«der arbeitsmarkt» 09/2007

Wiki und die schlauen Helfer

Wikipedia gehört zu den Erfolgsgeschichten des Internets. Sechs Jahre nach ihrer
Lancierung zählt die freie Enzyklopädie zu den zehn meistbesuchten Websites der Welt. Das Besondere daran: Wikipedia wurde in Freiwilligenarbeit aufgebaut.

«Das Bahnhofbuffet Olten ist – zentral am wichtigsten Eisenbahn-Knotenpunkt der Schweiz gelegen – ein bevorzugter Ort für Sitzungen von Verbänden, Parteien, Gewerkschaften, Behörden und Vertretern der Schweizerischen Bundesbahnen.» So steht es in der Wikipedia. Eine Anzahl namhafter Institutionen wurde hier gegründet, unter anderem der Schweizer Alpen-Club (1863), der Schweizerische Gewerkschaftsbund (1880), die Freisinnig-Demokratische Partei (1894), der Evangelische Kirchenbund (1920), die Autorenvereinigung «Gruppe Olten» (1974). Das Oltener Aktionskomitee hingegen, das 1918 den Landesstreik organisierte,  wurde zwar auch in Olten, aber im Volkshaus und nicht wie oft behauptet im Bahnhofbuffet gegründet. Auch das ist in der Wikipedia nachzulesen, die wohl als einzige Enzyklopädie der Welt überhaupt einen Artikel «Bahnhofbuffet Olten» enthält.
An diesem geschichtsträchtigen Ort fand am 15. Mai 2006 die Gründungsversammlung von Wikimedia CH statt, dem Verein zur Förderung freien Wissens in der Schweiz. Der Verein versteht sich als Schweizer Sektion der amerikanischen Wikimedia Foundation, einer Stiftung mit Sitz in St.Petersburg, Florida (siehe Kasten auf Seite 20), die für die Wikipedia verantwortlich zeichnet. Sie ist eine internationale, regierungsunabhängige Non-Profit-Organisation, die sich der Förderung freien Wissens verschrieben hat. Ihr bekanntestes und erfolgreichstes Projekt ist die freie Enzyklopädie Wikipedia.
Es sieht ganz danach aus, als habe die Welt nur auf diese Initiative gewartet. Zurzeit umfasst die deutschsprachige Wikipedia ungefähr 635000 Artikel. Damit ist sie das zweitgrösste Wikipedia-Projekt. Rund 480000 registrierte und eine unbekannte Anzahl nicht registrierter Benutzer haben diesen Datenbestand seit Mai 2001 erarbeitet. Immerhin: Mit gut zwei Gigabyte passt die Datenbank (ohne Mediadateien wie Bild und Ton) noch locker auf eine DVD. Die Wikipedia in Englisch hingegen ist längst über das brennbare Format hinausgewachsen: Sie ist mit derzeit zwei Millionen Artikeln rund drei Mal so gross wie die deutschsprachige.
Inzwischen gibt es die freie Enzyklopädie in über 250 Sprachen. Ihre rund acht Millionen Artikel enthalten zusammen mehr als 2,5 Milliarden Wörter. Zum Vergleich: Die 30 Bände des aktuellen «Brockhaus» enthalten gut 300000 Artikel mit insgesamt rund 33 Millionen Wörtern. Neben der englisch- und der deutschsprachigen Wikipedia können auch die Wikipedias in Französisch, Japanisch und Polnisch mithalten. Auch sie haben über 300000 Einträge. Im wohlgeordneten Babylon finden sich auch Exoten wie die Wikipedia in Esperanto (88000 Artikel), in Latein (15000) oder in Alemannisch (3200). Auch eine rätoromanische Ausgabe gibt es. Sie enthält gut 400 Artikel und wächst kaum.
Die Wikipedia beruht auf Partizipation. Beim gemeinschaftlichen Erstellen der Inhalte kann jeder mitmachen, und das auf einfachste Art und Weise. Es ist nicht einmal nötig, sich zu registrieren oder am System anzumelden. Wer einen Artikel korrigieren oder ergänzen will, kommt über den Link «Seite bearbeiten», der sich am oberen Seitenrand befindet, zur Eingabemaske und kann den bestehenden Text ändern. Dieser einfache Zugang ist ein Teil des Geheimnisses von Wikipedia und hat einen Namen: Wiki. Das Wort stammt aus dem Hawaiianischen und bedeutet «schnell». Im Grunde genommen ist ein Wiki nichts anderes als ein einfach zu bedienendes Content-Management-System. Der grosse Erfolg von Wikipedia hat deren Macher ermutigt, weitere Wiki-Projekte in Angriff zu nehmen. Neun Projekte sind es inzwischen, für die Freiwillige das Wissen der Menschheit aufbereiten und öffentlich zugänglich machen. Wikipedia ist das grösste und bekannteste davon. Das Projekt Wikimedia Commons dient allen Projekten als zentrale Mediendatenbank und umfasst zurzeit gut 1,8 Millionen Mediendateien (Bilder, Audios, Videos). Sämtliche Projekte werden von der Wikimedia Foundation betrieben und verantwortet.
Nando Stöcklin ist der Medienverantwortliche von Wikimedia Schweiz. Der 32-Jährige, der an der Universität Basel Ethnologie und Informatik studiert hat, engagiert sich seit vier Jahren für die freie Enzyklopädie. Angefangen hat es mit einem Artikel über das Volk der Oneida, die zum Stamm der Irokesen gehören. Neugier über die Online-Enzyklopädie, die damals von sich reden machte, trieb ihn dazu, das bei der Beschäftigung mit seiner Seminararbeit gewonnene Wissen in die Wikipedia einzuarbeiten. «Ich war begeistert, wie schnell andere konstruktiv an meinem Text weiterarbeiteten», sagt Stöcklin. Sogleich war er mit dem Wikifieber infiziert. Woher kommt die Motivation, in der Freizeit unentgeltlich Artikel zu schreiben? «Es ist die Faszination an den eigenen Themen. Wenn man von etwas begeistert ist, möchte man das mit anderen teilen.» Ja, eine Portion Altruismus gehöre wohl auch dazu. Nando Stöcklin hat sich mit seinem selbstlosen Einsatz für Wikipedia verdient gemacht und wurde dafür in freien Wahlen in den Rang des Administrators erhoben, von denen es in der deutschsprachigen Wikipedia knapp dreihundert gibt.
Die Machtstruktur der Wikipedia ist eine Mischung aus demokratischen, anarchistischen und meritokratisch-oligarchischen Elementen: Inhaltliche Differenzen werden in sogenannten Meinungsbildern diskutiert und in demokratischen Verfahren bereinigt; anarchistisch ist Wikipedia, weil jedermann anonym Änderungen vornehmen kann. Meritokratisch-oligarchisch, weil, wer sich um die Enzyklopädie besonders verdient gemacht hat, als Administrator erweiterte Rechte erwerben kann. Administratoren können Artikel löschen oder sperren, wenn sie wiederholt missbräuchlich verändert werden, und sie können Benutzer verbannen, die dem Projekt Schaden zufügen. Das offene Editiersystem macht es Vandalen leicht, Schaden anzurichten. Dieser hält sich aber in Grenzen: Studien haben gezeigt, dass mutwillige Desinformation in den meisten Fällen innert weniger Minuten entdeckt und rückgängig gemacht wird.
Für Nando Stöcklin war sein zeitraubendes Engagement auch ein Steigbügel ins Berufsleben. Er arbeitet heute als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich E-Learning am Zentrum für Bildungsinformatik an der Pädagogischen Hochschule Bern; in dieser Funktion beschäftigt er sich auch mit dem Einsatz von Wikis an Schulen. Bleibt nur ein Wermutstropfen: «Neben dem Vollzeitjob und den Aufgaben als Adminis-trator finde ich kaum noch Zeit für eigene Beiträge. Ganze Artikel schreiben ist Luxus geworden.»
Die Philosophie des freien Wissens beziehungsweise der freien Inhalte (englisch: Open Content), die Wikipedia zugrunde liegt, will das Wissen der Welt unentgeltlich für alle verfügbar machen. Der InternetUnternehmer Jimmy Wales, der die freie Enzyklopädie zusammen mit dem Philosophie-dozenten Larry Sanger gegründet und später die Wikimedia-Stiftung ins Leben gerufen hat, bringt das Ziel des Projekts so auf den Punkt: «Wikipedia ist zuallererst ein Versuch, eine freie Enzyklopädie von grösstmöglicher Qualität zu erschaffen und zugänglich zu machen, und zwar für jede einzelne Person auf diesem Planeten in ihrer eigenen Sprache.»
Die Grundlage der Philosophie des freien Wissens liegt in der Open-Source-Bewegung. Diese setzt sich seit den achtziger Jahren, als mit der Praxis der Geheimhaltung von Programmcodes der Aufstieg der grossen Softwarekonzerne begann, für die Offenlegung des Quelltexts von Software ein. Open-Source-Software wie das Betriebssystem GNU/Linux oder der Webbrowser Firefox wird mehrheitlich in ehrenamtlicher Arbeit programmiert und darf frei vervielfältigt, weiterentwickelt und verbreitet werden. Die Bedingungen sind in der sogenannten GNU General Public Licence (GPL) geregelt, die von der Free Software Foundation herausgegeben wird. Die Texte und medialen Inhalte der Wikipedia unterliegen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation (GFDL), einer Weiterentwicklung der GPL für Software-Dokumentation. Die GNU-Lizenz, in Abgrenzung zum Urheberrechtsgesetz als «Copyleft» bezeichnet, gestattet ausdrücklich die Vervielfältigung, Verbreitung und Veränderung des Werkes, auch zu kommerziellen Zwecken. Im Gegenzug verpflichtet sich der Lizenznehmer zur Einhaltung der Lizenzbedingungen. Diese sehen unter anderem die Pflicht zur Nennung des Autors beziehungsweise der Autoren vor und verpflichten den Lizenznehmer dazu, abgeleitete Werke unter dieselbe Lizenz zu stellen. Das garantiert, dass einmal freigegebene Werke auch frei bleiben. Wikimedia entspricht dieser Philosophie in vorbildlicher Weise, da ist wirklich alles selbstgebaut. Nicht nur die Inhalte. Auch die gesamte Software, vom Betriebssystem der 260 Server über die Datenbanken bis hin zu den verwendeten Mediaformaten, alles ist Open Source. Praktisch alle, Software-Entwickler, Administratoren und Autoren, arbeiten unentgeltlich. In der Stiftungsverwaltung und in der Technik sind gerade mal zehn Leute angestellt.
Wer sind all die Menschen, die aus Idealismus an dieser neuen alexandrinischen Bibliothek bauen? Eine Studie der Universität Würzburg hat in einer Online-Umfrage herausgefunden, dass der typische Wikipedianer männlich ist (88 Prozent) und Vollzeit arbeitet (43 Prozent) oder in Ausbildung ist (32 Prozent). Die Hälfte der Befragten gab an, als Single zu leben. Das Durchschnittsalter der Mitarbeitenden liegt bei 33 Jahren. Sie sind durchwegs gut bis sehr gut ausgebildet und arbeiten durchschnittlich 2 Stunden pro Tag an der Wikipedia, und zwar – gemäss Selbstdeklaration – fast ausschliesslich in der Freizeit. Drei Motive treten hervor: das Interesse, die Qualität der Wikipedia zu verbessern, die Überzeugung, dass Information frei sein sollte, und die Freude am Schreiben und am Verbessern eigener Artikel. Der Wunsch, das eigene Wissen durch das Engagement für Wikipedia zu erweitern, ist laut den Forschern ebenfalls sehr ausgeprägt. Vielen Wikipedianern ist es auch wichtig, an einem «historischen» Projekt mitzuarbeiten, das langfristig Bestand hat, und so das eigene Wissen weitergeben zu können.
Der 26-jährige Manuel Schneider aus dem Landkreis Lörrach studiert an der Fachhochschule beider Basel Angewandte Informatik und amtet als Administrator bei der alemannischen Wikipedia. Als Mitglied von Wikimedia Deutschland hat er die Gründung von Wikimedia CH begleitet und ist jetzt in beiden Vereinen aktiv. Er ist ein «Wikimaniac», gehört zum obsessiven Kern der deutschen Wikimedia-Community und hat an der diesjährigen Wikimania-Konferenz in Taiwan teilgenommen. Der Anlass, der heuer zum dritten Mal durchgeführt wurde, dient dem Zweck, aktive Community-Mitglieder, Wissenschaftler und Techniker zusammenzubringen, um gemeinsam über die Zukunft der verschiedenen Wikimedia-Projekte zu diskutieren.
Schneiders Weg zur Wikipedia begann mit der Beschäftigung mit dem freien Betriebssystem Linux. «Ich habe aus Neugier auf meinem Rechner Linux installiert, weil mich das Prinzip fasziniert hat: dass da Leute in ihrer Freizeit ein Betriebssystem programmieren und anderen kostenlos zur Verfügung stellen. Man empfindet doch einen gewissen Respekt, eine Wertschätzung für diese Leute.» Später entdeckte Schneider, dass es das Prinzip der freien Software auch im Bereich des Wissens gab. «Mir war sofort klar: Da will ich mitmachen. So kann ich von dem, was ich nehme, wieder etwas zurückgeben.»
Seither engagiert sich der angehende Diplomingenieur auf organisatorischer Ebene für verschiedene Wikimedia-Projekte. Wichtigster Motivationsfaktor ist für ihn der Spass an der Sache. «Ich komme in der Welt herum und lerne immer wieder spannende Menschen kennen», sagt Schneider begeis-tert und ergänzt: «Ich möchte der Freien Gemeinschaft auch etwas zurückgeben von all dem, was sie mir gibt.» Doch auch beruflich hat das ehrenamtliche Engagement Vorteile. Immer wieder öffnet es dem Informatikstudenten Türen für freiberufliche Aufgaben. Er führt eine eigene Firma für Webhosting und die Administration von Serversystemen. Für den Grossverteiler Coop hat er vor einem Jahr die Wiki-Software eingeführt. Mehrere Abteilungen nutzen sie als Plattformen für das Wissensmanagement.
Am meisten bedeutet Schneider die Wikipedia in alemannischer Sprache, zu der bekanntlich auch die Deutschschweizer Dialekte gehören. Ein Projekt, das seit drei Jahren von einem guten Dutzend aktiver Wikipedianer vorangetrieben wird. Eine Enzyklopädie in Mundart, das ist aus Sicht eines Schweizers ein eher unvernünftiges Unterfangen. Warum investiert eine Handvoll Leute so viel Herzblut in eine  Mundart-Enzyklopädie, wo es doch schon eine in Hochdeutsch gibt? Schneider bedauert, dass man in der Schweiz mit Unverständnis auf das Projekt reagiert; der helvetische Beitrag ist bisher eher bescheiden. Doch er kann es erklären: «In der Schweiz ist die Mundart nicht bedroht.» Ennet der Grenze sei das anders: «Viele junge Leute im süddeutschen Raum sprechen überhaupt nicht mehr Dialekt», sagt Schneider. «Sie verstehen ihn zwar noch, können sich aber nicht mehr darin ausdrücken. Dabei ist Alemannisch unsere Sprache. Sie ist Teil unserer Identität, es macht Sinn, sie zu pflegen.»
Die Geschichte der alemannischen Wikipedia beginnt im Elsass. Dort ist die Mundart schon so weit zurückgedrängt, dass man vom Sterben der Sprache reden muss. Nur noch jeder vierte Jugendliche ist heute in der Lage, sich in der Mundart zu unterhalten. Die elsässische Wikipedia, von Enthusiasten im November 2004 gegründet, kam nicht vom Fleck. Erst als die Anfrage vom Hoch-rhein eintraf, ob man sich nicht besser zusammentun und eine Wikipedia für den ganzen alemannischen Raum aufbauen wolle, kam Schwung in das Projekt. Im November 2005 wurde die alemannische Wikipedia aus der Taufe gehoben. Inzwischen enthält sie 1,4 Millionen Wörter in 3200 Artikeln, in schwäbischem, elsässischem, baseldeutschem, allgäuischem, liechtensteinischem, hotzenwälderischem Dialekt. Wikipedia als eine Art Dialektmuseum? Schneider wehrt sich: «Wir betreiben keine Kleingärtnerei! Wir wollen etwas Seriöses erschaffen, etwas von bleibendem Wert.» Die engagierten Sprachpfleger wollen sich nicht darauf beschränken, Mundartfassungen von Artikeln aus der deutschen Wikipedia anzulegen. Sie erbringen eigene Leistungen, beispielsweise Artikel über alemannische Dialekte und lokales Brauchtum. «Unsere Stärken liegen im Regionalen», sagt Manuel Schneider. «Hier wollen wir besser sein!» Die alemannische Wikipedia steht damit für zahlreiche kleine Wikipedia-Projekte: Sie bildet einen Ort kultureller Identität im weltweiten Netz. Denn Heimat ist da, wo man verstanden wird.

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