«der arbeitsmarkt» 01/2006

Zürich sozial? Arbeit gesucht!

Das grösste Schweizer Sozialamt wird umgebaut. Im Zentrum stehen die Arbeits- und Integrationsprojekte. Ob der Paradigmenwechsel gelingt und wem er letztlich nützt, ist offen.

Ein gewöhnlicher Herbstmorgen an der Zürcher Langstrasse, Hausnummer 200. Urs Kendzia, 42, seit über einem Jahr im Anti-Graffiti-Projekt «Schöns Züri» beschäftigt, wird mir als Prototyp für einen Teillohn-Jobber vorgestellt. Während seines Einsatzes im «Chancenmodell» hat er sich bewährt – tägliches Schaltkastennachmalen für 300 Franken im Monat zuzüglich einer täglichen Spesenentschädigung für das Mittagessen von acht Franken. Jetzt erhält er einen Stundenlohn und darf nächste Woche drei Tage lang bei einer Firma arbeiten, die auf die Entfernung von Graffiti spezialisiert ist. Den Lohn zahlt die Stadt, um Arbeitsplatz und Betreuung kümmert sich der Betrieb. «Dazu ist die Firma im Rahmen der Aktion im Niederdorf aufgefordert», meint Kendzia, die weisse Mütze mit dem Logo des Projekts fest am Kopf: «Das läuft im Rahmen der Abo-Aktion, die die Stadt zusammen mit dem Malergewerbe und dem Hauseigentümerverband (HEV) diesen Sommer startete. Die erste Instandstellung wird von einem Malerbetrieb vorgenommen, dafür darf ich ein paar Tage bei ihm arbeiten.» Während er den projekteigenen Bus zum Niederdorf fährt, erzählt er Anekdoten. Selbst die Motorhaube des alten weissen Mercedes 310, vormals als Sixpack von der Polizei benutzt, wurde letzthin einmal versprayt, die Tafel mit dem Projektlogo geklaut.

Erfolgreiche Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt

Vor dem Grossmünster halten wir an. Die Fassade des benachbarten Schulthess-Verlages wurde letztes Wochenende mit den Worten «No Nazis» versehen. Die Liegenschaft ist eine von bisher 90, die bereits zum neuen Abo-System gewechselt haben. Das Abo wird auf drei Jahre gelöst und kostet jährlich 420 Franken bei gestrichenen Fassaden und 910 auf Beton, Back- oder Naturstein. Bereits die Erstreinigung kann einen Hausbesitzer teurer zu stehen kommen. Zumal der HEV seinen Mitgliedern einen einmaligen Pauschalbetrag von 300 Franken offeriert. Kurze Rücksprache mit dem Geschäftsverantwortlichen, Kübel und Pinsel gepackt, Klebband zur genauen Abgrenzung der zu behandelnden Fläche dabei, Folie auf dem Boden, um die Pflastersteine zu schonen. Kendzia ergänzt: «Nach der ersten Instandstellung durch das Gewerbe treten wir von ‹Schöns Züri› in Aktion. Wir erledigen die kleinen, zeitaufwändigen Sachen. Wir machen auch alle vierzehn Tage einen Kontrollgang durchs Quartier und werden selber aktiv, wenn Wände versprayt sind oder so.»
Hans-Martin Mugglin ist Projektleiter  von «Schöns Züri» und «Malerei/Siebdruck» im Tramont  («Sonnenuntergang»), einer Halle in Oerlikon Nord, wo in sieben Projekten rund 125 Teilnehmende beschäftigt sind. Er sagt: «Wir wissen noch nicht, ob wir im neuen Modell zu einem Qualifikations- oder einem Teillohnprojekt werden. Mit einer Erfolgsquote von 30 bis 45 Prozent konnten wir viele Leute in den ersten Arbeitsmarkt vermitteln. Das spricht für die Einteilung in ein Qualifikationsprojekt.» Dennoch eigne sich «Schöns Züri» besonders, um die politische Neuausrichtung von Monika Stocker, Sozialvorsteherin der Stadt Zürich, zu zeigen. «Arbeit statt Fürsorge» heisst das Motto im grössten Sozialamt der Schweiz. Das Resultat sei ein Gewinn für alle: Projektteilnehmende, Stadt, Gewerbe, Hauseigentümer und die gesamte Bevölkerung. Dies gelte gemäss Mugglin insbesondere für die Teilnehmenden: «Wir beschäftigen in ‹Schöns Züri› Personen im Stundenlohn und verlangen dafür eine grössere Leistung. Damit haben wir einen Riesenerfolg. Bis auf einen haben alle bisher einen Job gefunden.»
Die Abteilung Ergänzender Arbeitsmarkt (EAM) der Sozialen Einrichtungen und Betriebe der Stadt Zürich bietet jährlich 2300 Personen einen Einsatzplatz in verschiedenen Projekten an. Die Teilnehmenden unterschreiben eine Leistungsvereinbarung für sechs Monate, verlängerbar um weitere sechs. Diesen Winter wird die EAM-Abteilung einer gründlichen Reorganisation unterzogen. Qualifikationsprojekte sollen heruntergefahren werden, deren Teilnehmende fortan einen Zuschlag zum Existenzminimum erhalten (960 Franken für Essen, Kleidung, Hygiene, Haushalt und Freizeit plus Wohnkosten und medizinische Versorgung). Einzelne Projekte sollen darüber hinaus zu eigentlichen Sozialfirmen umgebaut werden, deren Angestellte eine Entschädigung von 1000 Franken vom Sozialamt erhalten. Den Rest erarbeiten sich die Teilnehmenden selbst. Die Stadt geht davon aus, dass die Summe einem Lohn von 1600 bis 3200 Franken entspricht, je nach Produktivität. Zielgruppen der neuen «Jobs» am Existenzminimum sind folgende Personen:
• junge Erwachsene, die nach dem Schulabschluss den Berufseinstieg nicht schaffen
• junge Ausländerinnen und Ausländer
ohne gute Sprachkenntnisse und/oder mit schlechter Grundausbildung
• die so genannten 50+, welche die Zeit bis zur Pensionierung überbrücken müssen
• beruflich Qualifizierte mit zum Teil guter Karriere, deren Beruf es nicht mehr gibt (beispielsweise Typografen)
• Erwachsene um die 30 bis 40, die während des Aufschwungs keinen Abschluss machten und heute einen benötigen

Diese Menschen haben besondere Schwierigkeiten, im ersten Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen, obwohl sie eigentlich voll arbeitsfähig wären. Zu ihnen gehört wohl auch Sharif Djahad, 29, der seit vier Monaten im «Chancenmodell» bei «Schöns Züri» arbeitet. Der ehemalige irakische Polizist ist seit anderthalb Jahren arbeitslos und heute auf die Zürcher Sozialhilfe angewiesen. Seinen ursprünglichen Beruf musste er als Nicht-Schweizer von Anfang an an den Nagel hängen. «Das ist immer noch besser, als zuhause zu bleiben», umschreibt Djahad die Chance, die er dank des Modells erhält. Auf der Homepage des Sozialdepartements heisst es, er leiste dafür «einen bedeutenden Beitrag zur Verschönerung der Stadt Zürich».

Verletzung des Gleichstellungsgebots?

Wer wird eigentlich in Zukunft über die Zuteilung der Einzelnen in ein Qualifikations- beziehungsweise Teillohnprojekt entscheiden? Diese Frage ist zentral, denn es hängt von der Motivation der Teilnehmenden ab, ob die verfügten Massnahmen zum gesetzten Ziel führen. Da besonders die oben erwähnten Zielgruppen kaum etwas dafür können, dass sie in ihre missliche Lage geraten sind, geht es nicht um Bestrafung, sondern um Förderung der Hilfesuchenden.
In Zürich liegt der Zuteilungsentscheid einzig in der Kompetenz des Sozialzentrums: Die Personalberater des «Teams Arbeit» arbeiten eng mit der mit dem Fall betrauten Sozialarbeiterin, den Arbeits- und Qualifizierungsprogrammen und lokalen Arbeitgebern zusammen. Das birgt Gefahren. Es hängt nämlich allein von den einzelnen Beamten ab, wie stark die Teilnehmenden in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Letztere können sich schliesslich nur mit einem Rekurs bei der (direktionsinternen) Einzelfallkommission wehren.
Dabei bestimmt die Massnahme nicht nur über die Freizeit der Sozialhilfeempfangenden, die an sich schon ein wertvolles Gut ist, sondern auch über ihre finanzielle Lage am Rande des Existenzminimums. Fortan wird in der Stadt Zürich nämlich folgende Abstufung gelten: «Arbeitswillige» kommen in das Teillohnprogramm und erhalten 1000 Franken zuzüglich eines Lohnes, gemessen an ihrer Produktivität. Alle anderen erhalten weiterhin die übliche Fürsorge. Wer eine Integrationsleistung erbringt (Qualifizierungsprogramme), erhält 100 bis 300 Franken Zuschlag (Integrationszulage). Sozialhilfebeziehende, die als nicht leistungsfähig eingestuft werden (alleinerziehende Mütter, Behinderte, Asylsuchende mit Arbeitsverbot), erhalten eine minimale Integrationszulage von 100 Franken. Das werten Sozial- und Rechtswissenschafter als Verletzung des Gleichstellungsgebots.
Auf der anderen Seite können Kürzungen von 15 Prozent erfolgen, wenn Anordnungen auch nach schriftlicher Mahnung nicht befolgt werden. Der minimale Grundbedarf kann in Ausnahmefällen gar ganz gestrichen werden. Gegner der Bestimmung argumentieren mit der Verfassung, welche die Sozialämter dazu verpflichtet, allen – unabhängig von ihrem Verhalten – ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Ein entsprechendes gerichtliches Verfahren steht zurzeit in Basel an. Eine ähnliche Bestimmung im Asylrecht wurde letztes Jahr vom Bundesgericht als verfassungswidrig zurückgewiesen.
Das Gegenseitigkeitssystem ist nicht neu und wurde in Kanada und den USA schon in den Achtzigerjahren eingeführt. In Grossbritannien fand «Workfare» oder «Welfare-to-Work» (Anlehnung an «Welfare» = Wohlfahrt) bereits unter Margaret Thatcher Einzug und wurde dann unter Tony Blair durchgesetzt. Mittlerweile wurde der Paradigmenwechsel in Norwegen, Holland, Dänemark und Deutschland (Hartz-Gesetze) mindestens zum Teil nachvollzogen. In der Schweiz wurde das Konzept unter dem Motto «Arbeit statt Fürsorge» erst diesen Frühling mit den neuen SKOS-Richtlinien gesetzlich verankert. Eine Studie des Soziologen Joel F.Handler, die das System von «Workfare» in den USA und verschiedenen westeuropäischen Staaten untersucht, zeigte 2003 auf, dass damit ein grosser Teil der unterstützten Personen erst recht ausgegrenzt wird: Als «Arbeitsunwillige», gar «Renitente» erhalten die Betroffenen weniger bis gar kein Geld von der Sozialhilfe (siehe oben). Stossend ist es beispielsweise, wenn sie nicht mehr das Geld auftreiben können, um sich zu bewerben beziehungsweise eine Stelle anzunehmen. Aber auch im Betrieb kann sich die Abstufung nach Leistung negativ auswirken: Die Arbeitsunwilligen erhalten die härteren, schlechteren Arbeiten, werden dadurch noch mehr frustriert, was ihre Leistung zusätzlich vermindert.
Hans-Martin Mugglin beschreibt das Gegenteil und sieht darin auch einen besonderen Anreiz: «In der ‹Malerei/Siebdruck› haben wir neben Asylsuchenden, Schülern im Time-out, Teilnehmenden von Arbeits- und Qualifikationsprogrammen auch Lehrlinge und Personen im normalen Stundenlohn. Die Leute machen durch die Abstufungen eine intensivere Entwicklung mit und sind dank dem Anreizsystem besser vermittelbar. Sie haben die Möglichkeit, die verschiedenen Situationen miteinander zu vergleichen und damit ihre eigene zu erkennen. Somit handeln sie selbständiger, eigenverantwortlicher – auch wenn sie immer noch nicht finanziell von der Sozialhilfe abgelöst sind.»

Partnerschaften aus der Wirtschaft gesucht

Neben der Restrukturierung nach obigem Muster will die Stadt Zürich nun analog zu ihren Vorbildern dies- und jenseits des Atlantiks Sozialfirmen gründen: Unternehmen, die mindestens die Hälfte ihres Umsatzes am Markt verdienen und mindestens 30 Prozent Langzeitarbeitslose oder Behinderte angestellt haben. Sie will in den nächsten zwei Jahren weitere 550 Nischenarbeitsplätze schaffen. Damit soll Langzeitarbeitslosen die Möglichkeit gegeben werden, ihren Lebensunterhalt wenigstens teilweise selber zu finanzieren. Das ist nicht einfach, wenn man sich die Zahlen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) vor Augen führt. Diese belegen, dass in den letzten zwei Jahren gesamtschweizerisch tatsächlich etwa 9000 neue Stellen geschaffen wurden. Jedoch erhöhte sich im selben Zeitraum die Anzahl Erwerbsloser um 15000. Deshalb setzt Zürich auf Dienstleistungen im öffentlichen und gemeinnützigen Bereich (Pflege, Putzarbeiten, Recycling) sowie auf die Herstellung einfacher Produkte, so genannte Nischenbereiche. Und sucht aktiv Partnerschaften mit der Wirtschaft.

Subventionierung und Lohndumping

Als Beispiel für ihr Vorhaben dient der Stadt unter anderem die Mensa im Birch, einem neu erbauten Schulhaus in Zürich-Oerlikon. Dort betreibt das Sozialdepartement ein Integrationsprojekt im Auftrag des Schul- und Sportdepartements, dessen Modell leicht auf weitere Schulhäuser übertragen werden könnte. Eine Gruppe von 20 Sozialhilfebeziehenden hält die Mensa täglich von acht bis halb vier für Lernende und Lehrpersonal offen und wird dabei in die Bereiche Küche, Buffet, Kasse und Reinigung eingeführt.
Zurzeit arbeiten die Angestellten hier im Chancenmodell, also für ihren Grundbedarf plus 300 Franken Integrationspauschale.
Als Sozialfirma könnte die Mensa «echte» Löhne auszahlen, wobei echt in Anführungs-zeichen steht, weil die Stadt diese Saläre monatlich mit 1000 Franken subventionierte. Das scheint auf den ersten Blick eine tolle Idee, birgt aber auch Konfliktpotenzial.
Durch die Subventionierung einzelner Arbeitsplätze können bestehende zusätzlich bedroht (Substitutionseffekt) und die Arbeitsbedingungen insgesamt nach unten gedrückt werden (Lohndumping). Der Sozialwissenschafter Eric Shragge, Professor in Montreal (Kanada), hat bereits 1997 solche Effekte für sein Land nachgewiesen. Eine Studie zu den Wirkungen von Beschäftigungsprogrammen für ausgesteuerte Arbeitslose in der Schweiz kommt zum Schluss, dass in der Stadt Zürich 1999 jeder neu geschaffene 100-Prozent-Jahresarbeitsplatz in einem kollektiven Beschäftigungsprogramm in den Bereichen Gastronomie und Hausdienste auf diese Weise eine real existierende 70-Prozent-Stelle im ersten Arbeitsmarkt verdrängte.
Damit sich die Massnahme trotzdem bewährt, müssten jährlich mindestens 23 Prozent der Teilnehmenden in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. «Das müssen wir in Kauf nehmen», ist Max Fritz, Geschäftsführer der Vereinigung Zürcherischer Arbeitgeberverbände der Industrie (VZAI), überzeugt. «Wir müssen verhindern, dass hier Entwicklungen wie in Paris – Stichwort ‹Frankreich brennt› – stattfinden.» Sein Eingangsreferat zur Tagung «Allianzen in der Arbeitsintegration: Mehrwert für Unternehmen?» bringt die Stimmung im Singsaal des Schulhauses im Birch am 9. November auf den Punkt: «Das schleckt keine Geiss weg – die Sozialhilfefälle explodieren!» Doch die Schweizer Wirtschaft floriere nur, wenn der soziale Frieden gewahrt bleibe. Zur Entschärfung dieses Problems haben die Stadt Zürich und der Verein «The Sustainability Forum Zurich» (TSF, Zürcher Nachhaltigkeitsforum) Wirtschaftskader und höhere Sozialbeamte eingeladen, um über mögliche Partnerschaften zwischen Staat und Wirtschaft, so genannte Private-Public-Partnerships (PPP), zu diskutieren. Gekommen sind über 100 Personen, je zur Hälfte aus Staats- und Wirtschaftskreisen. Vorgestellt wurden bestehende Partnerschaften auf allen Ebenen: Motivationssemester bei der Migros (Projekt «spice»), Basisjahr bei Siemens (Lehrlingsprojekt), das Engagement der bundeseigenen Rüstungsfirma RUAG (140 geschützte Arbeitsplätze) sowie die St.Galler Stiftung für Arbeit, die 220 Sozialhilfe-Empfangende in den Bereichen Recycling, Industrie, Reinigung, Garten und Bau beschäftigt.

Zudienen ja – inhaltlich bereichern nein

Im Übrigen ist TSF selbst ein PPP-Projekt im Sozialbereich. Die Tagungsadministration wurde vom EAM-Büroprojekt bestritten, die Verpflegung von der Mensa im Birch besorgt. Leider wurden die Programmteilnehmenden an der Tagung schlicht übersehen. Sie durften den Wirtschafts- und Sozialkadern zudienen, nicht aber die Tagung mit Inhalten bereichern. Ihre Interessen und Konflikte kamen denn auch kaum zur Sprache. So kam es, dass die illustren Tagungsteilnehmenden eine Einschreibegebühr von 440 Franken bezahlen mussten, was genau der Summe entspricht, die die Migros der Stadt monatlich für die Arbeit eines «spice girl», einer Teilnehmenden des Motivationssemesters, bezahlt. Das Beispiel zeigt: Die Stadt muss noch beweisen, dass ihre Rechnung auch für Letztere aufgeht.

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