«der arbeitsmarkt» 05/2007

Wenn die Arbeit vor lauter Nichtstun zum Horror wird

Unterforderung, Desinteresse und Langeweile bei der Arbeit sind bekannte Phänomene. Nun haben die Autoren Philippe Rothlin und Peter R. Werder sie zu einem Gesamtphänomen mit dem Namen «Boreout»zusammengefasst.

Der Boreout ist das Gegenteil des Burnout. Die Autoren übersetzen ihre englische Wortkreation mit «Ausgelangweilt-Sein». Während sich die Burnout-Betroffenen so mit Arbeit überhäufen, dass sie ihre eigenen Ressourcen bis zum Zusammenbruch ausbeuten, leiden die Boreout-Betroffenen an quälender Langeweile, weil sie unterfordert sind oder sich einfach nicht für ihre Aufgaben interessieren. Auch wenn viele Menschen es anfänglich noch angenehm finden, dass sie während der Arbeitszeit ihre Vereinsarbeiten erledigen, Ferien über das Internet planen und private E-Mails schreiben können, so fehlen ihnen mit der Zeit doch die Zufriedenheit und die Anerkennung, die durch das Bearbeiten von herausfordernden Aufgaben zustande kommen. Dies führt dazu, dass sie frustriert sind und sich vor lauter Nichtstun ausgelaugt fühlen.

Langeweile und Desinteresse treten vor allem im Büro auf

Das Paradoxe dabei ist, dass die Betroffenen ihre Unterforderung und ihr Desinteresse mittels diverser Strategien vertuschen, zumal sie sich ab einem gewissen Punkt innerlich so von ihrer Arbeit distanziert haben, dass jede weitere Aufgabe nur noch als langweilig und belastend empfunden wird. Um diesen Zustand zu verheimlichen, bieten vor allem die elektronischen Medien eine Fülle an alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten, denn bei der Arbeit am Computer können die Vorgesetzten nicht sehen, was genau der Mitarbeitende am Bildschirm macht, zumal sich mit einem Tastendruck ein Arbeitsdokument auf den Bildschirm zaubern lässt.
Ein Boreout wird dann diagnostiziert, wenn die vier Elemente Unterforderung, Desinteresse, Langeweile und Strategien zusammenspielen. Vor allem die Strategien machen deutlich, dass Boreout primär ein Bürophänomen ist, also Arbeitsbereiche betrifft, wo oft keine klar sichtbaren Etappenziele erreicht werden müssen und Pendenzen zum Alltag gehören, während Handwerker, Industriearbeiter oder medizinisches Personal «liefern» müssen anstatt zu «lafern», wie es die Autoren auf den Punkt bringen. Boreout ist aber längst nicht nur ein Phänomen der unteren Etagen, wie man vermuten könnte, denn auch im oberen Kader können Geschäftsessen und Golf im Dienste des Networking eine Strategie zum Umgang mit Desinteresse, Unforderung und Langeweile sein.

Sinn, Zeit und Geld in ein ausgewogenes Verhältnis bringen

In ihrem Buch geben die Autoren konkrete Tipps zur individuellen Situationsanalyse und zur Befreiung aus der Boreout-Falle. Wer zu wenig zu tun hat, sollte frühzeitig mal mit den Vorgesetzten sprechen, ebenso wenn die spannenden Arbeiten ausbleiben. Wer damit nicht weiterkommt, sollte sich entweder eine andere Stelle suchen oder sich überlegen, ob Teilzeitarbeit nicht eine Möglichkeit wäre, das Leiden zumindest zu verringern. Bei allen Lösungsansätzen spielt «der qualitative Lohn» eine grosse Rolle. Der qualitative Lohn setzt sich aus den Faktoren Sinn, Zeit und Geld zusammen, und nur wenn diese drei bei der Arbeit in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, wird sie als befriedigend erlebt. Wer beispielsweise viel verdient, aber keinen Sinn in seiner Arbeit sieht oder viel zu viel Zeit für wenig Arbeit hat, ist früher oder später Boreout-gefährdet. Das schmale Buch ist somit sowohl eine Darstellung und Analyse des Phänomens «Boreout» als auch ein locker, manchmal leider fast zu salopp geschriebener Ratgeber für Boreout-Betroffene.

«Vertuschen und verstecken»

Gespräch mit Peter R. Werder und Philippe Rothlin, den Autoren des Buches «Diagnose Boreout».

der arbeitsmarkt: Sind Sie durch eigene Boreout-Erfahrungen auf das Thema aufmerksam geworden?
Peter R. Werder: Nein, dahinter stecken keine eigenen Erfahrungen, sondern Beobachtungen. Wir sind seit einigen Jahren in der Unternehmensberatung tätig und haben sehr viel Projektarbeit gemacht. In den Dienstleistungsbetrieben ist uns aufgefallen, dass oft nicht klar ist, welche Arbeiten die Leute genau machen, ob sie genug zu tun haben und ob sie auch wirklich interessiert bei der Sache sind. Zudem begannen wir Statistiken bezüglich Stress am Arbeitsplatz anders zu lesen: Wenn 30 Prozent der Befragten angaben, sie seien bei der Arbeit gestresst oder überfordert, dann fragten wir uns, was denn mit den restlichen 70 Prozent los sei. Bei genauerem Nachfragen stellten wir fest, dass wir einem wichtigen Thema auf der Spur waren. So entstanden schliesslich Theorie und Diagnose des Boreout.
Philippe Rothlin: Um die Theorie zu fundieren und aufzubauen, führten wir auch ausführliche qualitative Interviews mit Menschen, von denen wir vermuteten, dass sie von Boreout betroffen sind.

Aber Langeweile, Unterforderung und Desinteresse am Arbeitsplatz sind ja nicht etwas wirklich Neues.
Rothlin: Wir sind natürlich nicht die Entdecker der Langeweile, der Unterforderung und des Desinteresses – das sind alles Elemente, die schon einmal beschrieben worden sind. Neu ist an unserer Diagnose Boreout, dass wir diese Elemente als Gesamtpaket betrachten und uns fragen, wie sie zusammenspielen. Wenn jemand langsam das Interesse an seiner Arbeit verliert, dann ist er irgendwann mal unterfordert und gelangweilt. Und einer, der zu wenig spannende Arbeit vom Vorgesetzten bekommt, wird früher oder später das Interesse daran verlieren und sich langweilen.
Werder: Es ist wie bei einer Krankheit. Wenn verschiedene einzelne Symptome zusammenspielen, ergibt das eine neue Diagnose. Wenn Bauchschmerzen zu den Symptomen einer Krankheit gehören, dann hat niemand die Bauchschmerzen neu entdeckt, er hat sie einfach neu zugeordnet.

Was sind die konkreten Auswirkungen des Boreout auf das Leben der Betroffenen?
Rothlin: Man muss da unterscheiden zwischen der Arbeits- und der Freizeit: Bei der Arbeit langweilt man sich und hat keine Lust auf weitere langweilige Arbeit, so dass jede neue Aufgabe zum Horror wird. In anderen Fällen langweilt man sich, und selbst wenn man arbeiten möchte, gibt es keine zusätzliche Arbeit, weil vielleicht der Vorgesetzte alles selber machen möchte. So sitzt man den ganzen Tag herum und hofft, dass die Zeit vergeht. Am Abend ist man müde, leicht gereizt oder gar ein bisschen depressiv – wobei es dann schwierig ist, einen Link zum Boreout am Arbeitsplatz herzustellen. Beim Burnout ist das anders. Wer 14 bis 15 Stunden täglich arbeitet, weiss, warum er müde und ausgepumpt ist.
Sie machen über den Namen Boreout eine assoziative Verbindung zum Burnout und beschreiben in Ihrem Buch, dass die beiden Phänomene oft auch komplementär zueinander vorkommen. Ist das nicht heikel? Denn der Burnout ist ein von Fachleuten klar beschriebenes Syndrom mit gravierenden Folgen für die Betroffenen bis hin zum totalen Zusammenbruch. Das ist beim Boreout wohl kaum der Fall.
Rothlin: Der Vergleich mit dem Burnout ermöglicht es uns, das gegenteilige Phänomen des Boreout besser abgrenzen und analysieren zu können. Klar, man weiss, dass der Burnout zu Klinikaufenthalten führen kann, aber das macht die Situation der massiv vom Boreout Betroffenen nicht weniger unangenehm.
Werder: Der Begriff Boreout lehnt sich an den Burnout an, weil gewisse Symptome ähnlich sind, wie beispielsweise müde und ausgepumpt zu sein oder eine wachsende innere Distanz zum Unternehmen zu empfinden. Aber über die Folgen des Boreout wissen wir auf statistischer Ebene noch viel zu wenig. Den Burnout gibt es seit 15 Jahren, wirklich anerkannt ist er seit fünf Jahren und die ersten Comingouts gibt es seit drei Jahren. Beim Boreout gibt es noch keine umfassenden Untersuchungen. Wir gehen davon aus, dass Menschen, die in einem Boreout stecken, möglicherweise unter Depressionen leiden.

Was wollten Sie mit dem Buch erreichen? Viele Aussagen darin gründen auf Alltagsbeobachtungen, weiterreichende Studien fehlen. Wollten Sie einfach mal etwas in Bewegung setzen?
Rothlin: Wir wollten ein Tabu brechen. Wir wollten, dass man das Phänomen mit einem Begriff in Verbindung bringen kann und offen darüber redet, dass es Menschen gibt – und zwar nicht wenige –, die bei der Arbeit unterfordert sind, selbst in einer globalisierten Wirtschaft, in der immer mehr Arbeit auf immer weniger Menschen verteilt wird.

Ihr Buch ist ein Ratgeber mit ganz konkreten Tipps für Boreout-Betroffene. Befragte Fachleute orten das Problem aber vor allem bei den Vorgesetzten und bei der Arbeitsorganisa­tion. Warum haben Sie kein Handbuch für Organisationsentwickler, Unternehmensberater und HR-Fachleute geschrieben?
Rothlin: Wir beschreiben zwei Ursachen, die zum Boreout führen können: Ich kann einerseits am falschen Ort arbeiten, wo ich unterfordert bin, andererseits kann ich den falschen Beruf gewählt haben, eine Tätigkeit, die mich nicht wirklich interessiert. Somit kommt es stark auf die individuelle Situation an, wo man die Ursachen orten kann. Der Chef kann nichts dafür, wenn ich in der Industrie in einem Sektor arbeite, der mich nicht wirklich interessiert. Wir wollten erst einmal einen Ratgeber für Betroffene schreiben, damit sie einen Weg aus dem Boreout finden können. Aber Vorgesetzte können das Buch natürlich auch einfach aus einer anderen Perspektive lesen und sich fragen, ob sie selber auf Angestellte eingehen, die nach mehr Arbeit und anspruchsvolleren Aufgaben fragen, ob sie Anerkennung genügend kommunizieren und ob sie selber fähig sind, Aufgaben zu delegieren.

Wenn ich in einem Boreout stecke, fehlt mir möglicherweise die Energie, mich daraus zu befreien. Wäre es da nicht besser, wenn Vorgesetzte das Problem ansprechen würden?
Werder: Das grundsätzliche Problem beim Boreout ist ja gerade, dass die Betroffenen ihre Situation mit verschiedenen Strategien vertuschen und verstecken, so dass die Vorgesetzten gar nicht merken, dass Mitarbeitende desinteressiert, unterfordert und gelangweilt sind – vor allem wenn der Vorgesetzte viele Leute in seinem Team hat. So einfach kann man das Problem nicht auf die Führungskräfte schieben. Und ganz abgesehen davon: Selbst wenn es ein Führungsproblem wäre, unter dem Strich, am Ende des Tages bleibt der Arbeitnehmende mit seinem Boreout allein. Es ist sein Schicksal, das er selber in die Hand nehmen kann – und dazu wollten wir einen Beitrag leisten; denn wir gehen davon aus, dass jeder Anspruch auf einen Job hat, der ihm gefällt.
Rothlin: Das war ja vor 30, 40 Jahren anders, als man einfach froh sein musste, irgendeine Arbeit zu haben. Aber heute in einer zunehmend individualisierten Wohlstandsgesellschaft wird dieser Anspruch auf einen Job, der mehr als nur Geld einbringt, überall spürbar. Die Diskussionen um Phänomene wie Burnout und Mobbing sind deutliche Zeichen für die wachsende Sensibilisierung.

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