«der arbeitsmarkt» 06/2005

Wohltätigkeit als gesellschaftliche Wohltat

In den USA ist privates soziales Engagement gang und gäbe, in der Romandie en vogue. Jetzt entdecken auch Deutschschweizer die Wohltätigkeit.

Der rote Teppich ist ausgelegt, der Baldachin aufgespannt und die schönen Blumendekors verleihen dem Eingang edlen Glanz. 600 festlich gekleidete Leute aus acht Rotary-Clubs feiern heute im Zelt des Circus Monti
das hundertjährige Jubiläum von Rotary International. Das Motto lautet «Rotarier in der Manege», aber als Höhepunkt der Veranstaltung ist die Übergabe eines Checks an die Kinderspitex Nordschweiz vorgesehen. Wie hoch der Betrag ist, wird noch geheim gehalten.
Benefiz oder Charity, was so viel bedeutet wie «Nächstenliebe», ist wieder angesagt. Denn der öffentlichen Hand fällt es aus finanziellen Gründen immer schwerer, ihre zahlreichen Aufgaben zu erfüllen. Trendsetter sind auch hier die USA, und Filmstar Sharon Stone zeigte in Davos, wie es geht. Bei einer Diskussion anlässlich des diesjährigen World Economic Forum (WEF) verkündete sie spontan, «hier und jetzt 10000 Dollar zu spenden».
Wie steht es um das Sozialengagement von Schweizerinnen und Schweizern? In der Romandie gehört es seit längerem zum guten Ton, dass Frauen und Männer aus guten Kreisen ehrenamtlich den alljährlich stattfindenden Rotkreuz-Ball des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) organisieren. Es wird für die Opfer vergessener Katastrophen gesammelt und es werden Preise versteigert. Beispielsweise vor zwei Jahren eine Collage der Segelyacht Alinghi, eine Yachttour auf dem Genfersee und ein Tennismatch. Das alles persönlich von und mit Ernesto Bertarelli, dem obersten Boss der Firma Serono, einer der grössten Biotechfirmen Europas. Der Erlös betrug rund 150000 Franken. Und dieses Jahr fand zum ersten Mal die «White Night» statt, ein Stelldichein der Crème de la Crème der Society. Es ging nicht nur um Sehen und Gesehenwerden, es ging auch um Wohltätigkeit, um Charity. Gesammelt wurde für die Unicef.
Wohlwollen trägt auch zum eigenen positiven Image bei. Das Verbandsmanagement-Institut (VMI) der Universität Freiburg hat in verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen festgestellt, dass Wohltäter nicht ausschliesslich uneigennützig handeln. Man erhöht sich mit wohlwollendem Handeln den eigenen sozialen Status, gewinnt an Prestige und öffentlicher Anerkennung. Fernsehmoderator Kurt Aeschbacher sagte in einem Interview mit der «Schweizer Illustrierten», 10 Prozent seiner Zeit und seines Geldes der Gesellschaft schuldig zu sein. Und dass er nicht nur von seiner Bekanntheit profitieren, sondern auch etwas zurückgeben wolle. Hat Wohltätigkeit unter anderem etwas mit Schuldigkeit zu tun? Aeschbacher heute: «Helfen hat nichts mit Schuldigkeit zu tun, sondern schlicht mit einer ethischen Notwendigkeit. Wem es gut geht, dem geht’s dann noch besser, wenn er nicht nur an sich denkt. Geben macht Spass, hilft dem Ego und verändert vielleicht sogar die notdürftige Situation eines anderen. Es hilft auch dem Staat, weil er darauf zählen kann, dass seine Bürger aus Überzeugung Aufgaben übernehmen, die er selbst immer weniger erfüllen kann. Die Schweiz braucht dringend mehr Charity.»

Leistungsabbau beim Staat fördert Spendenbereitschaft

So düster sieht es nicht aus. Es gibt eine Vielzahl von gemeinnützigen Institutionen, Vereinen und Stiftungen. Zewo, ebenfalls eine Stiftung und zugleich Spendenfachstelle, setzt sich für die Transparenz und Lauterkeit im Spendewesen ein. Sie prüft gemeinnützige, Spenden sammelnde Organisationen und vergibt ein Gütesiegel. In der Schweiz leistet jeder Dritte in irgendeiner Form Freiwilligendienst. Das SRK beispielsweise betreibt einen Rotkreuz-Notruf, und hierbei helfen Freiwillige mit. Er erlaubt betagten Menschen, trotz Altersbeschwerden in den eigenen vier Wänden zu leben, was auch günstiger ist. Heimbewohner bezahlen ihren Aufenthalt vielfach mit Geld aus den Ergänzungsleistungen der AHV. Dadurch arbeiten die Heime unter anderem oftmals nicht
kostendeckend. Einen Teil der Kosten übernimmt dann die öffentliche Hand. «Gäbe es diesen Notruf nicht, müssten mehr Betagte in Heimen untergebracht werden. Was wiederum mehr Kosten verursachen würde, die die öffentliche Hand decken müsste», so Kurt Sutter, Zentralsekretär der Rotkreuz-Kantonalverbände.
Doch je mehr Organisationen sich engagieren, desto begehrter sind Spenderinnen und Spender. Der Markt ist heute hart umkämpft, denn das jährliche durchschnittliche Spendenvolumen ist in der Schweiz in etwa gleich bleibend. Das sind zirka 800 Millionen Franken im Jahr, genaue Zahlen sind nicht ermittelbar. Die Höhe des Spendenvolumens hängt auch davon ab, ob ausserordentliche Katastrophen eintreten. Und wer bekommt am meisten Geld?
«Die meisten Spendengelder fliessen in den Sozialbereich. Am meisten Spenden bekommen das Schweizerische Rote Kreuz, die Krebsliga und die Caritas», so Georg von Schnurbein, wissenschaftlicher Mitarbeiter des VMI. Gespendet wird vor allem aus Solidaritätsgründen. Der Spendenmonitor 2003, eine repräsentative Befragung des Markt- und Sozialforschungsinstitutes gfs-zürich, ergab, dass rund drei Viertel der Befragten aus Solidarität spenden. Der Anteil derjenigen, die spenden, weil in ihren Augen der Staat zu wenig mache, hat sich im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt. Die Autoren der Studie interpretieren dies als Reaktion auf den politischen Trend zum Leistungsabbau beim Staat. «Für 2004 zeichnet sich ein ähnliches Bild ab», so Martin Abele, Leiter der Befragung. Die Ergeb-nisse des Spendenmonitors 2004 werden im Sommer 2005 publiziert.

Reiche Frauen lernen, Geld für eine bessere Welt auszugeben

Helfen hat in der Vergangenheit auch bekannte helvetische Grössen hervorgebracht, zum Beispiel Henry Dunant (1828 bis 1910). Zu Gast bei Napoleon im Jahr 1859 sah er auf dem Schlachtfeld von Solferino (Norditalien) – einer der blutigsten Schlachten der Geschichte – unzählige Verwundete und Sterbende, praktisch ohne ärztliche Hilfe. Nach Solferino rief er zur Gründung von nationalen Hilfsorganisationen auf, die
Freiwillige für die Pflege von Kriegsverwundeten ausbilden. Am 17. Februar 1863 gründete er zusammen mit vier Personen, darunter General Guillaume-Henri Dufour, in Genf ein Komitee, das spätere Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Oder der Zürcher Stadtarzt Johann Jakob Hirzel, der 1810 die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) ins Leben gerufen hat. Seit ihrem Bestehen gründete die SGG eine ganze Reihe von verschiedenen gemeinnützigen Organisationen. Und sie war es, die zum Beispiel auf Bundesebene die unentgeltlichen und obligatorischen Volksschulen politisch durchsetzte. Und heute? Da ist zum Beispiel Anja Bremi, Präsidentin der Interessengemeinschaft für praktische Alterfragen (IG Altern) und Frau des ehemaligen FDP-Nationalrates Ulrich Bremi. Sie setzt sich im Seniorenbereich ein. «Für Kinder- und Tierprojekte erhält man Geld, für alte Menschen aber nur wenig», sagt sie. Als Berufsschullehrerin für Krankenpflege war sie schon früher im Sozialbereich tätig und weiss: «Soziales Engagement ist auch eher Sache der Frau. Männer engagieren sich freiwillig mehr im Sport- und Kulturbereich.»
Die Frauen der Charity Organisation Society COS, der 1877 im Staat New York gegründeten ersten Charity-Organisation, nannte man «friendly visitors». In der Regel waren dies Frauen aus gesellschaftlich privilegierten Familien, die ehrenamtlich hilfebedürftige Familien betreuten. In den heutigen USA gibt es unter anderem ein Informationszentrum «Resourceful Women». Reiche Frauen lernen dort, wie sie ihr Geld
in den Dienst einer besseren Welt stellen können.
«In Amerika ist es ein ‹must›, dass man sich sozial engagiert», sagt Anja Bremi. «In der Pionierzeit war man auf gegenseitige Hilfe angewiesen. In der Schweiz könnten viele helfen, tun es aber nicht. Und schliesslich braucht jeder irgendwie eine Aufgabe. Mit Sozialengagement erhält man so viel an menschlicher Lebenserfahrung zurück.»
Was einem an Glück und Reichtum beschert ist, will auch weitergegeben werden. «Die richtige Art zu sammeln ist auszuteilen», lehrte Lucius Annaeus Seneca, römischer Politiker und Philosoph (ca. 4 v. Chr. bis 65 n. Chr.). Die privilegierte Bankiersfrau Yvonne Kurzmeyer investierte persönlich 700000 Franken in die von ihr gegründete Stiftung «Hoffnung für Menschen in Not». Daraus ist 2001 das Projekt «Schweizer Tafeln» entstanden. Dabei werden Lebensmittel, die aufgrund des abgelaufenen Verkaufsdatums vernichtet würden, jedoch noch geniessbar sind, von Grossverteilern an soziale Institutionen verteilt. Das sind jährlich zirka 750 Tonnen. «Begonnen hat es bei einem Glas Wein mit Bekannten», erzählt Yvonne Kurzmeyer. «Ein Mann begann plötzlich von seiner misslichen Lage zu berichten. Er ist sukzessive abgestürzt, buchstäblich durch das soziale Netz gefallen.»

Gutes Essen, feiner Wein und ein gut dotierter Check

Die Bankiersfrau baut derzeit in jeder Stadt, in der eine Tafel vorhanden ist, eine Tafel-Loge auf. Die jährlichen Betriebskosten für eine Tafel betragen rund 150000 Franken. Mit einer Tafel-Loge will sie Geldgeber
ansprechen, die mithelfen, diese Betriebskosten zu decken. Vermögende Frauen können sich mit einem Jahresbeitrag von 5000 Franken an der Tafel-Loge beteiligen. Firmen bezahlen 10000 Franken pro Jahr.
Um Geld geht es nun auch in dem mit Rotariern gefüllten Zelt des Zirkus Monti. Nach einer facettenreichen Darbietung der Clowns folgt der Höhepunkt des Abends:
Radio- und Fernsehmoderator Dani Fohrler übergibt Lucia Vogt, Leiterin des Kinderspitex Nordwestschweiz, einen Check. Die Kinderspitex Nordwestschweiz ist eine private Organisation, die Familien mit kranken oder pflegebedürftigen Kindern unterstützt und mit Spendengeldern finanziert wird. Das Geheimnis ist gelüftet: Der Check ist auf 750000 Franken ausgestellt. Kurz darauf ist die Zirkusvorstellung zu Ende. Es gab gutes Essen, feinen Wein, es wurde jubiliert und das Wichtigste: Es gab diesen Check.

 

Wirkliches Engagement bedeutet Knochenarbeit

Ellen Ringier, Juristin und Verlegersgattin, über ihr soziales Engagement.

«der arbeitsmarkt»: Man betitelte Sie einmal als beseelte Kämpferin für mehr Solidarität. Was hat Sie dazu bewegt, sich im Sozialbereich zu engagieren? Gibt es ein Schlüsselerlebnis?
Ellen Ringier: Es ist eine knöchrige Hand, die mir in Erinnerung bleibt. Ich war damals in der Pfadi, vielleicht zwölf Jahre alt. Wir besuchten kurz vor Weihnachten die Allgemeinabteilungen im Kantonsspital Luzern. Wir sangen Lieder, verteilten jedem eine Kerze in einer Mandarine auf Tannenzweigen. Am Krankenbett eines alten Mannes berührte mich plötzlich eine knöchrige Hand. Der Patient war überglücklich über den Besuch, nannte mich sogar einen «Engel». An Weihnachten erhielt ich dann die beste, neuste Skiausrüstung von meinen Eltern. Doch diese Ausrüstung freute und berührte mich seltsamerweise niemals so stark wie die
Worte und das Strahlen des alten Mannes.

Eigentlich könnten Sie als wohlhabende Person nur die schönen Seiten des Lebens geniessen. Stattdessen engagieren Sie sich seit 15 Jahren ausschliesslich unentgeltlich in verschiedenen Stiftungen und Projekten.

E.R.: Früher, in der Nachkriegszeit, war es selbstverständlich, dass man sich gegenseitig geholfen hat. Mit dieser Einstellung bin ich aufgewachsen und an dieser hat sich bis heute nichts geändert. Auch meine Mutter, meine Grossmutter haben sich stets im sozialen Bereich engagiert. Die Stiftung «Humanitas», die von der Firma Ringier alimentiert wird und die ich heute präsidiere, wurde vom Grossvater meines Mannes, Michael Ringier, gegründet. Er hat, ich glaube, es war in den Dreissigerjahren, Leute entlassen müssen, dabei aber auch diese Stiftung gegründet, um den Arbeitern und ihren Familien zu helfen. Mein Sozialengagement hat tatsächlich Familientradition. Ich denke mir, dass man gerade wenn man privilegiert ist, erst recht verpflichtet ist, soziale Verantwortung zu übernehmen.

Nützt Ihnen Ihr Name Ringier in Ihren Engagements?
E.R.: Ja, mein Name öffnet mir Türen und mein Mann unterstützt mich sehr in allen meinen Engagements.

Sie verkehren auch in der «High Society». Wie reagiert dieses Umfeld auf Ihr Engagement?
E.R.: Man bezeichnete mich auch schon als «Krypto-Kommunistin». Zum grössten Teil erhalte ich aber positive Reaktionen. Viele aus dem «High Society»-Umfeld hätten die Möglichkeit, sich persönlich karitativ und sozial zu engagieren, tun es aber nicht. Es reicht eben nicht aus, nur Geld zu spenden oder an einer Benefizveranstaltung im schicken Kleid oder Anzug mit dabei zu sein. Wirkliches Engagement im Sozialbereich
bedeutet Knochenarbeit. Was auch heissen kann, sich mit Not, Ausgrenzung, Gewalt auseinander setzen zu müssen. Das ist anspruchsvoll, kann auch unbequem sein.

Sie sind Verlegerin von «Fritz und Fränzi», einem Magazin für Eltern schulpflichtiger Kinder. Wieso verlegen Sie gerade diese Zeitschrift?
E.R.: Man lehrte mich in meinem Jus-Studium, dass die Familie ein wichtiges Glied unserer Gesellschaft und unseres Staates ist. Gäbe es mehr fürsorgliches Miteinander und auch mehr Solidarität unter den Mitmenschen, wären viele der heutigen Probleme gar nicht vorhanden. Übrigens leisten wir uns eine Regierung, die nicht einmal ein Familienministerium hat! Indem wir mit der Stiftung «elternsein» den Eltern über «Fritz und Fränzi» bei der zunehmend schwieriger werdenden Erziehungsarbeit beistehen, wollen wir einem «vergessen» gegangenen Teil unserer Gesellschaft helfen.

Der amerikanische Staat kümmert sich in sozialen Belangen nur wenig – wenn überhaupt – um seine Bürger. Für viele Amerikaner ist es fast schon eine Selbstverständlichkeit, sich sozial zu engagieren. Kann es sein, dass wir in der Schweiz auch einmal amerikanische Zustände vorfinden werden?
E.R.: Eine «Veramerikanisierung» in der Schweiz findet bereits statt. Allerdings nur auf der Einnahmen- und nicht auf der Ausgabenseite! Es werden Managerlöhne gezahlt, die weit über eine Entlöhnung für geleistete Dienste hinausgehen. Ich bin überzeugt, dass manche Firma ohne Not fusioniert wurde, damit ein Management sich den für einen Verkauf oder eine Fusion vorgesehenen «golden parachute» auszahlen konnte. Auf der anderen Seite wurden Entlassungen ausgesprochen und es gerieten Arbeitnehmer und deren Familien – ohne Not – in soziale und finanzielle Not.

Wie könnte soziales Engagement gefördert werden?
E.R.: Soziales Engagement soll auch gesellschaftliches Ansehen und Anerkennung bringen, nicht der Kauf eines weiteren, leer stehenden Ferienhauses oder eines aufsehenerregend teuren Autos. Nach meiner Auffassung müssten wir dringend zusätzliche Anreize für Sponsoring oder mäzenatische Leistungen verbessern, wie Erhöhung der Steuerabzugsfähigkeit für Geldspenden, Schaffung des Instruments der steuerabzugsfähigen «Zeitspende», AHV-Gutschriften für Frauen, die im NPO-Bereich tätig sind, und so weiter. Ich denke, der pensionierte Jurist oder Arzt kann im Sozialbereich auch nach der Freistellung von der bezahlten Arbeit unentgeltliche Leistungen anbieten. Oder ich denke an die Hausfrau, die nebenbei noch einen Mittagstisch betreuen könnte, bis sie wieder ins Erwerbsleben tritt. Jeder eben nach seinen Stärken und Möglichkeiten. Mit einem Sozialengagement ist man auch in die Gesellschaft integriert, ein nicht zu unterschätzendes Mittel gegen Vereinsamung und Isolation.

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