«der arbeitsmarkt» 12/2005

Zukunftsvision: Wenn alle einen Basislohn beziehen

Arbeitslosigkeit und die soziale Bedürftigkeit belasten die Schweiz. Reformen sind unumgänglich, theoretische Modelle etwa für ein garantiertes Mindesteinkommen wären vorhanden. Doch die Diskussion kommt nur langsam in Gang.

Anfang Oktober organisierte B.I.E.N. Schweiz, die Schweizer Tochterorganisation des Basic Income Earth Network, eine Podiumsdiskussion und machte damit das Thema eines unbedingten Grundeinkommens erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Die Schwerpunkte, mit denen sich der Verein beschäftigt, sind inhaltliche Fragen rund um ein garantiertes Mindesteinkommen.
Um die Ausgaben der Sozialhilfeeinrichtungen zu stabilisieren oder gar zu senken, ist eine Reform des bestehenden Sozialsystems unumgänglich. Armut ist keine Erscheinung der Dritten Welt, sie ist auch in hoch entwickelten Ländern verbreitet, und die Kluft zwischen Arm und Reich wird zusehends breiter. Die Schweiz ist da keine Ausnahme. Auch wenn es der Bevölkerung vergleichsweise gut geht, leben viele am oder unter dem Existenzminimum. Zudem kamen zu den bekannten Armutsrisiken in den letzten Jahren neue hinzu. Das betrifft etwa getrennte Familien und damit Kinder, die bei einem allein erziehenden Elternteil aufwachsen, oder Grossfamilien, für die ein Lohn auch bei einer Vollzeitbeschäftigung nicht existenzsichernd ist.
Mit der steigenden Arbeitslosigkeit in den neunziger Jahren vervielfachte sich die Belastung der Sozialhilfe. Gemäss dem Bundesamt für Sozialversicherung betru-gen die Ausgaben der Schweizer Sozialversicherungen im Jahr 2002 108,5 Milliarden Franken. Das bedeutete ein Ausgabenwachstum von 2,1 Milliarden Franken gegenüber dem Vorjahr. Diese Zahlen sind mit Vorsicht zu geniessen und widerspiegeln die Realität nur teilweise. Dennoch dürfte es schwierig werden, die Sozialausgaben zu senken.

Menschenwürdiges aber bescheidenes Leben ohne Arbeit

Hilfe in der Not ist in der Schweizer Verfassung verankert. Der neoliberale Ansatz, dass erwerbstätige Menschen Anrecht auf ein existenzsicherndes Einkommen haben sollen, schliesst erwerbslose Fürsorgeempfänger aus und missachtet somit den Verfassungsgrundsatz, der jedem Einwohner und jeder Einwohnerin die gleichen Rechte einräumt. Freiheit, Gleichheit und Grundeinkommen sind deshalb Begriffe, die es im Zusammenhang mit der sozialen Sicherung zu diskutieren gilt. Dabei stellt sich auch die Frage, ob nur Menschen, die in das Erwerbsleben integriert sind, ein garantiertes Mindesteinkommen zusteht oder ob dieses als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen werden soll. In diesem Fall würde jeder Einwohner und jede Einwohnerin mehr reale Freiheit erlangen, die es erlaubt, sich gemäss seinem eigenen Lebensentwurf zu entfalten. Gleichzeitig würde sich damit die Tendenz hin zur Zweiklassengesellschaft entschärfen. Wer arbeiten kann und will, übt seinen Beruf aus und hat damit auch mehr Geld, um sein Leben zu gestalten. Wer sich jedoch mit dem garantierten Grundeinkommen zufrieden gibt, dem bietet sich die Möglichkeit, ein bescheidenes, aber menschenwürdiges Leben zu führen.
Wann die Reform des Schweizer Sozialsystems abgeschlossen sein wird, ist schwer zu sagen. Klar ist, dass es nachhaltig finanzierbar sein muss. Einige Modelle bedingen die Bereitschaft aller, sich vom eigenen Reichtum zu distanzieren und diesen teilweise dem Gemeinwohl zur Verfügung zu stellen. Theoretische Modelle existieren bereits. B.I.E.N. Schweiz plant eine Finanzierungsstudie für ein Grundeinkommen in der Schweiz und spricht die breite Öffentlichkeit an. Obwohl an der Podiumsdiskussion Anfang Oktober längst nicht Einigkeit herrschte, war man sich in einem Punkt einig: Die vorhandenen Modelle müssen diskutiert, weitergedacht und letztlich mehrheitsfähig werden. Dass der Teufel oft im Detail steckt, darf dabei kein Hinderungsgrund sein. «der arbeitsmarkt» stellt sechs Modelle für ein garantiertes Mindesteinkommen vor.

www.grundeinkommen.ch
www.bsv.admin.ch/forschung/publikationen/ 15_03d_eBericht.pdf
www.bsv.admin.ch/publikat/svs/d/svs_2004_d.pdf

Negative Einkommenssteuer (NES)

Das Modell der Negativen Einkommenssteuer (NES) basiert auf dem bestehenden Einkommenssteuersystem. Unter einem ewissen Einkommensniveau – dem Break-even-Einkommen – fliessen die Geldleistungen vom Staat zu den Steuerpflichtigen. Wer darüber verdient, zahlt regulär Steuern, wer darunter liegt, erhält einen Betrag für den Lebensunterhalt. Eigene Einkommen unter dem Break-even-Niveau werden nicht in vollem Umfang angerechnet. Dadurch bleibt die Arbeitsbereitschaft aufrechterhalten. Die NES ist eine vom autonomen inkommen abhängige Direktzahlung des Staates an einzelne Haushalte und nicht an Individuen. Damit die NES im Kampf gegen die Armut erfolgreich sein kann, muss die garantierte Geldzahlung hoch genug angesetzt werden, um ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Um Arbeitsanreize zu fördern, muss der Steuersatz der NES möglichst tief sein. Das Modell ist finanzierbar, wenn das Break-even-Einkommen gleichzeitig möglichst niedrig angesetzt wird.

Vorteil: Mit diesem Modell sollen die Armut bekämpft und die negativen Arbeitsanreize des herkömmlichen Sozialhilfesystems vermindert werden. Da diese Sozialhilfeleistungen über das Steuersystem abgewickelt werden, können die administrativen Kosten gesenkt werden.

Nachteil: Es ist fraglich, ob soziale Aufgaben die Steuerbehörden nicht überfordern. Die Sozialhilfe auf persönlicher Ebene bleibt bestehen. Ziel der NES ist nicht die Existenzsicherung, sondern nur eine teilweise Bekämpfung der Armut. Menschen ohne eigenes Einkommen werden nicht berücksichtigt.

Meinungen: Der Arbeitgeberverband st gegen die Verbindung von Steuer- und Sozialhilfesystem, da mit einer reinen Verrechnung und Geldüberweisung den Bedürftigen nicht ausreichend geholfen sei. Die Befürworter betonen, dass das Ziel der automatischen Existenzsicherung mit einer minimalen Umverteilung erreicht
werden kann.

Steuerkredite für Working Poors

Steuerkredite stellen ein ähnliches Modell wie das der NES dar. Über Steuerkredite ausbezahlte Leistungen an Bedürftige werden wie die NES mit den Einkommenssteuern verrechnet. Trotzdem bestehen Unterschiede, die zu abweichenden Wirkungen im sozialen Gefüge führen können. Zum einen ist das Zusammenspiel zwischen dem Steuerkredit und der positiven Besteuerung weniger klar als bei der NES. Bei gewissen Einkommen werden positive Steuern bezahlt, obwohl ein Steuerkredit ausbezahlt wird. Zum anderen wird bei den meisten Steuerkredit-Programmen eine minimale Erwerbstätigkeit verlangt. Wer innerhalb eines ganzen Jahres kein Einkommen erzielt, kann auch keine Leistung beziehen.
Zudem verzichten Steuerkredite bewusst auf eine garantierte Geldleistung. Das bekannteste Beispiel dieses Modells ist der «Earned Income Tax Credit» (EITC) in den USA. Der EITC will hauptsächlich die Einkommen von einkommensschwachen Familien und Alleinerziehenden aufbessern und zielt damit auf die Bekämpfung der Armut bei Working Poor.

Vorteil: Wie bei der NES zahlen die Berechtigten unterhalb eines gewissen Einkommens keine Einkommenssteuern, sondern bekommen einen Zuschuss.

Nachteil: Im Gegensatz zur NES, die automatisch ausbezahlt wird, müssen Steuerkredite beantragt werden. Ein nicht automatisches System vermag die Stigmatisierung der Sozialhilfeempfangenden deshalb nur ungenügend zu beseitigen.

Meinungen: Die Wirkung von Steuerkrediten auf das Arbeitsangebot der Begünstigten ist unterschiedlich: Im unteren Einkommensbereich gleicht sie jener von Lohnsubventionen an die Arbeitnehmer. Im mittleren Einkommensbereich wirkt sie wie ein vom Einkommen unabhängiger Pauschaltransfer. Wo die Transfersumme mit mehr Arbeit überproportional sinkt, ist die Wirkung mit der NES vergleichbar. Ob das Arbeitsangebot steigt, bleibt unklar. Es ist zu erwarten, dass Erwerbstätige ihre Arbeitsstunden reduzieren, um Steuerkredite beziehen zu können.

Lohnsubventionen als Arbeitsanreiz

Mit der steigenden Arbeitslosigkeit in den Neunzigerjahren verlagerte sich die Diskussion um Grundsicherungsmodelle auf die Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik. Das ökonomische und politische System muss Wege finden, weniger produktiven
Beschäftigten einen vernünftigen Lohn zu sichern und sie in den wirtschaftlichen
Mainstream zu integrieren. Da das Lohnniveau steigt, wenn Firmen mehr solche
Leute beschäftigen, wird sich das Modell weitgehend selbst finanzieren. Lohnsubventionen können an Arbeitgeber oder Arbeitnehmer ausbezahlt werden. Lohnsubventionen an Arbeitgeber haben den Charakter von Lohnzuschüssen an Not leidende Betriebe, um Entlassungen zu vermeiden. Sie können auch als Kombilohn an Betriebe gezahlt werden, wenn diese Arbeitslose oder Sozialhilfeempfangende anstellen. Erhalten sie die Arbeitnehmenden, steht der Anreiz im Vordergrund, einer Arbeit nachzugehen, auch wenn diese schlecht entlöhnt ist.

Vorteil: Tiefstlöhne durch Fürsorgegelder aufzubessern, ist eine Lohnsubvention. Weil Nischenarbeitsplätze fehlten, nahm Monika Stocker, Stadträtin der Zürcher Grünen, den Vorschlag der 1000-Franken-Jobs wieder auf. Der Staat übernimmt in diesem Fall den Betrag, der Arbeitenden fehlt, um ihre Existenz zu sichern. Arbeitsplätze werden so künstlich geschaffen, was sozialpolitisch sinnvoll ist. Ob es auch der Wirtschaft dient, bleibt offen.

Nachteil: Lohnsubventionen können die unerwünschte Wirkung haben, dass der Staat einen Teil der Lohnkosten des Unternehmens trägt. Zudem besteht die Gefahr, dass teure Arbeitskräfte durch schlecht
bezahlte und besser qualifizierte durch subventionierte ersetzt werden. Eine Grenze, unter der keine Subventionen bezahlt werden, kann diese Gefahr minimieren.

Meinungen: Obwohl sich der Arbeitgeberverband gegen Lohnsubventionen ausspricht, ist er für verbesserte Einarbeitungszuschüsse. Dies ist eine befristete Hilfe zur Selbsthilfe und ein wichtiges Element der Eingliederungspolitik bei der IV, der ALV und bei der Sozialhilfe. Bei den Arbeitgebern sind sie nicht sehr beliebt, da sie mit einem relativ hohen Administrationsaufwand verbunden sind.

Sozialdividende als primäres Sozialeinkommen

Mit der Sozialdividende erhält jeder Einwohner und jede Einwohnerin ein primäres Sozialeinkommen, das in gleichberechtigter und bedingungsloser Weise ausbezahlt wird. Dahinter steht die Vorstellung, dass alle das Recht haben, am gesellschaftlich erarbeiteten Wohlstand und an der Nutzung der natürlichen Ressourcen eines Landes teilzuhaben. Die Sozialdividende kann auch als Sonderfall einer NES bezeichnet werden. Im Gegensatz zur NES wird sie im Voraus an die Empfänger ausbezahlt. Die Steuerpflicht beginnt ab einem Einkommen oberhalb der Sozialdividende. So zahlen alle mit einem autonomen Einkommen Steuern. Da der grössere Teil der Bevölkerung gleichzeitig die Sozialdividende bezieht und Steuern entrichtet, erzeugt dieses Modell für die ganze Bevölkerung ein sehr grosses Umverteilungsvolumen.

Vorteil: Ziel einer Sozialdividende ist nicht nur die Grundabsicherung, sondern, wie Van Parijs es formuliert, «real freedom for all». Die Grundabsicherung soll gesellschaftlich nützliche Arbeit ermöglichen, die bislang nicht bezahlt ist, Aus- und Fortbildungsphasen absichern und die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts sozial abfedern. Die Sozialdividende ist ein individuelles Recht und nicht wie die NES an die Haushaltebene geknüpft.

Nachteil: Soll eine Sozialdividende als garantiertes Mindesteinkommen dienen, muss sie längerfristig dem Existenzminimum entsprechen. Dann ist sie jedoch aufgrund des sehr hohen Geldvolumens
politisch kaum durchsetzbar. Viele Sozialdividendenvorschläge sehen daher die Existenzsicherung höchstens als langfristiges Ziel. Zu Beginn sind tiefere Beträge vorgesehen.

Meinungen: Hans Rudolf Schuppisser vom Arbeitgeberverband hält dieses Modell für zu theoretisch: Die Sozialdividende löse beispielsweise nicht die Hilfe bei schweren Schicksalsschlägen und Lebenskrisen. Zudem begünstige sie die Subventionierung von Nichtbedürftigen.
Eric Patry vom Institut für Wirtschaftsethik der Universität St.Gallen und Mitglied des B.I.E.N. bevorzugt dieses Modell als Sozialsicherungsinstrument. Der entscheidende Vorteil sei das bedingungslose Anrecht auf einen bestimmten Betrag, der nicht beantragt werden müsse.

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