«der arbeitsmarkt» 06/2015TEXT: Ines SchöneFOTO: Simone Gloor
Spezialist für Orientteppiche

Ein echter Perser

Das Teppichknüpfen lernte er Seite an Seite mit seiner Mutter am Knüpfstuhl in Iran. Mit 25 Jahren ein erfahrener Reparateur, wurde er auf dem Bazar in Teheran abgeworben und kam in die Schweiz. Heute führt Abbas Javanmard ein eigenes Geschäft in Zürich, das «Teppichland».

Den Teppich auslegen. Das ist das Erste, was ein frisch vermähltes Paar in Iran macht, wenn es das gemeinsame Haus einrichtet. «Was würden Sie tun, wenn der Fussboden aus Kalk besteht?», fragt Abbas Javanmard rhetorisch. Wer kein Geld für einen teuren Teppich habe, kaufe sich einen grob gewebten Kelim. «Unser Haus war gefüllt mit Teppichen», erzählt er weiter und setzt sich zur Demonstration auf den rotgemusterten Teppich aus der Stadt Buchara, der den Eingangsbereich in seinem Geschäft in Zürich schmückt. «Wir haben keine Polstermöbelgruppen», fügt der 60-jährige Iraner hinzu, und sein Blick macht klar, wofür er sich entscheiden würde, wenn er zwischen Sitzmöbeln und dem Buchara wählen müsste.

Ein Teppich sei das Kernstück eines persischen Haushaltes und fester Bestandteil der Mitgift. Heute finden sich schon mal ein Radio oder sogar ein Kühlschrank unter den Dingen, die junge Frauen mit in die Ehe bringen. Ein Teppich aber wird wahrscheinlich sämtliche neuen Elektrogeräte überleben. «Das ist der Nachteil unseres Geschäfts», seufzt Abbas Javanmard. «Teppiche halten ewig. Hundert oder zweihundert Jahre sind keine Seltenheit.» Kleinere Löcher lassen sich flicken und erhöhen die Lebensdauer eines Teppichs.

Er erzählt von einem Kunden, der in Wien die Wohnung seiner Erbtante auflöste. Neben Möbeln und anderen Gegenständen fand sich im Inventar auch ein vier mal fünf Meter grosses Prachtexemplar, das einst den Weg vom Kaukasus in die Ukraine gefunden und später nach Wien gelangt war. Dort hatte es jahrzehntelang eine grosszügig geschnittene Wohnung geschmückt, bevor es nach Zürich kam, wo es nun auf dem Ladentisch von Abbas Javanmard auf seine Wiederherstellung wartet. Denn dieser verkauft Teppiche nicht nur, sondern er repariert sie auch. «Ich habe verschiedenste Farben und Wollsorten. Bei jeder Reise nach Iran bringe ich etwas mit.» Jeder Teppich ist einzigartig in seinen Farbschattierungen, und je näher ein Reparateur diesen kommt, desto weniger sieht man die ausgebesserte Stelle.

 Frauenarbeit – na und?

«Als kleines Kind hatte ich mit dem Teppichknüpfen nichts zu tun», erzählt Abbas Javanmard. Seine Mutter beherrschte dieses Handwerk; präzise und ausdauernd realisierte sie Kunstwerke aus Wolle nach Vorlagen auf Papier. Während sie auf dem grossen überdachten Balkon an einem zwei mal drei Meter grossen Knüpfstuhl sass, und sich auf einem höhenverstellbaren Brett Reihe für Reihe den Teppich hocharbeitete, spielte er mit seinen Freunden. Die Familie lebte auf einem Bauernhof in einem Dorf 150 Kilometer ausserhalb von Teheran. «Im Sommer knüpfte meine Mutter draussen», fügt der Händler an und streicht über einen Gabbeh, der zuoberst auf einem hüfthohen Stapel von Teppichen liegt. Jeder ein Unikat.

In vielen Teilen Irans sei Teppichknüpfen noch heute Frauenarbeit. Eine Ausnahme bilde die Stadt Tabris, in der es Sache der Männer und eine knüpfende Frau eine Schande sei. Die zehn Kinder der Familie Javanmard hatten mit Rollenverteilung bei der Arbeit nicht viel am Hut. Sie schätzten die Fertigkeit der Mutter und wollten so gut knüpfen können wie sie. «Wir haben irgendwann alle hobbymässig mitgemacht. Ich sagte: ‹Da ist meine Stelle, da arbeite ich.›» So legte der junge Abbas eigenhändig den Grundstein für seinen späteren Lebensweg, auf dem Teppiche seine ständigen Begleiter sein sollten – ohne es zu wissen.

Mit 14 Jahren ging er wie seine älteren Brüder nach Teheran auf die weiterführende Schule. Der Jugendtraum, Pilot zu werden, trieb ihn an. Weil die Eltern für das Schulgeld nicht aufkommen konnten, reparierte er wie seine Brüder tagsüber auf dem Bazar Teppiche. «Ich arbeitete von acht bis fünf, mit einer Stunde Mittagspause. Um sechs fing die Abendschule an», erinnert er sich. Von seinem ersten Wochenlohn von zehn Dollar wollte er sich einen lang gehegten Wunsch erfüllen und sich ein Velo kaufen. Sein Bruder legte den Kopf schräg. «Wir sind in der Stadt. Willst du wirklich weiter so herumlaufen?» Abbas schaute an sich herunter und entschied sich doch für das zweite Hemd und die zweite Hose. Das Velo kaufte er später.

Er genoss die neu gewonnene Freiheit, die mit dem eigenen Lohn verbunden war. Und er wollte ein guter Reparateur auf Teherans grösstem Bazar sein. Löcher konnte er so gut ausbessern, weil er sich auch auf das Teppichknüpfen verstand: Zuerst die senkrechten Kettfäden ziehen, dann die waagerechten Schussfäden, danach die Wolle in langen Fäden auf das weisse Geflecht knüpfen und schliesslich die Wolle zu einem kurzen Teppichflor scheren – und der Teppich sah fast aus wie neu. Auf dem Bazar bekam er täglich den gesamten Ablauf der Teppichherstellung mit und sah zu, wie Fachleute in grossen Abteilungen Wolle wuschen, helle Fäden auf grosse Rahmen spannten und die fertigen Teppiche am Ende kontrollierten.

Kommt ein Perser geflogen

Eines Tages sprach ihn bei der Arbeit auf dem Bazar ein Grosshändler an, der zusammen mit einem Schweizer Partner in Zürich einen Reparaturbetrieb führte. Das war 1980 und Abbas Javanmard 25 Jahre alt. Er zeigte ihm Fotos von der Stadt an der Limmat und fragte ihn, ob er für ihn in Zürich arbeiten wolle. «Europa kannte ich nur aus Filmen», erinnert er sich. Aber die Aussicht, mehr Geld zu verdienen und ein neues Land kennenzulernen, reizte ihn. Die Schweiz sollte Abbas Javanmard nicht enttäuschen. Das erste Mal kam er mit einem dreimonatigen Touristenvisum, und im Mai 1981 reiste er definitiv ein. Zusammen mit anderen Spezialisten aus Iran wohnte er am Anfang einfach, aber in guter Gemeinschaft in Birmensdorf (ZH) in einem alten Haus. Der Lohn war nicht hoch, aber er verdiente doppelt so viel wie in seiner Heimat. Seine Arbeitgeber boten ihm dazu Kost und Logis, und sie erledigten die Formalitäten. Dass er schon von Anfang an eine B-Bewilligung hatte, entdeckte er durch Zufall. Auf dem Fussballplatz fragte ihn ein Schweizer danach. «Ich verstand seine Frage nicht, weil ich das Wort nicht kannte. Aber ich schrieb es mir auf und schaute zu Hause nach.» Mit dieser Genauigkeit und der ihm eigenen Ausdauer lernte er auch die deutsche Sprache. Unermüdlich schlug er unbekannte Begriffe in Wörterbüchern nach, machte sich Listen und prägte sich Vokabeln ein. In den Ferien in Iran lernte er seine Traumfrau kennen, die er vom Fleck weg heiratete. Gelegenheiten muss man nutzen, könnte seine Devise lauten. Nach drei Monaten folgte sie ihm nach Zürich, und die beiden sind noch heute ein glückliches Paar.

 Der Schritt in die Selbständigkeit kam zufällig, als Abbas Javanmard eines Tages auf seinem Arbeitsweg bemerkte, dass ein Laden frei stand. «Die Gelegenheit war da», erinnert er sich. «Ich wusste: entweder jetzt oder nie. Es war ein Risiko mit zwei Kindern und dem dritten, das unterwegs war.» Im Alter von 37, mit über zwei Jahrzehnten Aktivität als Reparateur, fällte er die Entscheidung pragmatisch. «Handeln liegt mir im Blut, das konnte ich bei der Arbeit merken. Das Verkaufen fiel mir nicht schwer. Also habe ich beides miteinander kombiniert.»

Dies sollte sich als geschickte Überlebensstrategie für sein «Teppichland» erweisen, denn eine harte Zeit ohne Ferien und mit erschwerten Marktbedingungen begann. Die Nachfrage nach Orientteppichen nahm in dieser Zeit stetig ab. Anfang der 1990er-Jahre habe es in Zürich 22 Orientteppichgeschäfte gegeben, von denen heute nur noch sechs übrig seien, zählt Abbas Javanmard auf. Importstatistiken belegen dieselbe Entwicklung für die ganze Schweiz. Optimistisch ist er trotzdem, dass bald wieder mehr orientalische Einzelstücke statt eintöniger Industrieware Zürcher Wohnungen zieren werden. «Diese langweilige Mode ist ein bisschen zurückgegangen.» Fast unmerklich verzieht er die Nase und sagt nachdenklich: «Wissen Sie, was man in Persien über jemanden denkt, der keinen Teppich hat oder einen mit Löchern? So ein armer Mensch!»

Anfangs kaufte er alte Stücke auf dem Flohmarkt. Er flickte und reinigte sie, bevor er sie zum Kaufen anbot. Aus anfänglichen 20 Teppichen sind inzwischen an die 2000 geworden, die hängend, gestapelt oder aufgerollt seinen Laden füllen. Noch heute kauft er oft in der Schweiz auf Versteigerungen ein. Seinen Augen entgeht nichts. Auf diese Weise gelangte ein kleines blaugemustertes Seidenkunstwerk aus Isfahan in seinen Besitz. Auf Teherans Bazar hätte es 2000 Franken gekostet – in der Schweiz erstand er es für die Hälfte. Abbas Javanmard reist bis zu vier Mal pro Jahr nach Iran. Er kennt die Preise genau und weiss, wann es sich lohnt, zuzuschlagen.

 Geduld ist alles

«Mit mir kann man reden», das ist dem Händler sehr wichtig. Nicht nur Knüpfen und Reparieren, auch Verkaufen kann Zeit in Anspruch nehmen. «Bei einer älteren Dame habe ich einmal 14 Stunden verwendet, um ihr einen Teppich zu verkaufen», erinnert sich der Händler. «Sie ging sogar zur Konkurrenz, um eine Gegenmeinung einzuholen. Der Verkäufer sagte ihr, meiner sei ein guter Preis.» Das habe er ihm später einmal erzählt.

Wenn kein Kunde im Laden ist, erledigt Abbas Javanmard Reparaturen. Nicht nur Wasserschäden, Brände und Abnutzung hinterlassen Löcher in dem kostbaren Gewebe, sondern auch die vierbeinigen Lieblinge ihrer Besitzer. «Einer meiner Kunden aus Luzern liebte Teppiche – und sein Hund auch. Er kam drei Mal, um denselben Teppich reparieren zu lassen.» Sein guter Ruf geht offenbar bis in die angrenzenden Kantone, und über einen Mangel an Aufträgen kann er sich nicht beklagen. Das ist gut so, denn die Wiederherstellung ist die sichere Grundlage seines Geschäftes. Mit der Feinheit der Ware steigt der Aufwand. Die Ausbesserung eines Seidenteppichs mit einer Million Knoten pro Quadratmeter kann mehrere Hundert Franken kosten. Bei Sonnenschäden schert er den Teppich einfach leicht.

In der Freizeit braucht Abbas Javanmard Bewegung. Früher spielte er Fussball, heute geht er gern und viel spazieren, zum Beispiel an der Limmat entlang. Wenn er mit seiner Frau durch die Innenstadt von Zürich flaniert, kann er es nicht lassen, die Auslagen der Konkurrenz zu inspizieren. Er nennt dies Spionage. Seine bessere Hälfte sieht es mit Humor: «Du hast zwei Frauen, eine bin ich, und die andere ist dein Geschäft.»

 

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