«der arbeitsmarkt» 02/2006

Zweihundert Jahre Tradition werden eingeschmolzen

Ein Schweizer Unternehmen im globalen Wettkampf muss restrukturieren. Was bedeutet dies für die Arbeitsplätze in der Region? Ein Augenschein im Berner Juradorf Reconvilier.

«Entschuldigung, sind Sie Journalist?» Der Mann, der mich anspricht, ist zwischen dreissig und vierzig Jahre alt, trägt ein Hippie-Jacket und will seinen Namen nicht in der Zeitung sehen. Nennen wir ihn darum Markus, wie der zurzeit bekannteste Globalisierungsverlierer aus den Wäldern des südmexikanischen Chiapas, Subcomandante Marcos. Zumindest bezeichnet er sich als Globalisierungsverlierer: ein Bauer wie die meisten Indios Mexikos. Weil Markus wie sie von seinem Beruf nicht leben kann, arbeitet er seit einigen Jahren bei der Firma Swissmetal.

Angestellte dürfen nicht mit den Medien sprechen

Wir sitzen in einer Pizzeria in Reconvilier, wo ich heute Abend ankam, um einen Freund zu besuchen, der vor kurzem aus Biel hierher zog, weil die Miete billig und die Gegend gut erschlossen ist. Markus hat zufälligerweise durch ihn von meiner Ankunft erfahren und nützt nun die Gelegenheit, um seiner Angst Raum zu geben: «Ich erfuhr von der Schliessung der Giesserei, als ich die Teletext-Zeilen am Fernsehen las. Dabei bin ich Mitglied der Betriebskommission, die die Belegschaft der Boillat vertritt.» Markus erzählt vom Streik im November 2004, als innert einer Stunde alle Mitarbeitenden der Swissmetal Boillat in Reconvilier ihre Arbeit niederlegten, Kader inbegriffen (siehe Interview). Ein Jahr später folgte die Teletext-Zeile:
Swissmetal konzentriert die Giessereien und Pressen ihrer beiden Schweizer Werke nach Dornach. Im Gegenzug werde die Endproduktion am Standort Reconvilier ausgebaut (siehe Kasten). «Sie versprechen einiges, doch sie halten sich nicht daran», wendet Markus ein und rechtfertigt sich mit einer kaum enden wollenden Aufzählung. Er schliesst seinen Monolog ab mit den Worten: «Ich will nicht in die Suppe spucken. Ich bin froh, dass es die Boillat gibt. Aber wir sterben lieber im Stehen, als uns mit Füssen treten zu lassen.»
Nach dem ausgezeichneten Essen gehen wir rüber zu Christian Bonjour, der eine Vinothek mit anliegender Bar leitet. Zuvor bitte ich meine Begleiter, meinen Beruf nicht zu erwähnen. Ein Reglement verbietet den Mitarbeitenden der Swissmetal seit Anfang Dezember, mit Journalistinnen und Journalisten über das Unternehmen zu sprechen. Letztes Jahr gingen die Bilder der streikenden Mitarbeitenden durch die gesamte Schweizer Presse. Heuer müssen die Medien Phantome sprechen lassen; auch das ein Merkmal, das Markus mit Marcos vereint: die Maske.

Die Hälfte des Weltbedarfs an Kugelschreiberminen

Als Erstes betreten wir die Vinothek, die Christian Bonjour offensichtlich mit viel Liebe pflegt. An den Wänden liegen Dutzende von Weinflaschen, sortiert nach Marke, Herkunft und Jahrgang. In der Mitte ein naturbelassener, knietiefer Holztisch mit ein paar kurligen Hockern darum herum. Ein Mann um die fünfzig sitzt dort – man vermutet sofort, es ist Christian –, die Schultern weit nach vorne gebeugt, eine Kassenrolle in der Hand. Buchhaltung. Offensichtlich nicht seine Stärke. Wir wählen einen Humagne aus, einen Walliser Roten, der nicht so sauer schmeckt wie Dôle und Konsorten. Dann setzen wir uns rüber in die Bar, die ich eher als eine Landbeiz im French-Style der Siebzigerjahre bezeichnen würde.
Eine Dame sitzt an der Bar und kehrt uns ihren Rücken zu. Ein paar Männer sitzen am Nebentisch, ein anderer an der Bar scheint eher zu schlafen. Zumindest lässt er dauernd den Kopf fallen, um dann wieder plötzlich aufzuschrecken, ins halbvolle Glas zu schauen und wieder einzunicken. Es wird laut und engagiert debattiert.
Die Leute sind offen und freimütig. Bald werden wir in die Gespräche einbezogen. Es stellt sich heraus, dass sie alle bis auf einen bei Swissmetal arbeiten. Ein Mann um die fünfzig meint: «Ich bin hier geboren. Mein Vater arbeitete vor mir schon knapp zwanzig Jahre in der Boillat. Wir arbeiten gut, haben positive Abschlüsse und zukunftsweisende Produkte. Sie sollen aufhören, uns immer Probleme zu machen. Sie sollen uns in Ruhe lassen. Ich bin für einen erneuten Streik.» Ein anderer erwidert: «Meine Kinder sind mittlerweile ausgezogen und verdienen ihr eigenes Leben. Da kann ich leicht für den Streik sein. Ein Teil der Belegschaft ist jedoch dagegen, weil sie es sich nicht leisten kann, Ende Monat ohne Lohn dazustehen.» Wir verabschieden uns lang nach der Polizei-stunde, angeheitert und müde.
Am nächsten Morgen begeben wir uns in die Bäckerei, die gerade auf der anderen Seite der Grand-Rue liegt. Auch sie ist in zwei Räume aufgeteilt: auf der Rechten das eigentliche Kerngeschäft, auf der Linken ein kleines Café, wo wir uns setzen und bestellen. Die anwesenden Männer tragen allesamt die Arbeitskleidung der Swissmetal und sind offensichtlich von der Schicht zurückgekehrt. Sie essen Pizza und weitere warme Köstlichkeiten, während wir unsere Kaffees und Gipfelis einnehmen.
Viele Betriebe der Region leben direkt oder indirekt vom 150-jährigen Metallwerk Boillat in Reconvilier, einem 2330-Seelen-Dorf im Berner Jura mit zwei Metallwerken, die 380 Personen beschäftigen, Tendenz fallend. Das Werk verarbeitet sogenannte Buntmetalle, also Kupferlegierungen wie Messing, Neusilber, Bronze, und liefert hochwertige Spezialprodukte für Uhren, Kugelschreiber, Brillen und Steckverbinder. Die Hälfte aller Kugelschreiberminen der Welt wird hier produziert, und es gibt heute kaum ein Flugzeug auf der Welt, das nicht mit Teilen aus der hiesigen Fabrik fliegt. Rückläufig ist vor allem die Produktion von Standardmessingstangen für die lokalen Drehereien und die Uhrenindustrie. Ich will es genauer wissen und rufe einige Persönlichkeiten an, mit denen ich Gesprächstermine vereinbaren kann. Dann beschliessen wir, einen Spaziergang nach Tavannes zu unternehmen, dem nächsten Dorf Richtung Biel.

Die ganze Region ist seit Jahrzehnten im Umbruch

Ähnlich wie in Reconvilier erleben wir hier einen Dorfkern mit vielen verlassenen und verlotterten Fabrikanlagen, Personalhäusern und Kleingeschäften aus den Zeiten, da die Uhrenindustrie in Hochkonjunktur stand. Wie der gleichnamige Kanton bekam der Berner Jura in den späten Achtzigern den Zusammenbruch des Uhrengeschäftes stark zu spüren. Nichtsdestotrotz arbeiten fast die Hälfte der hiesigen Beschäftigten noch immer in gut 700 Betrieben des zweiten Sektors (kantonal und schweizweit sind es gut ein Viertel). Viele Kleinbetriebe sind Drehereien, die Boillat-Produkte in der sogenannten Zerspanung (schweizerisch: Decolletage) weiterverarbeiten. Je nach Schätzung hängen zwischen 1000 und 3000 Arbeitsplätze direkt von der Boillat ab. Der Rest sind Zulieferer und Geschäfte, die an der Wertschöpfung der Swissmetal-Löhne teilhaben.
Inzwischen hat sich die Lage etwas entspannt: Zwischen 1998 und 2002 wuchs das hiesige Volkseinkommen pro Kopf um 2,2 Prozent auf 35500 Franken, was immer noch weit unter dem kantonalen und Schweizer Mittel liegt. Zwischen 1998 und 2001 hat die Zahl der Arbeitsplätze um 3 Prozent, in den letzten zehn Jahren diejenige der Erwerbstätigen ebenfalls um 3 Prozent zugenommen. Mit einer Arbeitslosenquote von 3,6 Prozent befand sich der Berner Jura im Jahr 2004 über dem kantonalen und unter dem Schweizer Mittel, Tendenz sinkend. Etliche Betriebe im Bereich Medizinal- und Präzisionstechnik sind neu entstanden und profitierten vom enormen Know-how der Region, wie das Beispiel der gemeinnützigen Stiftung Digger DTR zeigt, auf die wir in Tavannes per Zufall stossen.
Die Erfolgsgeschichte der Digger DTR begann mit der Schliessung des Waffenplatzes. Seit sieben Jahren wird hier an der Entwicklung leistungsfähiger und kostengünstiger Minenräumungstechnologien gearbeitet. 2002 kam der erste ferngesteuerte, gepanzerte Prototyp, Digger-1, im Kosovo zum Einsatz: ein voller Erfolg. Minenfelder konnten doppelt so schnell geräumt und 80 Prozent der Personenunfälle verhindert werden. Digger-2 ist zurzeit auf dem Weg nach Afrika, wo er die 1200 Kilometer lange Piste zwischen Kenia und dem Südsudan entminen wird. Der Einsatz kostet 880000 Franken und dauert sechs Monate. Wenn Digger-2 sich dort wie Digger-1 damals im Kosovo bewährt, wird ab Mitte Jahr in Tavannes serienmässig produziert – vorerst zehn Stück pro Jahr.
Den Rückweg nach Reconvilier nehmen wir über die Hügel entlang des Tals von Tavannes. Auffallend viele neue Einfamilienhäuser umgeben die halbverlassenen Dorfkerne. Max Siegenthal von der Unia bestätigt in einem späteren Interview: «Die Leute aus dem Jura kommen hierher arbeiten, währenddessen die hiesige Bevölkerung nach Biel fährt. Ich glaube, das ist eine Idiotie.» Tatsächlich pendelte bereits im Jahr 2000 ein Viertel der bernjurassischen Arbeitnehmenden in eine andere Region, während ein Siebtel der hiesigen Arbeitsplätze von Pendlern aus anderen Regionen besetzt waren. Damals ergab dies einen negativen Pendlersaldo von knapp 3000 Personen. Inzwischen ist diese Zahl auf 4900 angewachsen.
«Für viele Leute ist es interessant, hierher wohnen zu kommen», meint Gemeinderat Tom Gerber aus Reconvilier. Kein Wunder bei 130 Franken pro Quadratmeter Bauland. Auch Gerber ist nicht ganz zufrieden mit dieser Entwicklung: «Ich hätte lieber drei bis vier neue kleine Unternehmen mit je zwanzig, dreissig Mitarbeitern als zwanzig Villen. Wir sind industrielle Dörfer und ich hoffe, dass wir auch in Zukunft nicht nur Schlafdörfer werden. Es ist immer noch viel angenehmer für den einzelnen Mitarbeiter, wenn er mit dem Velo zur Arbeitsstelle fahren kann, als wenn er zwei Stunden täglich darauf verwendet, nach Biel und zurück zu fahren. Das ist für mich Lebensqualität. Doch eben, es wird gemacht, und wir müssen uns dem stellen.»

Die Werke sind veraltet – nur darüber besteht Einigkeit

Ob mit Zug oder Auto: In Reconvilier ziehen sich Bahn und Hauptstrasse über mehr als hundert Meter den Wänden der Boillat entlang. An einem sonnigen Nachmittag werde ich mit unserer Fotografin vom neuen «Abteilungsleiter Giessereien» durch die Fabrikhallen geführt. Er wohnt in Frankreich und arbeitet seit vier Jahren in Dornach. Die Luft ist metallgeschwängert wie in einer Autogarage. Die Giessöfen stehen in einem anderen Gebäude am Dorfrand Richtung Loveresse und Moutier. Ein Teil soll nach Dornach transportiert werden. Der Rest entsorgt. Herr Petitdemange wird sich darum kümmern.
Im Dorfkern befinden sich die Press- und Ziehwerke. Die 2000-Tonnen-Presse ist sechzigjährig. Sie musste sowieso ersetzt werden. Drei kräftige Männer arbeiten daran. Sie werden wohl auch überflüssig. Die zuvor gegossenen Metallzylinder werden wieder auf 800 Grad geheizt und durch eine schmale Öffnung gepresst. Es entsteht ein Draht, der noch heiss aufgerollt wird. Dieser kann dann nebenan auf sieben bis fünfzehn Millimeter Durchmesser gezogen werden. Diese Anlage bleibt vorerst hier. Die ebenfalls im Raum befindlichen Drahtgiessanlagen werden hingegen komplett gezügelt.
Zumindest darin herrscht Einigkeit. Erstens arbeiten beide Werke mit veralteten Anlagen. Zweitens gehören Giesserei und Presse zusammen. Über den Rest sind sich Gemeinde, Kanton, Gewerkschaft, Belegschaft einerseits und Unternehmensleitung der Swissmetal andererseits nicht einig. Uneinigkeit herrscht vor allem bei der Wahl des Standortes, die sich aus der strategischen Neuausrichtung der Swissmetal ergibt. Ein paar Tage später werde ich von Sam Furrer in Dornach empfangen, dem «Chef Entwicklung und Personal» der Swissmetal: Haltestelle Apfelsee, wo weit und breit keine Äpfel wachsen und kein Wasser zu sehen ist;
Weidenstrasse 50, mitten im Fabrikgelände, wo keine Bäume stehen, sondern Hallen, Baracken und ein Bürohaus.
Dieses andere Werk der UMS Schweizerische Metallwerke Holding AG ist auch schon über hundertjährig. Daran erinnert eine bronzene Tafel, die dem Unternehmen von der Belegschaft zum Anlass geschenkt wurde.

Swissmetal vermutet hinter Kampagne Trittbrettfahrer

Sam Furrer, der in seinem Amt auch Mediensprecher des Unternehmens ist, empfängt mich nach einer halben Stunde und lässt sich dafür viel Zeit für meine Fragen. Auf die vielen Vorwürfe bezüglich Versprechen, die nicht eingehalten wurden, geht er jeweils detailliert und geduldig ein, widerspricht oder präzisiert da und dort, räumt aber auch Fehler ein. Schliesslich fasst er zusammen: «Seit Anfang November ist eine koordinierte Medienkampagne gegen die Unternehmensleitung im Gange, die darauf ausgerichtet ist, maximalen Druck auf uns auszuüben, in der Hoffnung, dass Swissmetal den Standortentscheid umkehren würde. Im Rahmen der Kam-pagne wird versucht, die Glaubwürdigkeit des Managements bei den Mitarbeitenden in Reconvilier systematisch zu untergraben. Da stehen regionalpolitische Interessen dahinter sowie die Gewerkschaften und gewisse Lokalpolitiker, welche die öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Eigenvermarktung nutzen. Swissmetal erfährt dadurch einen Imageschaden gegenüber Kunden und gibt auch Stück für Stück zu viele Details der aufmerksam beobachtenden Konkurrenz preis. Beides ist schlecht für unser Unternehmen.»
Auf das Reglement angesprochen, das er entworfen hat, gesteht er ein: «Es ist autoritär, ja, aber ich glaube, es ist notwendig gewesen. Bei uns hatte sich die schlechte Sitte eingebürgert, dass jeder Mitarbeitende jederzeit nach Lust und Laune seine persönlichen Ansichten den Medien erklärte. Das konnte so nicht weitergehen.» Furrer bedauert, dass sich die Aufmerksamkeit der Medien in den letzten Monaten viel zu stark auf den Konflikt mit der Regionalpolitik fokussiertestatt auf die eigentliche langfristige Unternehmensstrategie: «Was wir aufbauen wollen, ist ein Schweizer Industrieunternehmen, das mit schweizerischen Produktionsstätten global wettbewerbsfähig ist. Ständig wird von unserem schwelenden Konflikt gesprochen anstatt davon, was mit einem Industrieunternehmen in der Schweiz geschieht, das in einem globalen Wettkampf steht und trotz der Konkurrenz aus Billiglohnländern massiv in den Industriestandort Schweiz investiert und damit einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen Erhaltung industrieller Arbeitsplätze in der Schweiz leistet.» Die Angst vor der asiatischen Konkurrenz spürte man auch in Reconvilier. Markus meinte dazu: «Der Name der neuen Führungseinheit, Industrieleitung Schweiz, ist ein Beweis dafür, dass sie nur an unserem Know-how interessiert sind. Noch gibt es nämlich keine Produktionsstandorte ausserhalb der Schweiz. Sobald sie können, verlagern sie die ganze Produktion nach China. Dann stehen wir beim Arbeitsamt Schlange.»

Zur PDF-Version: