen der Religionsgemeinschaften. Gleichwohl habe ein Universitätsprofessor eine Verantwortung gegenüber der Gesamtgesellschaft. Sofern die Umstände es erfordern, soll er auch ausserhalb des Elfenbeinturms in den Medien zu Wort kommen.

Der Gedanke, sich einzig und allein auf eine Büroarbeit im stillen Kämmerlein festzulegen, erscheint dem Religionsexperten nicht sonderlich attraktiv. Schliesslich sei Religion in den vergangenen Jahren zu einem heiss diskutierten Thema in der Öffentlichkeit geworden. «Religion wird heute nicht nur und oft nicht in erster Linie als eine positive Ressource wahrgenommen, sondern auch als Gefahr gedeutet.»

Christoph Uehlingers Lebensgefährtin arbeitet und wohnt nach wie vor in Fribourg, weshalb er fast täglich zwischen Zürich und der Westschweiz hin und her pendelt. Somit nimmt er auch das Schweizer Tagesgeschehen multilingual und aus unterschiedlichen kulturellen Perspektiven wahr. Abseits zu stehen und zuzuschauen, ist für den Professor keine Option. «Sorgen Extremisten und eine simplifizierende Boulevardpresse für Aufruhr, müssen Wissenschaftler durch nüchterne Analysen Spannungen lockern, für gegenseitiges Verständnis und respektvollen Umgang einstehen und so zum sozialen Frieden beitragen.»