«der arbeitsmarkt» 02/2006

Zwanzig Prozent weniger Rentenfälle in zwei Jahren

Vor drei Jahren führte die Suva ein neues Fallbearbeitungskonzept ein. Willi Morger, Mitglied der Suva-Geschäftsleitung, zieht Bilanz und blickt voraus.

«der arbeitsmarkt»: Herr Morger, prägt der Sicherheitsgedanke Ihr Leben?
Willi Morger: Nein, eigentlich nicht. Ich betreibe ein «gefährliches» Hobby und spiele jeweils montagabends Fussball. Allerdings fehlte ich wegen einer Verletzung noch nie am Arbeitsplatz.

Ausgerechnet Fussball. Man könnte fast annehmen, die Suva verbiete ihren Angestellten diesen unfallträchtigen Sport.

Ich liesse mir niemals vorschreiben, was ich in der Freizeit tun darf und was nicht. Ich bin aber vorsichtig. Die Berufserfahrung spielt hier mit. Die sportliche Aktivität ist mir wichtig.

Sie halten sich bewusst zurück.

Bestimmt nicht. Ich kaufte mir vor einiger Zeit rote Fussballschuhe, die passten
mir am besten. Als ich damit zum ersten Mal auf den Rasen ging, wurde ich darauf angesprochen. Ich entgegnete den Kollegen, diese seien rot, weil darauf das Blut der Gegner weniger zu sehen sei. Spass beiseite, ich denke, wenn sich Sportler verletzen, sind sie dank ihres Trainingszustandes schneller wieder auf den Beinen. Alles in allem ist Sport eine gute Sache, auch wenn gewisse Risiken damit verbunden sind.

5 Prozent der Schadenfälle verursachen 80 Prozent der Gesamtkosten. Diese Erkenntnis brachte die Suva zur Einführung des New Case Management.

Eine andere Erkenntnis ist, dass die Hälfte der Fälle lediglich 2 Prozent der Gesamtkosten ausmachen. Unter den teuren 5 Prozent der Fälle gibt es Bereiche, zum Beispiel die Tetraplegiker, wo eine Wiedereingliederung sehr schwierig ist. Die Kosten sind dort nun mal sehr hoch, da sich eine Rente selten vermeiden lässt. Störend sind vielmehr die Fälle, bei denen eigentlich keine schwerwiegenden Verletzungen vorliegen, die Betroffenen aber ihren Arbeitsplatz verlieren und aus einer Tagesstruktur fallen. Das ist eine heikle Situation.

Wo setzen Sie schwerpunktmässig an?

Von den 5 Prozent der Schadenfälle, die 80 Prozent der Kosten ausmachen, müssen wir uns eigentlich mit 2 Prozent eingehend befassen. Hier kann man vieles erreichen, wenn man die Verunfallten gut betreut.

Gibt es bereits Erfahrungswerte seit der Einführung des New Case Management? Zahlt sich das neue Fallbearbeitungskonzept aus?

Ja, es ist erfreulich. 2003, als wir mit dem neuen System zu arbeiten begannen, hatten wir es mit einer hohen Zahl von Invalidenrentenfällen tun. Zum Glück wurden bereits im Jahre 2000 erste Überlegungen gemacht, wie man diese Probleme besser in den Griff bekommen kann. So konnten wir bereits 2004 mit weniger Renten als im Vorjahr aufwarten, und im Jahr 2005 gab es wiederum 16,2 Prozent weniger Invalidenrentenfälle. Dies sind rund 20 Prozent weniger neue Rentenfälle innert zwei Jahren.

Und wie viel ist dies in Franken ausgedrückt?

In Geld umgerechnet sind dies etwa 200 Millionen Franken, die eingespart werden konnten. Ein enormer Betrag, der daher rührt, dass, wenn eine Rente festgesetzt wird, das dazu benötigte Kapital zurückgestellt wird. Wissenschaftlich begründete Auswertungen – mit einer Kostenwirksamkeitsstudie – können aber erst nach drei bis fünf Jahren vorgelegt werden. Ich kann es noch nicht beweisen, aber ich behaupte, dass das New Case Management einen guten Einfluss auf die Zahlen hat.

Drei bis fünf Jahre – eine lange Zeit!

Einen solchen Zeitraum braucht es, da im Durchschnitt pro Fall mit dreieinhalb Jahren zu rechnen ist; das ist der Zeitraum zwischen Umfallereignis und Rentensprechung. Es ist entscheidend, dass man jemanden nicht möglichst schnell in die Rente schickt, sondern zunächst alle Möglichkeiten ausschöpft. Es ist wichtig, dass man den bestmöglichen Zeitpunkt für den Abschluss eines Falls und den Übergang zur Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit oder allenfalls zur Rente findet. Die Heil- und Taggeldkosten, die man dazu aufwendet, sind für mich eine Investition zur Verhinderung oder Verringerung eines teureren Dauerschadens, also der Invalidität.

Sie sind aber noch nicht am Ziel.

Nein. Zurzeit sind 90 Case Manager im Einsatz, benötigt werden jedoch 130, damit wir alle Fälle so behandeln können, wie wir uns dies vorstellen. Diese Spezialisten kann man nicht einfach vom Arbeitsmarkt abholen. Die meisten Case Manager werden intern ausgebildet oder umgeschult, andere neu eingestellt.

Welche Faktoren beeinflussen die Zahl der Rentenfälle?

Die Unfallzahlen, ihre Schwere und die wirtschaftliche Situation, also auch die Arbeitslosenzahlen. Wenn man diese Elemente genauer betrachtet, so kann man sagen, dass sie seit 2003 auf etwa gleichem Niveau geblieben sind. Es deutet also sehr vieles darauf hin, dass die guten Werte die Folge der besseren Betreuung sind. Die Invalidenversicherung (IV) setzte sich ein Minus von 20 Prozent Rentenfälle zum Ziel. Dies haben wir bei der Suva bereits erreicht.

Die Kosten sind rückläufig, das New Case Management ist also ein Erfolg.

Darauf bin ich ziemlich stolz. Erstaunlich dabei ist, dass die Taggeld- und die Heilkostenentwicklung moderat ausfallen. Die Taggelder, also die Entschädigungszahlungen bei Arbeitsunfähigkeit, müssten eigentlich bei unserem Bestand an versicherten Personen ständig ansteigen.

Die Demographie schlägt hier durch?

Die Versicherten werden immer älter, und wegen des Pillenknicks fehlen die Jungen. Bei älteren Menschen geschehen zwar weniger Unfälle, doch wenn etwas passiert, dauert die Regeneration länger. Zu unserem Erstaunen haben sich auch diese Zahlen stabilisiert. Insgesamt können wir somit von einer sehr guten Kostenentwicklung sprechen.

Welche Rolle spielen die Unternehmer?

In Zeiten, in denen die Unternehmen um Aufträge kämpfen müssen und sie schlecht ausgelastet sind, ist das Interesse natürlich nicht so gross, angeschlagene Leute weiterzubeschäftigen. Auch in diesen Fällen kann man einen Weg suchen. Denn es ist wichtig, dass ein Mensch seinen Arbeitsplatz behalten kann und in einer Struktur integriert bleibt, auch wenn er nur noch eine Minderleistung erbringen kann. Gegenüber dem
Arbeitgeber können wir diese Minderleistung in Form einer Rentenzahlung an den Verunfallten abgelten.
Die beste Eingliederung ist aber immer noch die, den Betroffenen in seinem angestammten Betrieb weiter zu beschäftigen. Bei kleinen Betrieben ist dies oft schwierig, bei grösseren Firmen findet sich meistens
eine Lösung, vor allem bei Leuten, die schon länger im Betrieb sind. Oft setzen sich auch Arbeitskollegen ein und verhindern damit, dass der Verunfallte auf die Strasse gestellt wird.

Die Suva subventioniert also Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft?

Solche Lösungen gibt es. Es ist manchmal angebracht, eine Teilrente zu bezahlen. Es gilt auch die Überlegung anzustellen, ob es für den Betroffenen nicht besser ist – falls es ihm möglich ist –, eine Umschulung zu absolvieren, die dann die IV finanziert. Ich kenne Fälle, bei denen sich ein Unfall sogar ausbezahlt hat. Ein Unfall wurde zu einem Glücksfall.

Sie denken dabei an Verunfallte, die dank einer Umschulung mehr verdienen als vorher?

Genau. Leute, die zum Beispiel in den Informatikbereich eingestiegen sind und die dann feststellten, dass ihnen diese Arbeit liegt.

Das sind ja wohl eher Ausnahmen. Es gibt auch Lohndumping. Dem nicht mehr voll Leistungsfähigen wird zusätzlich der Lohn gedrückt.

Ich kann nicht genau sagen, wie es im Einzelfall aussieht. Wir versuchen jeweils, mit dem Arbeitgeber zu eruieren, wozu der Verunfallte noch in der Lage sein sollte. Danach läuft eine Probezeit, in der die Suva die Leistungsdifferenz bezahlt. In der Regel steigert sich in dieser Zeit die Leistung des Verunfallten.

Wie gewichten Sie die äusseren Einflüsse?

Nicht beim Arbeitgeber oder bei den sicherlich vorhandenen starken Belastungen am Arbeitsplatz sehe ich das grösste Problem. Die Wiedereingliederung verläuft oft schlecht, weil das soziale Umfeld gestört ist.

Worauf stützen Sie diese Annahme?

Mein Vater, der als Landarzt praktizierte und von dem ich viel gelernt habe, pflegte zu sagen: «Der beste Doktor erreicht nichts, wenn der Patient oder seine Umgebung nicht will!» Eine Studie ergab, dass Rückenbeschwerden etwa bei 15 Prozent der Patienten chronisch verliefen, wenn diese über einen gesicherten Arbeitsplatz verfügen und in einem guten Umfeld leben. Hingegen wurden sie bei 85 Prozent der Patienten mit den gleichen Rückenbeschwerden chronisch, wenn eine Unsicherheit bezüglich des Arbeitsplatzes bestand, wenn soziale Probleme oder, noch schlimmer, beides vorlag.

Die Suva hat bereits einiges bewirkt. Nun fordert Sie die IV heraus.

Ich möchte, dass wir auch die berufliche Eingliederung übernehmen. Wir haben ausgebildete Leute und die Infrastruktur wie Rehakliniken mit eigenen Berufsberatern. Wir könnten so kostbare Zeit gewinnen. Mein Vorschlag an die IV war, die Eingliederung auf unsere Kosten zu übernehmen, doch die IV will im Moment nichts davon wissen. Sie denkt, wir seien dazu nicht in der Lage. Ich würde gerne das Gegenteil beweisen, und sei es auch nur in einem Pilotprojekt.

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