«der arbeitsmarkt» 01/2006

Wo äussere Probleme dem inneren Halt weichen

Was tun mit Mädchen, die zu Hause Probleme haben, die Schule schwänzen oder auf die schiefe Bahn geraten? In der Beobachtungsstation Heimgarten in Bern versucht man, ihnen neue Perspektiven zu geben. Das klappt nur, wenn alle am gleichen Strang ziehen.

Flavias Zimmer befindet sich im ersten Stock, gegen Ende des Korridors, der vom Treppenhaus nach rechts führt. Die Tür ist abgeschlossen. «Es ist in letzter Zeit viel geklaut worden», erklärt Flavia und dreht den Schlüssel im Schloss. Das Zimmer ist spärlich eingerichtet. Ein Bett, ein Tisch, eine Waschecke, ein Schrank, ein Spiegel und eine Stereoanlage. Die Wände sind kahl. Einziger Blickfang: Auf dem Tisch ein Kerzenständer ohne Kerzen und eine Rose, die noch in Plastikfolie eingepackt ist.
Eine Etage höher, am anderen Ende des Gangs, befindet sich Janines Zimmer. Das Mobiliar ist das gleiche. Trotzdem wirkt das Zimmer freundlicher. An der Wand über dem Schreibtisch hängen Poster der Boygroup «US5» sowie der Band «Simple Plan».
Auf einem anderen Bild ist eine grosse Sonnenblume abgebildet. Am Schrank gegenüber sind Glückwunschkarten und Fotos angeklebt. Lauter Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse mit der Familie.  
Flavia und Janine sind beide 14 Jahre alt. Zurzeit leben sie zusammen mit acht anderen jungen Frauen in der Beobachtungsstation (Beo) Heimgarten im Berner Obstbergquartier, nur wenige Schritte vom Egelsee entfernt. Früher war der Heimgarten ein «Haus für gefallene Mädchen», gegründet von der evangelischen Frauenhilfe. Vor allem junge ledige Frauen, die ein Kind erwarteten, fanden im Heimgarten ein vorübergehendes Zuhause.
Heute bietet er zehn Plätze für weibliche Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, die sich in einer psychischen, familiären, sozialen oder schulischen Krisensituation befinden, an.

Junge Männer werden häufiger straffällig

Keines der Mädchen ist freiwillig hier. Die meisten von ihnen wünschen sich nichts sehnlicher, als wieder nach Hause zu dürfen. Es kommt zwar auch vor, dass sich Jugendliche aus eigener Initiative an den Heimgarten wenden. Dies sei aber eher selten der Fall, erzählt Heimleiter Christoph Wüthrich. In der Regel werden die Mädchen von der Vormundschaftsbehörde oder vom Jugendgericht in den Heimgarten eingewiesen. Dann nämlich, wenn die Behörden nicht wissen, wie es mit den Mädchen weitergehen soll, wenn die Situation unklar ist und es weiterer Abklärung bedarf, welche  längerfristige Unterstützung für die Mädchen geeignet ist. Der Aufenthalt in der Beobachtungsstation ist auf drei bis sechs Monate begrenzt. Danach wird aufgrund des Berichts der Beobachtungsstation von den Zuweisenden eine Entscheidung gefällt.
Es gibt in der Schweiz nur wenige derartige Institutionen für weibliche Jugendliche. Das hänge auch damit zusammen, dass junge Frauen viel weniger oft straffällig werden als junge Männer, erklärt Christoph Wüthrich. Bei Mädchen überwiegen zivilrechtliche Einweisungen. Im Jahr 2005 gab es 25 zivil- und vier strafrechtliche Einweisungen in den Heimgarten. «Mädchen gehen anders mit Problemen um als Knaben. Sie leiden stiller», sagt Wüthrich. Ihre Schwierigkeiten richten sie mehrheitlich nach innen, gegen sich selber. Depressionen, Drogenprobleme, Essstörungen, Selbstverletzungen oder Selbstmordversuche sind häufige Anzeichen für die ungelösten persönlichen, familiären oder sozialen Schwierigkeiten der Mädchen. Sie haben Mühe, sich in ihrem Umfeld zu integrieren. Sie reissen von zu Hause aus, schwänzen die Schule, mobben ihre Mitschüler oder werden selber gemobbt. Die Gründe sind vielfältig, und jede Geschichte ist wieder anders.
Flavia ist seit vier Monaten in der Beo Heimgarten. Sie hat schulterlanges, blondes Haar und eine zierliche Figur. Ihre Stimme ist sanft. Sie spricht leise und überlegt. Einmal in der Woche geht sie ausserhalb des Heimgartens ins Training. Sie macht Cheerleading. Sie mag Hiphop, Latino und R’n’B. Ein ganz normales Mädchen, nur etwas ernster und stiller. Bevor sie in den Heimgarten kam, hat Flavia bei den Eltern, bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater, gewohnt. Zuhause habe sie es schwer gehabt, erzählt sie offen. Mit der Mutter gab es viel Streit. «Ich konnte mit ihr kein normales Gespräch führen, wir haben uns immer nur angeschrien», erinnert sie sich. Mit zwölf Jahren blieb Flavia regelmässig bis drei Uhr nachts von zuhause weg. Sie trieb sich auf Partys und in Clubs herum. Von den Eltern habe sie sich nichts mehr sagen lassen. Auch in der Schule gab es Probleme. «Ich war eine Aussenseiterin, niemand hat mich gemocht.»
Ihr damaliger Freund war gewalttätig. Mit viel Schminke versuchte sie, ihre blauen Flecken zu kaschieren, damit die Mutter nichts merkte. Sie unterbrach die Schule und arbeitete fünf Monate lang im Restaurant der Eltern. Danach wechselte sie die Schule. Doch tauchten schnell die alten Probleme auf. Als Flavia nicht mehr hinging, machte die Schule eine Gefährdungsmeldung.
Kommt eine Jugendliche in den Heimgarten, wird zuerst erfragt, was vorgefallen ist und wie die Situation rund um die Jugendliche aussieht. Um ein Bild der Gesamtsituation zu erhalten, wird mit den wichtigsten Bezugspersonen der Jugendlichen zusammengearbeitet. Wüthrich unterscheidet zwischen einer Orientierungs-, einer Prozess- und einer Abschlussphase. In der Prozessphase wird abgeklärt, wo Veränderungen möglich und
in welcher Form sie möglich sind. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, welche begleitenden Massnahmen es braucht, damit eine Jugendliche wieder in die Schule geht oder nicht mehr straffällig wird. Dabei gilt es, verschiedene Aspekte zu berücksichtigen.
Im Heimgarten wird deshalb stark interdisziplinär gearbeitet. Sieben Sozialpädagogen – «die Sozis», wie sie von den Mädchen genannt werden –, drei Lehrer und zwei Psychologen sind in den Abklärungsprozess involviert.

Überforderte Eltern

Das Wichtigste sei aber, die Jugendlichen und die Eltern für eine Kooperation zu gewinnen. «Wenn dies gelingt, ist vieles möglich», ist Wüthrich überzeugt. Genau das ist aber oft die grösste Knacknuss. «Es ist das alte Prinzip: Wir können jemandem nur helfen, wenn er etwas von uns will. Meistens jedoch nehmen vor allem die Jugendlichen es gerade umgekehrt wahr, sie haben das Gefühl, wir wollten etwas von ihnen», erklärt Wüthrich. Die Eltern zur aktiven Zusammenarbeit zu gewinnen, ist oft nicht weniger schwierig. Viele Jugendliche sind bereits durch etliche Institutionen gegangen: Schulpsychologen, Erziehungsberatung, Therapien undsoweiter – alles ohne Erfolg. Die Eltern sind in solchen Situationen vielfach überfordert. «Sie haben das Gefühl, versagt zu haben, resignieren und geben ihr Kind gerne an Experten ab mit dem Wunsch, dass diese es flicken», erzählt Wüthrich. In diesen Fällen versuchten sie den Eltern schonend beizubringen, dass nur die Eltern selbst dazu in der Lage seien. «Wir sind keine Reparaturwerkstatt», betont Wüthrich. «Unser Ziel ist es, die Eltern, wo irgend möglich, dazu zu befähigen, ihre Erziehungsfunktionen selbst zu übernehmen. Nur so ist eine nachhaltige Lösung möglich.»

Tatenlose Lehrer

Ein köstlicher Duft durchströmt das Haus. In der Küche im Erdgeschoss kocht Marianne Schweizer das Mittagessen. Heute steht Riz Casimir auf dem Menüplan. Die Esstische sind mit Girlanden verziert. Flavia hat Geburtstag. Sie ist heute vierzehn Jahre alt geworden.
Das Haus ist geräumig und bietet viele Rückzugsmöglichkeiten: einen TV- und Aufenthaltsraum, ein Malzimmer, einen Gruppenraum und ein Sitzungszimmer. Im Untergeschoss befindet sich die Turnhalle. Dort können die Mädchen nach Lust und Laune tanzen oder ihre Aggressionen am Boxsack abreagieren. Hinter dem Haus erstreckt sich ein grosser Garten. Trotzdem fühlen sich Janine und Flavia eingeengt. Es gebe zu viele Regeln. Man dürfe zum Beispiel nur zu bestimmten Zeiten und nur mit Erlaubnis das Gelände verlassen. Am besten gefällt den beiden der Kontakt zu den anderen Jugendlichen. Zuhause in ihrem Dorf hatte Janine nie richtige Freunde. Im Gegenteil. In ihrer Schule wurde sie von den Klassenkameraden oft wegen ihres Übergewichts gehänselt und auf dem Schulweg «abgeschlagen». Besonders schlimm war es in der fünften und
sechsten Klasse. Die Lehrer hätten nichts unternommen. Janine ist aber nicht wegen schulischer Probleme in der Beobachtungsstation. Sie hat nie die Schule geschwänzt, nie geraucht oder gekifft. Überhaupt sei sie hier im Heimgarten die Brävste, das sagten auch die anderen Mädchen. Für einen kurzen Moment huscht ein Lächeln über ihr Gesicht – dann wird ihr Ausdruck wieder ernst und mutlos. Janines Mutter ist schwer krank, der Vater ist arbeitslos und hat psychische Probleme. In der Wohnung herrschte Unordnung. Janine ist hier, weil die Eltern nicht in der Lage sind, für sie zu sorgen – sagt die Vormundschaftsbehörde. Janine sieht das ein
wenig anders. Sie sei zwar oft allein zuhause gewesen, habe aber gut für sich selbst sorgen können. Sie sei selber einkaufen gegangen, habe gekocht und einen Teil des Haushaltes erledigt.

Paradoxe Situation für Mädchen

Ein Tag im Heimgarten kostet pro Mädchen 435 Franken. 30 Franken müssen die Eltern bezahlen, die restlichen 405 Franken übernimmt der Kanton. Können die Eltern aufgrund ihrer finanziellen Situation nicht für die Tagespauschale aufkommen, springt die einweisende Behörde ein. In den meisten Fällen ist das die Vormundschaftsbehörde. Diese ist der jeweiligen Gemeinde unterstellt. Damit besteht die Gefahr, dass die Vormundschaftsbehörden von finanzschwachen Gemeinden zurückhaltender Einweisungen vornehmen. Das ist zwar gut für das Gemeindebudget, aber nicht unbedingt zum Wohl der Mädchen. In einigen Gemeinden, wie zum Beispiel in Zürich, wo der Direktbeitrag viel höher sei, könne man eine solche Entwicklung vermehrt beobachten, sagt Wüthrich. Für jugendliche Straftäter stehen viel mehr Bundesgelder zur Verfügung. Werden Jugendliche straffällig, können sie in eine Erziehungsanstalt eingewiesen werden. Dort haben sie die Möglichkeit, die Schule abzuschliessen und intern eine Lehre zu machen.
Ein Erziehungsheim ist oft ihre letzte Chance, eine Berufslehre zu absolvieren. Da vor allem männliche Jugendliche straffällig werden, profitieren hauptsächlich sie von diesem Angebot. Für Mädchen, die nicht straffällig werden, sondern familiäre, soziale und schulische Probleme haben, ist es schwieriger, einen Ausbildungsplatz zu finden. Sie fallen eher durch das soziale Netz. Eine paradoxe Situation: Würden die Mädchen häufiger straffällig werden, gäbe es mehr mädchenspezifische Institutionen, mehr Möglichkeiten auf einen Ausbildungsplatz und damit höhere Chancen, sich später in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
In der Beo Heimgarten kennt man diese Probleme. Deshalb wird hier auf schulische Ausbildung und Berufsabklärung besonderes Gewicht gelegt. In der internen Schule können die Mädchen ihre oft riesigen Lücken füllen. Der Unterricht erfolgt sowohl in der Gruppe als auch individuell, dem jeweiligen Stand des Mädchens angepasst. Wer kurz vor dem Schulabschluss steht, kann diesen in der Beo absolvieren.

Harzige Lehrstellensuche

Flavia war früher in der Sekundarschule. Heute lernt sie den Stoff der achten Realschulklasse. Ihr Ziel ist es, wieder das Sekundarschulniveau zu erreichen. Später will sie die Hotelfachschule besuchen. In der Beo Heimgarten arbeitet man eng mit der Berufs- und Informationszentrale BIZ zusammen, wo sich die Mädchen über verschiedene Berufsmöglichkeiten informieren und beraten lassen können. Die Lehrer unterstützen die Mädchen auch bei der Suche nach Lehr- oder Schnupperlehrstellen. Sie helfen ihnen, die Bewerbungsmappe zu erstellen, Kontaktadressen zu finden und sich auf Eignungstests vorzubereiten. Während der drei Monate im Heimgarten konnte Janine bereits eine Schnupperlehre im Interdiscount machen. Sie will  Detailhandelskauffrau werden.
Die Suche nach einer Lehrstelle verläuft allerdings meistens harzig. Schon «normale» Jugendliche hätten es schwer, die Jugendlichen im Heimgarten noch schwerer, gibt Wüthrich zu bedenken. Wenn im Lebenslauf jedes Jahr ein Schulwechsel stehe, seien die Chancen auf eine Lehrstelle minim. «Die Mädchen tun mir manchmal grenzenlos leid. Sie verschicken Dutzende von Bewerbungen und erhalten meist nur einen negativen Bescheid.»
Während der letzten Phase des Aufenthalts in der Beobachtungsstation wird abgeklärt, welche weiteren Massnahmen für die Mädchen geeignet sind. Kann das Mädchen zurück zur Familie oder ist eine Platzierung in einem Heim, einer betreuten Wohngruppe oder einer Pflegefamilie notwendig? Ist der Besuch einer öffentlichen Schule sinnvoll? Die Wünsche der Eltern und Mädchen werden nach Möglichkeit mitberücksichtigt, respektive es wird versucht, alle Beteiligten für eine Anschlusslösung zu gewinnen. Dabei werden meist mehrere Optionen in Betracht gezogen und gegebenenfalls ausprobiert. Oft wünschen Eltern und Mädchen eine Rückkehr nach Hause und keine Heimplatzierung. Bei einem «Probewohnen» zu Hause zeigt sich meist, ob das Gewünschte auch wirklich funktioniert.
Janine hat ein Stück Zuhause in den Heimgarten mitgenommen. So wie auf den Fotos von früher wird es nicht mehr sein. Sie weiss, eine Rückkehr nach Hause ist nicht möglich. Frühstens in eineinhalb Jahren, nach dem Schulabschluss, falls es den Eltern gesundheitlich besser gehe. Vor wenigen Tagen hat sie ein Schulheim in der Nähe von Bern besichtigt. Dort hat es ihr aber nicht gefallen. Weitere Möglichkeiten werden zurzeit noch abgeklärt. Bei Flavia hingegen wurde bereits entschieden: Sie darf in ein paar Wochen wieder nach Hause. An verlängerten Wochenenden von Freitag- bis Sonntagabend kann sie sich wieder an das Leben bei den Eltern gewöhnen. «Mit der Mutter klappt es jetzt viel besser», erzählt Flavia. Die Zeit im Heimgarten sei gut für sie gewesen. Sie sei viel ruhiger geworden und habe gemerkt, wie wichtig die Familie sei. Flavia ist voller Tatendrang. Ein Blick in ihr spärlich eingerichtetes Zimmer verrät es. Sie ist jederzeit zum Aufbruch bereit.

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