«der arbeitsmarkt» 08/2005

«Wir sind doch keine Termiten!»

Sommer unter Tag – ob es regnet, ob die Sonne scheint, macht für Menschen, die ohne Tageslicht arbeiten, keinen Unterschied. Das kann auf Gemüt und Gesundheit schlagen.

Wenn Luana Pellegrini (31) nach einem Arbeitstag ins Freie tritt, sieht sie eine Zeit lang nichts mehr. Es blendet sie, selbst wenn es regnet und der Himmel bedeckt ist. Luana Pellegrini ist Leiterin des Schalters von Hotelplan im Flughafen Zürich. Ihr Arbeitsort befindet sich rund 20 Meter unter der Erde, wo sie den ganzen
Tag im künstlichen Neonlicht und in klimatisierter Luft ihren Kunden Reisen an sonnige Strände verkauft. Abends brennen ihre Augen, die Haut spannt vor Trockenheit und sie fühlt sich müde. «Man ist hier unten irgendwie zusammengedrückt», sagt sie.
Ob als Bauarbeiter im Tunnel, als Verkäuferin im Shoppingcenter, als Küchengehilfe im Untergeschoss: Ohne Tageslicht zu arbeiten, ist psychisch und physisch für viele eine Belastung. Besonders hart ist es im Sommer, wenn Sonnenhungrige auf dem Weg in die Badeanstalt im Shoppingcenter Halt machen. «Kaufen die Kunden Sonnencremen, wissen wir: Die Sonne scheint», sagt Cornelia Bosshard (53), die im Flughafen Zürich ebenfalls unter der Erde in einer Apotheke arbeitet. Luana Pellegrini ist jeweils nahe an einer Sommerdepression. Statt der in nördlichen Ländern stark verbreiteten Winterdepression, die auf den Lichtmangel im Winter zurückzuführen ist, sinkt ihre Stimmung eher im Sommer in den Keller: «Wenn schönes Wetter ist, ist es hart, hier unten zu arbeiten.»
Wie wichtig das Sonnenlicht ist, spürt man erst, wenn es weg ist. Hängt tagelang eine Nebeldecke über den Köpfen, sinkt die Laune. Müdigkeit, schlecht aufstehen am Morgen, Rückzug: Dies sind einige der Symptome der saisonalen Depression, auch Winterdepression genannt, die nachweislich auf Lichtmangel zurückzuführen sind. Sonnenlicht steigert die Serotoninkonzentration. Dieses Hormon ist für die psychische Verfassung verantwortlich. Trifft zu wenig Licht ein, wird die Serotoninproduktion gedrosselt und dafür Melatonin, das Schlafhormon, produziert. Ohne Licht kommt es deshalb auch zu Störungen der inneren Uhr, die den Tag-Nacht-Rhythmus bestimmt.

Licht – das Lebenselixier par excellence

Lichtmangel haben unter Tag Arbeitende nicht nur im Winter: «Ich fühle mich sehr müde nach der Arbeit», sagt Ruth Frei (41), die zusammen mit Luana Pellegrini arbeitet. Über Müdigkeit, schlechte Stimmung klagt  auch Pellegrini. «Es schlägt aufs Gemüt: Wir sind ja keine Termiten!», so Cornelia Bosshard. «Ich bin immer müde, ich kann meine Augen kaum offen halten», meint auch Siv Leng (21), die im Café Spettacolo, ebenfalls im «Airport-Shopping», arbeitet. Simone Marino (28) fuhr der erste Arbeitstag ohne natürliches Licht, im Sunrise-Shop im Flughafen, ebenfalls in die Knochen: «Ich war vor 23.00 Uhr im Bett. Das gab es seit Jahren nicht mehr.»
Nebst Müdigkeit und schlechter Stimmung kann ein Mangel an Licht weitere gesundheitliche Schäden hervorrufen. «Licht ist das Lebenselixier par excellence», meint Adrian Walter. Als Flughafen-Arzt behandelt er Angestellte und Passagiere. Wer zu wenig dem Tageslicht ausgesetzt ist, dem kann es nebst Energie und Wohlbefinden auch an Vitamin D mangeln. Vitamin D wird zwar über die Nahrung eingenommen – Fischöle, Eigelb und Leber sind gute Quellen –, es braucht aber das Sonnenlicht, um das Vitamin zu synthetisieren. Ein Mangel kann Knochenprobleme wie etwa Osteoporose hervorrufen. Adrian Walter rät den unter Tag Arbeitenden, die Freizeit möglichst draussen zu verbringen und während der Arbeitszeit regelmässige Pausen an der frischen Luft einzulegen.
Die unter Tag Arbeitenden verspüren häufig den Drang nach frischer Luft. Nach acht bis neun Stunden ohne Mittagspause – höchstens ein Sandwich im Kaffeeraum, die Kunden müssen auch über Mittag bedient werden – will Luana Pellegrini jeweils nur noch hinaus an die Luft. «Früher bin ich oft nach der Arbeit ins Glattzentrum gefahren. Heute mach ich das nicht mehr: nicht von einem geschlossenen Raum in den anderen!» Die Angestellten der Apotheke im Flughafen sitzen über Mittag bei jedem Wetter draussen an der Luft. Und Simone Marino verliess an seinem ersten Arbeitstag das Flughafengebäude alle zwei Stunden für einen tiefen Atemzug an der Luft. «Sonst hätte ich Sauerstoffmangel. Ich brauche viel frische Luft. Die Ferien verbringe ich immer im Freien.»

Brennende, tränende und ausgetrocknete Augen

Nach den Ferien müssen sich die Augen allerdings wieder ans künstliche Licht gewöhnen: Ruth Frei kann jeweils die ersten drei Tage auf dem Bildschirm nichts erkennen und ihre Augen brennen ständig. Auch ihre «Leidensgenossen» klagen über brennende, tränende oder ausgetrocknete Augen. Der Visualtrainer Udo Fernholz führt diese Symptome einerseits auf die Frequenz des Kunstlichts zurück. Künstliches Licht flimmert immer, auch wenn die Flimmerfrequenz von Auge kaum wahrnehmbar ist, meint er. Um an die Qualität des Tageslichts heranzukommen, müsste künstliches Licht absolut flimmerfrei sein. Ein viel grösseres Problem sieht er aber in der Unmöglichkeit, ab und zu aus dem Fenster schauen zu können: Aus der Urzeit ist sich der Mensch gewohnt, in die Ferne zu schauen, um potenzielle Feinde erkennen zu können. Mit den heutigen Arbeitsbedingungen ist der Mensch jedoch gezwungen, das Gegenteil zu tun: ständig in die Nähe zu schauen. Menschen, die ohne Tageslicht arbeiten, haben kaum die Möglichkeit, den Blick ab und zu in die Ferne schweifen zu lassen.

Positiv denken gleicht das Defizit aus

Diese Einbusse an Lebensqualität kann durch richtige Bedingungen teilweise kompensiert werden. Wichtig ist eine ausreichende künstliche Beleuchtung. Das Amt für Wirtschaft und Arbeit gibt Richtlinien heraus, denen ein Arbeitsplatz ohne Tageslicht genügen muss: Es beruft sich dabei auf die Lichttechnische Gesellschaft, die sich mit Problemen des Lichts und der Farbe befasst. Die Intensität des Lichts ist entscheidend, meint Christoph Schierz, Leiter der Fachgruppe Innenraumbelechtung mit Tages- und künstlichem Licht. Ein Arbeitsplatz ohne Tageslicht benötigt die doppelte Lichtintensität.
Für das psychologische Wohlbefinden ist zudem die Farbwiedergabe des Lichts wichtig: Gesichter, Pflanzen, Gegenstände sollten im künstlichen Licht möglichst natürlich aussehen. Den ganzen Tag kränklich-bleiche Gesichter und unnatürlich wirkende Pflanzen zu sehen, schlägt auf die Stimmung. Weiter darf das Licht nicht blenden, doch muss der Raum ausreichend ausgeleuchtet sein.
Auch die beste Beleuchtung kommt allerdings nicht an die Qualität des Tageslichtes heran. Egal, ob die Lampen technisch auf dem neuesten Stand sind, mit einem Defizit müssen alle unter Tag Arbeitenden leben. Ruth Frei von Hotelplan weiss sich allerdings zu helfen: «Es kommt auf die Einstellung an: Ich denke positiv über meinen Arbeitsplatz. Das gleicht das Defizit aus.»

Zur PDF-Version: