«der arbeitsmarkt» 08/2005

Wenn der Quartierladen Pakete annimmt

Service public Im Berner Lorraine-Quartier vertraut die Bevölkerung ihre Post ehemaligen Drogenabhängigen an. Die Entstehungsgeschichte eines ungewöhnlichen Projekts aus dem Ergänzenden Arbeitsmarkt.

Ihre lieb gewonnenen Errungenschaften lassen sich die Bewohnerinnen und Bewohner des Lorraine-Quartiers in der Stadt Bern nicht so leicht nehmen. In den Achtziger-jahren gelang es ihnen, ein Geviert zu retten, das einem Bürokomplex hätte weichen sollen. Die damals entstandene Wohnbaugenossenschaft «Q-Hof» existiert noch heute.
Ebenso das Lorrainebad. Auf die Gäste des Aarebades unterhalb der Bahngeleise blicken die Zugfahrenden oft neidisch hinunter. Sein familiäres und alternatives Ambiente hat dem Lorrainebad einen Kultstatus verliehen. Vor drei Jahren kamen Gerüchte auf, die über hundertjährige Badeanstalt könnte wegen ihres desolaten Zustandes geschlossen werden. Sofort bildete sich eine Aktionsgruppe zum Erhalt des Bades. Die Stadt Bern als Betreiberin musste dementieren, das Bad wurde auf die letzte Saison hin saniert.
Vor Jahresfrist der nächste Schlag:Die Schweizerische Post kündigte die Schliessung der Filiale in der Lorraine an. 2000 Personen unterzeichneten eine Protestpetition, das Stadtparlament forderte die Post auf, ihren Entscheid zurückzunehmen, und die Stadtregierung rief die Poststellen-Kommission des Departements Leuenberger (UVEK) an. Der Protest fruchtete nichts, die Lorraine-Post schloss am 31. März dieses
Jahres ihre Tore.
Doch wieder gelingt der Quartierbevölkerung eine zumindest teilweise Rettung: Seit dem 1. April bietet der Quartierladen «Lola» mit der Annahme von Briefen und Paketen sowie dem Verkauf von Briefmarken die gefragtesten Postdienstleistungen an. Die beiden Besonderheiten des Projekts: Der Laden arbeitet nicht mit der staatlichen Post zusammen, sondern mit einem privaten Anbieter. Und bei den Lola-Angestellten handelt es sich um ehemalige Drogenabhängige, die im Rahmen eines Wiedereingliederungsprojekts einen Neustart im Arbeitsmarkt versuchen.

Zehn bis zwanzig Pakete pro Tag

«Die Stiftung Contact als Trägerin des Lola wird von der Öffentlichkeit mitfinanziert. Jetzt können wir der Bevölkerung etwas zurückgeben», begründet Lola-Betriebsleiter Daniel König den Einstieg des Biolädelis ins Postgeschäft. Nach einer dreimonatigen Probephase läuft die Postannahmestelle seit 1. Juli im regulären Betrieb. 30 bis 50 Kunden nutzen täglich das postalische Angebot, darunter ein Lokalradiosender, Apotheker und
weitere Geschäftskunden. «Der Versuch war ein Erfolg. Die Reaktionen im Quartier waren sehr positiv. Gleichzeitig hält sich unser Aufwand in Grenzen», bilanziert König. Ganz ersetzen kann das Lädeli die verloren gegangene Poststelle nicht. Eingeschriebene Briefe müssen weiterhin beim gelben Riesen aufgegeben oder abgeholt werden. Pakete ins Ausland zu schicken, ist ebenso wenig möglich wie Rücksendungen auf Postfachadressen. «Auch auf den Zahlungsverkehr mussten wir verzichten. Das wäre zu kompliziert geworden», räumt König ein. Die abgegebenen Briefe und Pakete werden von einem Kurier des Berner Unternehmens WHP-Logistik abgeholt. «Pakete stellen wir über unser WHP/DPD-Netz zu,  Briefe müssen wir aufgrund des Briefmonopols zur Post bringen», sagt Geschäftsführer Alexander Vogt. WHP-Logistik wurde vor
Jahresfrist von DPD (Schweiz) übernommen. Auch aus Vogts Sicht ist die Zusammenarbeit mit dem Lola ein Erfolg, wobei «das Volumen nicht an erster Stelle steht». Seinen Angaben zufolge werden täglich zehn bis zwanzig Pakete aufgegeben. Für den Abholdienst verrechnet WHP ihre regulären Tarife, einen «Sozialprojekt»-Rabatt gibt es nicht. «Sonst würde behauptet, das Geschäft funktioniere nur wegen Vergünstigungen. Dies würde niemandem helfen», sagt Vogt.

Bananen verkaufen ist wie Päckli annehmen

Briefmarken gibt das Lola zum Selbstkostenpreis ab, auf die Pakete wird eine kleine Marge erhoben. Ob dies für einen kostenneutralen Betrieb reicht, hat Betriebsleiter König noch nicht durchgerechnet. Auf der Kostenseite schlagen vor allem die Bezahlung des WHP-Kuriers und die Arbeitszeit zu Buche. «Den grössten Aufwand verursachen die Gänge zur Post für den Kauf von Briefmarken.» Ausserdem steckt im  Briefmarkenvorrat gebundenes Geld.
Im Zentrum steht für das Lola aber nicht die direkte Kosten-Nutzen-Rechnung, sondern der Imagegewinn und das Anlocken von Neukunden. «Wir können uns nicht über den Preis von der Konkurrenz abheben, sondern müssen dies über Qualität und spezielle Dienstleistungen tun», sagt König mit Blick auf die unmittelbar neben dem Biolädeli gelegenen Geschäfte von Migros und Denner. Nach Schätzungen kommen dank des postalischen Angebots 5 Prozent mehr Kunden in den Laden. «Die meisten kaufen dann auch ein Brot oder Käse bei uns.»
Auch für WHP/DPD geht es bei dem Pionierprojekt um die Positionierung im Markt im Hinblick auf die künftige Liberalisierung des Briefverkehrs. «Wir sind sehr froh, dass wir mit solchen Läden zusammenarbeiten können, und hoffen, dass dies auch in anderen Quartieren und Städten möglich wird», sagt Alexander Vogt. Möglichen künftigen Partnern solle gezeigt werden, dass postalische Dienstleistungen weniger kompliziert seien als angenommen. «Wenn ich eine Banane verkaufe, kann ich auch ein Päckli annehmen», ist Vogt überzeugt.
Die Lola-Angestellten haben sich denn auch rasch an ihre zusätzlichen Aufgaben gewöhnt. Nur vereinzelt gehe es darum, das Briefporto für exotische Destinationen nachzuschlagen, sagt eine Mitarbeiterin. «Wie viel ein Brief nach Indien kostet, wissen wir auswendig – eine Quartierbewohnerin schickt regelmässig Briefe dorthin.» Mittlerweile seien die Abläufe etabliert, bestätigt König. Anfängliche Ängste vor den neuen Aufgaben seien beigelegt.
Das beschränkte postalische Angebot führt indes auch dazu, dass der Qualifizierungsaspekt nicht im Vordergrund steht. «Es ist für uns zwar eine interessante Herausforderung; das erworbene Know-how reicht aber nicht für eine Stelle bei der Post», schränkt König ein. Die Ausbildung im Vorfeld habe sich auf einige wenige Stunden beschränkt. Seinen Angaben nach ist das Wissen, welches über die Biolebensmittel
im Sortiment erworben werden muss, sehr viel grösser.
Angestellt für maximal ein Jahr werden im Lola ehemalige Drogenabhängige, die abstinent leben und sich in den regulären Arbeitsmarkt reintegrieren wollen. Stammkunden bestätigen, dass das Auftreten der Angestellten nie auf ihre Vergangenheit schliessen liesse. Vielen Kunden ist der soziale Hintergrund gar nicht bewusst. Das Image des normalen Quartierladens dürfte auch der Grund sein, warum die Bevölkerung ihre Post dem Lola überhaupt anvertraut.
Claudia Kuster findet das Post-Projekt des Lola sehr gut. «Als Quartierbewohnerin bin ich froh, dass ich weiterhin die Möglichkeit habe, meine Postgeschäfte im Quartier zu erledigen», sagt die SP-Lokalpolitikerin, die eigentlich die Privatisierung von Postdienstleistungen ablehnt. Die Schliessung der Lorrainepost hält sie für «sehr bedenklich».

Berechtigter Imageschaden für die Post

Post-Sprecher Richard Pfister verteidigt den Entscheid. Das Poststellennetz entspreche nicht mehr dem heutigen Kundenverhalten und den rückläufigen Schaltergeschäften und verursache hohe Infrastrukturkosten. Deshalb müsse es restrukturiert werden. «Vor jedem Schliessungsentscheid wird die Situation eingehend und umfassend analysiert», sagt Pfister, der das Lola-Projekt «zur Kenntnis nimmt». Für die bisherigen Kunden der Lorrainepost sei in zumutbarer Distanz eine andere Poststelle erreichbar.
Dies wird von Claudia Kuster bestritten. «Die Post im benachbarten Breitenrain-Quartier ist nicht einfach zu erreichen, vor allem für ältere Leute, Behinderte oder Personen mit kleinen Kindern», beklagt sie. In der Tat führt der 15-minütige Fussmarsch zur Post ziemlich steil bergan. Eine direkte Busverbindung existiert nicht. Entweder muss eine Busfahrt mit anschliessendem Fuss-marsch oder ein Umweg über den Hauptbahnhof in Kauf genommen werden.
Die ganze Geschichte habe dem Image der Post schweren Schaden zugefügt, ist Lola-Chef König überzeugt. Kuster weist auf die grosse Mobilisierung im Quartier hin. Für die Post ist hingegen die Intensität des Protestes «kein Gradmesser» für den Entscheid, wie Richard Pfister darlegt. Er glaube auch nicht, dass nun die Leute aus Protest seltener die Dienstleistungen der Post in Anspruch nähmen. Gemäss Umfragen sei die Schweizer Bevölkerung mit dem Poststellennetz und den Alternativangeboten zufrieden bis sehr zufrieden. Im Berner Lorraine-Quartier, das stolz auf sein Bad und seinen Q-Hof ist, dürfte dieser Wert mittlerweile etwas niedriger liegen.

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