«der arbeitsmarkt» 01/2006

«Wir wollen in Europa eine Kultur der Mobilität»

Die Europäische Kommission hat 2006 zum «Europäischen Jahr der Mobilität der Arbeitnehmer» erklärt. Joseph Jamar, Mitglied der Kommission und Koordinator der Aktion, äusserst sich zur Flexibilisierung, zur Sesshaftigkeit der Bürger und zur Rolle der Schweiz.

«der arbeitsmarkt»: Herr Jamar, Sie sind Belgier und arbeiten in Brüssel. Wie mobil sind Sie?
Joseph Jamar: Seit ich 22 Jahre alt bin, ist es für mich selbstverständlich, in anderen Städten und Ländern zu leben und zu arbeiten. Mobilität war für mich immer schon ein Thema, ob in geografischer oder beruf-
licher Hinsicht. Ich lebte bereits in Genf, Florenz und Washington. Berufliche Gründe haben mich zurück nach Belgien verschlagen.  

Das Jahr 2006 wurde zum Europäischen Jahr der Mobilität der Arbeitmehmer erklärt. Hofft die EU damit, die steigenden Arbeitslosenzahlen in den Griff zu bekommen?
Mobilität ist kein Wundermittel gegen Arbeitslosigkeit. Sie ist vielmehr ein sinnvolles Instrument, um Angebot und Nachfrage auf dem europäischen Arbeitsmarkt ins Lot zu bringen. Heute gehen viele Chancen verloren, weil dieses Gleichgewicht nicht mehr gegeben ist. Während gewissen Regionen
bestimmte Berufsgruppen fehlen, verzeichnen andere Gebiete Überschüsse und hohe Arbeitslosenraten. Die Mobilität ist eine Chance, neue Jobs und einen echten europäischen Arbeitsmarkt zu schaffen. Die
Arbeitnehmenden in der EU sind aber noch skeptisch. Daher ist die Sensibilisierungsarbeit wichtig. Nur so können wir Bürgern die Vorteile der Mobilität näher bringen.

Führt die EU Statistiken darüber, welche Fachkräfte in welchem Land besonders gefragt sind?
Es gibt wenig zuverlässige Daten, da sich die Statistikämter in der EU sehr stark voneinander unterscheiden. Wir wissen nur, dass die Bevölkerung in geografischer wie auch beruflicher Hinsicht nicht sehr mobil ist. Dies
bestätigt das EU-Motivationsbarometer: Es zeigt an, wie hoch die Bereitschaft der Bevölkerung ist, mobil zu werden. Ein Vergleich der Jahresendwerte von 2005 und 2006 wird Aufschluss darüber geben, wie sich die Einstellung der EU-Bürger zur Arbeitsmobilität verändert hat. Dies ermöglicht uns, eine erste Bilanz über die Aktivitäten des Jahres zu ziehen.

Wie gross schätzen Sie die Gefahr von Massenauswanderungen ein?
Diese ist nicht realistisch. Arbeitsmobilität hat nichts mit dem Massenexodus von Arbeitskräften zu tun. Es geht darum, ausgebildeten Arbeitnehmern neue Perspektiven zu eröffnen. So lernen EU-Bürger ein neues Arbeitsumfeld kennen, eine neue Kultur und eine neue Sprache. Wir wollen in Europa eine Kultur der Mobilität. Mobilität ist ein Grundrecht, das in der EU-Verfassung verankert ist.

Dieses Recht bleibt den acht neuen Mitgliedsländern aus Osteuropa verwehrt. Was sagen Sie zu dieser Diskriminierung?
Wir werden die Wirksamkeit der Übergangsregelungen im Laufe des Jahres öffentlich diskutieren. Es gibt auch Länder, wie Grossbritannien, Irland und Schweden, die auf die Regelungen verzichtet haben.

Ihre Bilanz wird für Länder, die die Regelungen eingeführt haben, sehr interessant sein.

Der Europäischen Kommission liegt viel daran, dass alle Mitgliedstaaten das Recht auf Mobilität verwirklichen können. Uns bleibt aber nichts anderes übrig, als den Entscheid einzelner Länder zu respektieren.

Die Arbeitsgesetzgebung ist Hoheitsgebiet der einzelnen Länder. Hindert das die Bevölkerung nicht daran, auszuwandern?
Das nationale Arbeitsrecht stellt kein Hindernis dar, in einem anderen EU-Staat nach Arbeit zu suchen. Ganz im Gegenteil: Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, Auswanderungswillige zu unterstützen und sie über die Arbeitsgesetzgebung eines anderen EU-Landes gut zu informieren. Tatsache bleibt, dass die 25 Sozialversicherungssysteme teilweise sehr stark voneinander abweichen. Aus diesem Grund arbeiten einzelne Mitgliedstaaten zusammen und tauschen sich auf verschiedenen Ebenen aus. Der Informationsaustausch basiert noch auf freiwilliger Basis, doch EU-weit konnten schon Fortschritte erzielt werden: Die europäische Mobilitätscharta führt die nationalen Lohn- und Vertragsbedingungen auf. Und ein Vertragskodex weist Arbeitgeber an, sich an faire Anstellungskonditionen zu halten. Wir fördern diesen Wissensaustausch, denn das Ziel der Europäischen Kommission ist es, die nationalen Arbeitsgesetze einander anzunähern. Sie zu harmonisieren, ist aber kein Thema.

Der Anteil der EU-Arbeitnehmenden, die in einem andern EU-Land leben und arbeiten, liegt seit 30 Jahren gleich bleibend bei 1,5 Prozent. Wie erklären Sie sich diese Zurückhaltung?
Einerseits werden berufliche Qualifikationen nicht in allen Mitgliedstaaten gleich anerkannt. Andererseits sind kulturelle Hemmschwellen nicht zu unterschätzen: Der Arbeitnehmer muss sehr offen und flexibel sein, um in einem anderen U-Land leben und arbeiten zu können. Auch familiäre Bindungen können verhindern, die Grenzen zu überschreiten. robleme entstehen vor allem, wenn ein Partner seinen Beruf aufgeben muss. Hinzu kommt eine Reihe weiterer Fragen, die sich aus den unterschiedlichen Sozialversicherungs- und Steuersystemen ergeben.

Frankreich schafft für Erwerbslose finanzielle Anreize, wenn sich diese um eine Stelle bemühen, die mindestens 150 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt liegt. Halten Sie das für sinnvoll?

Solche Massnahmen sind wichtig, damit die Leute bei der Stellensuche flexibler werden. Das Europäische Jahr 2006 propagiert aber eine Mobilität, die nicht nur für rwerbslose gedacht ist. Die Tendenz auszuwandern ist tatsächlich grösser, wenn man arbeitslos ist. Wenn der Staat diese Tendenz finanziell noch unterstützt, drängt er dem Arbeitnehmer die Option «Mobilität» regelrecht auf. Arbeitsmobilität rückt in ein negatives Licht nach dem Motto: «Man wird nur mobil, wenn man im eigenen Land keine rbeit findet.» Das Europäische Jahr der Mobilität der Arbeitnehmer möchte alle Bürger von den Vorteilen der Mobilität überzeugen.

Welche Chancen bietet dieses Europäische Jahr für schlechter Qualifizierte?
Im Moment sind nur gut qualifizierte und junge Arbeitskräfte mobil. Mit der Kampagne 2006 wollen wir daher auch die weniger gut Qualifizierten ansprechen. Die Veranstaltungen auf nationaler und EU-Ebene werden diesen Aspekt berücksichtigen. Arbeitsmobilität ist ein Recht, das allen Arbeitnehmern zusteht.

Die Schweizer bilden auch nicht gerade die mobilste Nation. Wie werden sie von den Projekten profitieren können?
Die Schweiz kann sich im Rahmen von EURES an den Aktivitäten des Jahres beteiligen. Die neue EURES-Plattform wird 1 bis 1,5 Millionen Stellenangebote der öffentlichen Arbeitsverwaltungen enthalten. Ende 2006 werden Schweizer Bürger auch an einem Wettbewerb teilnehmen können, bei dem es um Pilotprojekte und innovative Ideen rund um das Thema Arbeitsmobilität geht.  

Wie kann ein Schweizer Bürger herausfinden, ob das eigene Berufsprofil in einem EU-Land gefragt ist?
Schweizer können sich über das EURES-Portal informieren. Es bietet einen guten Überblick über die Stellen- und Ausbildungsangebote sowie die Arbeits- und Lebensbedingungen in einzelnen EU-Staaten. Auf Anfrage erhalten Schweizer Bürger eine professionelle Beratung von einem der insgesamt 650 EURES-Berater. Sie kennen die Beschäftigungssituation in den unterschiedlichen Sektoren bestens und können die beruflichen Chancen gut einschätzen.

Wann wird ein europäischer Arbeitsmarkt Realität sein?
Wenn alle EU-Bürger verstehen werden, welche Pros und Contras eine Tätigkeit in einem anderen EU-Staat mit sich bringt. Es gilt aber auch, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Dazu brauchen wir das Europäische Jahr der Mobilität der Arbeitnehmer. Der europäische Arbeitsmarkt ist vom Erfolg
der Mobilität abhängig.

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