«der arbeitsmarkt» 06/2015TEXT: Tomas HricoFOTO: Simone Gloor
Bildungs- und Praxisfirma

Hotels für summende Gäste

In der «avoi» erarbeiten Stellensuchende nicht nur aktuelle Lebensläufe, sondern sie eignen sich auch handwerkliche Fertigkeiten an. Von den Nistkästchen, die hier exklusiv entstehen, profitiert auch die Natur.

Die Kantine der «avoi» ist menschenleer. Es ist kurz nach 14 Uhr, und das Küchenpersonal wäscht gerade ab. Klirrende Geräusche durchdringen die Stille des Speisesaals und vermitteln den Eindruck «Hier wird gearbeitet». Davon zeugen auch mehrere Servierplatten am Buffet mit den selbstgemachten Gebäckstücken, Konfitüren, Chutneys und Schokopuddings. Der Blick von Mirko Slongo bleibt nicht daran haften, sondern geht zur Kaffeemaschine an der Frontseite des Raumes. «Da unsere Köche allesamt zu beschäftigt scheinen, werde ich die Rolle des Kellners übernehmen», schmunzelt der Geschäftsleiter der Bildungs- und Praxisfirma in Niederurnen (GL) und bereitet zwei Tassen Kaffee zu. Kaum haben wir daran genippt, betritt eine Raumpflegerin den Saal. Wie das Gros des Küchenpersonals ist auch sie eine Stellensuchende. «Der Boden ist zwar sauber, aber die Putzfrauen nehmen ihn mehrmals täglich auf.» Seit zwanzig Jahren leitet Mirko Slongo die «avoi» und kennt jeden Winkel des Hauses. Ein Blick auf das Freilager des Firmengeländes mit den Paletten voller Rohmaterialien wie Holz und Metall zeigt, dass die stellensuchenden Teilnehmenden hier nicht nur Leckereien herstellen.

Kreativität fördert Vitalität

Dröhnender Maschinenlärm ertönt aus der Produktionshalle. Drinnen sind ein Dutzend Männer am Bohren, Sägen und Hämmern, oder sie setzen Einzelteile zusammen. Ein Abteilungsleiter ist für Fragen anwesend. Hier entstehen unter anderem Vogelnistkästen und Behausungen für Fledermäuse – eine Spezialität der «avoi». Die Stellensuchenden in der Praxisfirma sind mehrheitlich Personen ohne Lehrabschluss. Nicht so Lukas Landolt. Der gelernte Orgelbauer räumt gerade seinen mit Arbeitsinstrumenten und Holzspänen übersäten Arbeitsplatz auf. «Nach einem Burnout kriegte ich monatelang vieles nicht mehr auf die Reihe. Hier konnte ich mich nach einiger Zeit wieder sammeln», erzählt er, hält kurz inne und lächelt, wobei sich das künstliche Licht in seinen Brillengläsern spiegelt.

Mit sanfter Stimme fährt er fort: «Ich habe hier viel Freiraum bei der Arbeit.» Schilfröhrchen für Wildbienenhotels – eine weitere Besonderheit der «avoi» – zuzuschneiden und deren Kanten exakt zu bearbeiten, gehört etwa dazu. Seine Kreativität bringt er bei der Herstellung diverser Einrichtungsgegenstände, wie zum Beispiel Ordnerregale, zum Ausdruck. Ausserdem wenden sich Teilnehmende an ihn, wenn sie Schwierigkeiten haben, die Werkstattmaschinen zu bedienen. «Mir wurde dafür die Verantwortung übertragen, weil ich mich als gelernter Konstrukteur damit auskenne.» Der 47-Jährige geht zu einer Werkbank und zeigt auf einen fertigen Wildbienenkasten. «Ich könnte die Häuschen dank meines Vorstellungsvermögens ohne eine Bauanleitung zusammenbauen.» 

Wo die Winzlinge hausen

Als Praxisfirma darf die «avoi» Betriebe im ersten Arbeitsmarkt mit ihrem Angebot nicht konkurrenzieren. Sie setzt auf Einzigartigkeit. «Wir stellen unsere Produkte in der Schweiz exklusiv her», erzählt Geschäftsführer Mirko Slongo stolz. Zu den Kunden der «avoi» zählen nicht nur Private, sondern auch Tier- und Naturschutzvereine wie der Glarner Natur- und Vogelschutzverein, der Glarner Biobauernverein sowie Pro Natura, aber auch Jagdgesellschaften und Vereine.

Doch wozu brauchen Wildbienen eigentlich die Kästchen? In ihrer Broschüre moniert die «avoi», dass «immer mehr Lebensräume durch verantwortungslosen Umgang mit der Natur zerstört» werden. Die Nisthilfen sollen Wildbienen ein neues Zuhause geben. Als Entschädigung stellt die Praxis- und Bildungsfirma für die Naturgeschöpfe qualitativ hochwertige Häuschen her. In den rohrartigen Gängen im Innern legen Wildbienen ihre Larven ab, wobei sie darauf achten, diese mittels einer Nektarmembran voneinander abzugrenzen. Dies diene zum Schutz vor äusserlichen Eingriffen, so etwa durch Raubvögel. «Um diese zu täuschen, bohren wir Imitationslöcher über den tatsächlichen Zugängen. Denn diese durchsuchen sie als Erstes», weiss Mirko Slongo. Der gelernte Konstrukteur und Ausbildungsleiter ist selber passionierter Naturfreund. Obwohl Wildbienen keinen Honig produzieren, tragen sie viel zur Erhaltung der Flora und Fauna bei. Sie bestäuben weibliche Pflanzenblüten mit Pollenkörnern und sichern somit ihr Überleben. Über 180 Brutkästen hat die «avoi» in Braunwald und Elm im Kanton Glarus bereits installiert.

Deutschlektionen sind ein Muss

Die Unternehmung vermittelt auch Praktikumsstellen im ersten Arbeitsmarkt. «Wir haben gute Beziehungen zu unterschiedlichen Firmen, beispielsweise in Niederurnen zur Eternit oder zum Spital Glarus sowie zu zahlreichen Gastronomiebetrieben im Glarnerland.» Die Beschäftigungsmöglichkeiten in der «avoi» sind vielseitig: Ob Arbeiten in der Gastronomie, Produktion oder im Textilbereich – die Tätigkeiten dienen als Basis, um die Stellensuchenden auf den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten.

Seit vielen Jahren bietet die «avoi» auch Deutschkurse an. «Es kamen immer wieder auch Stellensuchende zu uns, die überhaupt nicht oder kaum Deutsch sprachen. Wir mussten sie zurückweisen. Deshalb beschloss unser Team, Deutschkurse einzuführen», erinnert sich der Betriebsleiter lebhaft. Mindestens eine Stunde täglich investieren die Teilnehmenden in die Stellensuche. Wann sie das tun möchten, bleibt ihnen überlassen. «Wir bieten Interviewtrainings, bringen den Lebenslauf auf den neusten Stand, thematisieren mit den Teilnehmenden, was in eine Bewerbung gehört, und geben dem Text gemeinsam die nötige Struktur sowie Authentizität.» 

Der ehemalige Orgelbauer Lukas Landolt hat dies schon hinter sich – und einen neuen Berufsweg vor sich: Ihm wurde eine Lehrstelle als Logistiker bei einer Transport- und Logistikunternehmung zugesichert.

 

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