«der arbeitsmarkt» 07/2006

Zuspruch von höchster Ebene

Mitte Juni traf sich Bundesrat Joseph Deiss in der Zürcher Gemeinde Maur mit Erwerbslosen. Er hörte aufmerksam zu, gab
Ratschläge und stellte Fragen. «der arbeitsmarkt»
war bei dem ungewöhnlichen Treffen mit dabei.

Einen Bundesrat kann man nicht einfach anrufen und fragen: Kommen Sie nächste Woche zu unserem Gruppenmeeting? Mehrere Monate Wartefrist muss man schon einplanen. Und dann bleibt immer noch die Frage: Hat ein Bundesrat Zeit für 10 bis 30 Erwerbslose, die sich in Maur bei Zürich vierzehntäglich zu einer Aussprache treffen?
Überraschend nimmt sich Bundesrat Joseph Deiss die Zeit. Die Morgensonne wärmt den Platz vor der modernen Schulhausanlage Looren in Forch, als der Chef des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements am 8. Juni aus dem Auto steigt und auf den Clubraum der Dreifachturnhalle zugeht. Seine Begleitung, eine Pressebeauftragte und Personenschutz, tritt so diskret auf, dass sie kaum zu bemerken ist.
Drinnen warten die Teilnehmenden des TreffTischs Maur. Der von manchen Journalisten als spröde und professoral gescholtene Bundesrat grüsst freundlich und gewinnt sofort die Sympathien der Anwesenden. Den Frauen und Männern in der ersten Reihe schüttelt er die Hand. Danach setzt er sich ans Tischchen neben Sozialsekretär Giorgio Ciroli und findet sich schnell mit seiner ungewöhnlichen Rolle als Zuhörer und einfühlender Nachfrager zurecht.
Es geht um Geschichten und Schicksale, die in Gesetzestexten nicht vorgesehen sind. Als Erste beginnt eine 50-jährige Frau über ihre Erfahrungen mit der Erwerbslosigkeit zu sprechen, muss aber zuerst ihre Nervosität dämpfen. Bundesrat Deiss überbrückt diesen Moment mit dem Rat: «Betrachtet mich als gewöhnlichen Menschen.» Und fügt, auf seinen baldigen Rücktritt anspielend, hinzu: «Ab dem 30. Juni bin ich es sowieso.» Er nennt einige Zahlen zu den Kosten der Erwerbslosigkeit und meint, das Anliegen der Politik sei, allen wieder Arbeit zu ermöglichen. Daraufhin entpuppt sich die Anfangssprecherin plötzlich doch als redegewandt und schildert, wie sie den Schock einer Kündigung zu verkraften hatte und danach im Gesundheitswesen als Kinesiologin Fuss fassen wollte. Das war hartes Brot, aber sie gibt nicht auf. «Ich sehe meine Lebensaufgabe nicht darin, mich mit den Ellbogen durchzusetzen. Mein Ziel werde ich dennoch erreichen», bekräftigt sie.

Pessimismus beisst sich in en eigenen Schwanz

Ein Betriebsdisponent der Bahn berichtet, wie er im Rahmen eines Sozialplans aufs Abstellgleis gestellt wurde. Der Ehemann und Vater von zwei Kindern im Alter von fünf und acht Jahren hat bisher keine neue Stelle gefunden, die Stellensuche und das Warten drücken auf die Lebensqualität. Der Mann erlebt die Ferien mit der Familie zunehmend als Stress. Nun haben sich auch körperliche Beschwerden gemeldet.
Der Bundesrat weiss dagegen kein Patentrezept. Als sich ein weiterer Erwerbsloser über sein angeknackstes Selbstwertgefühl beklagt, stellt Joseph Deiss eine kritische Frage: «Könnte es nicht sein, dass man sich bei Erwerbslosentreffs gegenseitig entmutigt?» Er rät den Anwesenden, sich auch mit Menschen zu treffen, die in der Wirtschaft aktiv sind, und mit ihnen über die eigene Situation zu reden.
Hier hakt Giorgio Ciroli ein. Keine Rede von Entmutigung, im Gegenteil: Der von der Gemeinde getragene TreffTisch versuche Impulse zu geben, betont der Sozialsekretär.  Ein wichtiges Angebot sind Vorträge und Gespräche mit Fachpersonen aus Wirtschaft, Politik und Lebensgestaltung. Ein Mitarbeiter des Treffs, Robert Ramsauer, verrät allerdings, dass die Teilnehmendenzahl an solchen Anlässen manchmal sehr bescheiden sei.
Niemand bezeichnet sich gern als pessimistisch. Auch jener Erwerbslose nicht, der schon 500 Bewerbungen geschrieben hat. Er wagt es jedoch, dem Chef des Volkswirtschaftsdepartements eine skeptische Frage zu stellen: «Gibt es überhaupt genügend Arbeit?» Ja, antwortet der Bundesrat entschieden. Er wehrt sich gegen falsche Milchbüchleinrechnungen. Wenn China als Wirtschaftsmacht aufsteige, drohe der Schweiz nicht der Niedergang. Sie profitiere vielmehr vom Wirtschaftswachstum und vom intensiveren Austausch.
Viele Erwerbslose haben gemerkt, dass Pessimismus sich wie eine Schlange in den eigenen Schwanz beisst. Am Schluss ist man zu gar nichts mehr motiviert. Das kommt vom Zuhausesitzen und einsamen Brüten. An manchen Orten spriessen Selbsthilfegruppen wie zarte Pflänzchen. Daniel Brunner zum Beispiel hat in Winterthur den Verein Weg-Weiser für erwerbslose Fach- und Kaderleute gegründet. Und der ebenfalls anwesende Werner Flüeler, der als ehemaliger Swissair-Angestellter lange nach einer Stelle suchte und heute an der Kasse einer Tankstelle arbeitet, erzählt, die neue Stelle gebe ihm so viel Mumm, dass er die «Brücke Eglisau» wieder aktiviert habe. Die Gruppe setzt sich in Zusammenarbeit mit Kirchen für Selbsthilfe und Arbeitsbeschaffung ein.

Der Herr über die RAV legt sich für die Beratenden ins Zeug

Wenn der Herr über alle RAV zugegen ist, geraten auch die RAV-Beratenden ins Visier. Ein Erwerbsloser kritisiert, er sei zu wenig über bessere Anlagemöglichkeiten für Pensionskassengelder informiert worden. Andere fühlen sich von ihrem Berater zu Unrecht unter Druck gesetzt. Ein weiterer Gesprächsteilnehmer verlangt, die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren sollten sich stärker mit der Wirtschaft vernetzen. Joseph Deiss versucht, die Kritik zu dämpfen: Die RAV-Beratenden hätten bis zu 130 Klienten zu betreuen und könnten nicht alle Probleme lösen. Der Bund prüfe mit wachsamem Auge die Qualität ihrer Dienstleistungen. Bruno Sauter, der Gemeindepräsident von Maur und Chef des zürcherischen Amts für Wirtschaft und Arbeit, ergänzt: «Bei RAV-Beratenden liegt der Schwerpunkt auf der Beratung, während private Angebote stärker darauf abzielen, aktiv Stellen zu vermitteln.»

Erwerbslose brauchen endlich eine Lobby

Manchmal liegt die Ursache des Unbehagens auch im Gesetz selbst. Ein Erwerbsloser
kritisiert, dass er die Kosten für sein Generalabonnement nicht in seiner Steuererklärung als Fahrspesen aufführen könne – das GA brauche er für die Arbeitssuche. Eine andere Klage ist Bundesrat Deiss sehr wohl bekannt: Ein Erwerbsloser, der eine Teilzeitstelle annimmt, riskiert, dass er bei Jobverlust noch weniger Arbeitslosengeld erhält.
Eine ehemalige Büroangestellte notierte schon Wochen vor dem Bundesratsbesuch fein säuberlich ihren Redebeitrag. Sie hat sich über das Inserat eines neu eröffneten Lagerhauses in Dübendorf geärgert, das 20 Frauen im Alter von zirka 60 Jahren für stundenweise Einsätze auf Abruf suchte. Blanke Ausnützerei sei dies, meint sie: «Ältere Menschen sind meist sehr zuverlässig und getrauen sich nicht, kurz vor der Pensionierung noch Ansprüche zu stellen. Zudem muss die Firma auch keine Pensionskassenbeiträge bezahlen.» Die Frau regt an, auch bei Minimallöhnen die Pensionskassenbeiträge abzurechnen. Selbst Kleinstbeiträge seien vielen Menschen mit knappem Budget willkommen. Joseph Deiss bekundet Verständnis, sieht jedoch keine Chance, das bestehende Recht zu verändern. In den Wochen vor dem Besuch reifte bei den Treffteilnehmenden die Idee, eine Lobby der Erwerbslosen auszurufen – wenn nicht schweizweit, so doch für den Kanton Zürich. Der TreffTisch in Maur ist genau gesehen schon eine kleine Lobby, die mit Gruppen aus Thalwil, Winterthur und Eglisau vernetzt ist. Angespornt vom Deiss-Besuch will man stärker an die Öffentlichkeit gehen, und zwar energisch: «Erwerbslose sehen sich nicht mehr länger nur als ‹Empfänger›. Aktiv und konstruktiv wollen sie gegen ihren unfreiwilligen Zustand ankämpfen, sich darin behaupten und die lokalen und nationalen Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Politik im Dialog auf ihre Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten ansprechen», heisst es in der Pressemitteilung vom 8.Juni. Ein erster Lobbying-Anlass in Maur ist das geplante Podiumsgespräch im Oktober zu Wirtschaft und Ethik.
Einen Energieschub gab auch der Besuch von Joseph Deiss. Der Freiburger hatte tiefes Verständnis für die Lage der Erwerbslosen gezeigt. So herzlich wie seine Ankunft war auch seine Verabschiedung in Maur.   

Interview 

der arbeitsmarkt: Herr Bundesrat, was hat diese Begegnung mit Erwerbslosen in Ihnen ausgelöst?
Joseph Deiss: Ich fand es beeindruckend, wie offen diese Menschen ihre persönliche Situation dargelegt haben – vor mir und den anwesenden Journalisten. Es war offensichtlich auch für die Betroffenen ein positives Erlebnis, einen Vertreter des Bundesrats als Zuhörer zu haben und ihre Situation darlegen zu können. Ich kann natürlich nicht alle  Arbeitslosen treffen, aber es ist mir wichtig, im direkten Kontakt zu erfahren, wie die Situation für diese Menschen aussieht.

Sie haben von Härtefällen gehört: Ein Arbeitsloser, der eine Teilzeitarbeit annimmt, erhält nach einem Jobverlust deutlich weniger Arbeitslosengeld. Sehen Sie den Hauch einer Chance, dass diese und andere Lücken im sozialen Netz gestopft werden?
Diese Fragen sind uns aus früheren Diskussionen bekannt. Die Probleme müssen allerdings auf der politischen Ebene gelöst werden – und das ist nicht einfach, weil Prämienzahler und Erwerbslose unterschiedliche Interessen haben. Kompromisse sind deshalb unerlässlich, da die Gesellschaft mit dem Zahlen von Prämien für die Arbeitslosenversicherung wie für die anderen Sozialversicherungen eine Leistung erbringt. Darum muss man auch dafür sorgen, dass kein Missbrauch betrieben wird. Um Missbräuche ausschliessen zu können, braucht es einen gesetzlichen Rahmen, und deshalb können Härtefälle nicht ausgeschlossen werden. Aber unser soziales Netz ist so vielfältig und sicher ausgebaut, dass niemand durch die Maschen fallen sollte.

Sie stehen vor dem Ende Ihrer Amtszeit als Bundesrat. Welche Signale haben
Sie gegeben, um die Arbeitslosigkeit zu begrenzen?
Arbeitslosigkeit kann man nur bekämpfen, wenn man Wachstum fördert. Seit meinem Wechsel ins Volkswirtschaftsdepartement vor dreieinhalb Jahren setze ich mich dafür ein, dass unnötige Wachstumshürden für die schweizerische Wirtschaft beseitigt werden. Im Bundesrat konnte ich das Wachstumsprogramm durchbringen, das entsprechende Massnahmen in einem
Gesamtpaket zusammenfasst. Dadurch wird die Wirtschaft angekurbelt, was sich positiv auf die Beschäftigungslage auswirkt. Heute greifen diese Massnahmen und zusammen mit dem Wirtschaftswachstum sinkt die Arbeitslosenquote. Wir sind in einer besseren Lage als vor dreieinhalb Jahren und ich hoffe, dass das eingeleitete Programm fortgesetzt wird und seine Früchte trägt. 

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