«der arbeitsmarkt» 05/2014TEXT: Miryam Azer
Tanz- und Bewegungstherapie

Wenn der Körper die Psyche bewegt

Eine Tanz- und Bewegungstherapeutin unterstützt Patienten in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich dabei, sich ihrem Körper und ihrem Innenleben zuzuwenden. Wichtig ist ihr dabei der spielerische Aspekt, der hilft, den Bezug zu sich selbst zu finden.  

Kurz vor neun Uhr betreten die Patienten in Jeans oder Turnkleidern den hellen Gruppenraum der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK). Brigitt von Burg, Tanz- und Bewegungstherapeutin, begrüsst die drei Männer und fünf Frauen per Händedruck. Sie stellen sich in einen Kreis und setzen unter Anleitung zu ruhiger Musik abwechselnd ihre Fersen vor sich auf den Boden. Sie wirken etwas zaghaft, aber konzentriert. Nun schwingt ein Bein nach dem anderen mehrmals nach vorne und nach hinten. Eine Frau wankt plötzlich, verkneift sich ein Lächeln, fängt sich wieder und macht weiter. Die Patienten richten ihre Aufmerksamkeit nacheinander auf ihre Hüften, ihre Schultern und ihren Kopf und beschreiben mit diesen Körperteilen kleine und grosse Kreise. Schliesslich darf jeder eine Bewegung vorzeigen, und alle imitieren sie. 
Nach diesem Aufwärmen bietet Brigitt von Burg den Patienten farbige Noppenbälle und Bänder an kurzen Holzstäben zur Auswahl an. Alle entscheiden sich als Erstes für den Noppenball und beginnen, sich selbst damit zu massieren: Einige lassen ihn unter der Hand über ihre Arme oder ihren Oberkörper kreisen. Andere positionieren sich so, dass der Noppenball zwischen ihrem Rücken und einer Wand eingeklemmt wird und die Massage durch das Bewegen des Oberkörpers erfolgt. Wieder andere setzen sich hin und bearbeiten ihre Füsse und Beine. Sie beschäftigen sich ganz mit ihrem eigenen Körper, lauschen in sich hinein. «Was tut Ihnen gut? Welche Körperstelle ist für Sie im Moment am besten, und wie stark soll der Druck sein?», fragt Brigitt von Burg, um die Aufmerksamkeit der Patienten auf ihre Bedürfnisse zu lenken. Sie bestätigt die Anwesenden immer wieder in ihrem Tun und lockt sie mit aufmunternden Bemerkungen aus der Reserve. 

Den eigenen Körper zurückerobern 

Für Brigitt von Burg ist die Tanz- und Bewegungstherapie aus der PUK nicht mehr wegzudenken. Die offen und aufgestellt wirkende 55-Jährige arbeitet seit sechs Jahren in der PUK in einem Team von 15 Bewegungs-, Physio- und Musiktherapeuten inklusive 3 Praktikanten und ist hauptsächlich zwei Akutstationen zugeteilt, die Patienten mit unterschiedlichen Krankheitsbildern bei Klinikeintritt aufnehmen. Sie mag ihre Arbeit, vor allem diejenige mit der Gruppe der psychotischen Patienten: «Ich finde es toll, dass diese Menschen einen Ort haben, an dem sie ihre Eigenart ausleben dürfen. Unsere Welt wäre ärmer ohne sie.» Menschen mit einer Psychose, einer schweren psychischen Krankheit, haben Wahrnehmungsstörungen der inneren und äusseren Welt und verlieren dadurch zeitweise den Bezug zur Realität und zu ihrem Körper. Sie bewegen sich wegen ihrer inneren Unruhe hektisch oder wegen grosser Müdigkeit langsam und verhalten. 
Die Patienten sollen ihren Körper erfahren, bestenfalls lebendig statt steif. Den Bezug zu sich selbst zu finden und wiederzufinden, ist ein Ziel der Tanz- und Bewegungstherapie – bei Gesunden und Kranken, mit oder ohne Material. «Die Noppenbälle helfen dabei, den eigenen Körper besser wahrzunehmen und zu merken, was ich mag und was nicht», erklärt Brigitt von Burg. Immer wieder regt sie die Männer und Frauen an, ihre eigenen Bedürfnisse, Ressourcen, Gefühle und Visionen zu erspüren: «Liegt Ihnen diese Bewegung? Welche Gefühle tauchen dabei auf?»

Neue statt stereotype Bewegungen

Ein weiteres wesentliches Thema in den Gruppenstunden ist das Regulieren von Nähe und Distanz: «Manche Patienten wollen niemanden in ihre Nähe lassen, und andere nehmen ihre eigenen Grenzen und diejenigen der anderen nicht wahr, weshalb ich Letztere mit der Frage bremse: ‹Wollen wir die anderen fragen, ob sie einverstanden sind mit dieser Nähe?›» Zudem sollen Menschen in der Tanz- und Bewegungstherapie das eigene Bewegungsrepertoire erweitern, um aus stereotypen Bewegungen ausbrechen zu können. «Wir machen hier keine Weggli, die alle gleich aussehen.» Greifen die Patienten Bewegungen voneinander auf, lernen sie neue Bewegungsformen kennen. Zentral ist für Brigitt von Burg der spielerische Aspekt: «Er erleichtert insgesamt den Zugang und Umgang mit einem Thema wie etwa Nähe und Distanz», ist sie überzeugt. 
Die Tanz- und Bewegungstherapeutin gibt ihren Patienten manchmal auch Bewegungsabläufe vor. Seit Jahren leitet sie beispielsweise die sogenannten Brokatübungen an, die beruhigend wirken und die Atmung vertiefen (siehe Bildstrecke). «Wenn ich nervös bin, bringen mich diese Bewegungen zu mir selbst zurück. Manchmal führe ich sie auch aus, um meine Wahrnehmung zu wecken.» Ob die Übungen von einem Anfänger oder von einem Fortgeschrittenen angewendet würden, spiele keine Rolle. Wer sie aufmerksam ausführt, entdeckt jedes Mal etwas Neues, beispielsweise ein anderes Gefühl oder eine veränderte Körperempfindung.

Farbige Rhythmen, Linien und Kreise

«Wer einen Gegenstand für eine grosse Bewegung wählen mag, kann das jetzt tun», regt Brigitt von Burg die Patienten an. Bis auf eine Frau tauschen alle den Noppenball gegen ein farbiges Band ein. Sie probieren verschiedene Bewegungen aus; der Gruppenraum wirkt plötzlich eng. Zwischendurch verknoten sich die Bänder, oder jemand wickelt sich damit ungewollt selbst ein, grinst und befreit sich wieder. Ein Patient nach dem anderen führt seine Bewegung vor, und die anderen ahmen sie nach. Die Stäbe wirken wie eine Verlängerung des Arms, die Bänder machen die Körperbewegungen sichtbarer. Brigitt von Burg kommentiert, welche Körperteile sich gerade bewegen. Verschiedene Rhythmen, Schwünge, Linien und Kreise – ein buntes Durcheinander. Die Gesichter der Patienten hellen sich auf. «Das ist wie malen», bemerkt eine Frau. Schliesslich legen alle die Bänder zur Seite und bewegen sich frei zur Musik. Manche noch ein bisschen steif und unbeholfen, andere geschmeidiger und mutiger.

Puzzleteile fügen sich zu einem Ganzen

«Ich habe keine Probleme, diese Gruppe in Bewegung zu bringen. Bei den depressiven Patienten ist das durch den fehlenden Antrieb, ihre Schwere und ihre Ängste viel schwieriger», sagt Brigitt von Burg. Sie selbst bewegt sich sehr gerne. Momentan hat sie sich dem Drehtanz der Sufis verschrieben, früher auch dem Tango und der Salsa. Sie bezeichnet sich selbst als körperlichen Menschen. «Ohne den Tanz würde ich mich in meinem Körper nicht wohl fühlen und wäre wahrscheinlich unglücklich. Ich brauche die Bewegung genauso wie das Essen.» Ihre Freude am Tanzen und das Bedürfnis nach mehr Kontakt mit Menschen haben sie nach der kaufmännischen Lehre und einigen Berufsjahren dazu bewogen, sich als Tanz- und Bewegungstherapeutin auszubilden. 
Die Gruppenstunde für akut Psychotische findet dreimal pro Woche statt. Zweimal pro Woche leitet Brigitt von Burg Patienten in einer Entspannungsgruppe an. Dazwischen betreut sie sechs bis sieben Patienten einzeln, besucht Rapporte, beaufsichtigt eine Praktikantin, macht Gruppenvertretungen und nimmt an Teamsitzungen teil. 
Brigitt von Burg schätzt in der PUK Zürich die interdisziplinäre Zusammenarbeit und dass sie die Verantwortung für die Patienten nicht alleine trägt. Einmal pro Woche findet ein Rapport statt, an dem der Oberarzt oder die Oberärztin der entsprechenden Station, Assistenzärzte, Mitarbeitende der Pflege, Arbeits- und Ergotherapeuten sowie Physio- oder Bewegungstherapeuten teilnehmen. Mindestens eine Stunde lang tauschen sich die Anwesenden über die Patienten aus. Alle haben unterschiedliche Blickwinkel. «Hier fügen sich die Puzzleteile zusammen», stellt Brigitt von Burg fest. «Diese ganzheitliche Sicht interessiert mich – ich möchte mehr als nur einen Ausschnitt sehen.» Die gewonnenen Informationen lässt sie in ihre Stunden einfliessen.

Von belastenden und schönen Erlebnissen

Die Tanz- und Bewegungstherapeutin hat in psychiatrischen Kliniken schon vieles gesehen und erlebt. Gewalttätigkeiten, die sie aus den Krankheitsgeschichten erfährt, bedrücken sie. In die Abgründe der Menschen zu sehen, belaste sie manchmal. Mit der Zeit hat sie aber gelernt, sich besser abzugrenzen. Suizide von Patienten, die sie kannte, zählen zu den schwierigen Ereignissen für Brigitt von Burg. «Ich bin jeweils froh, wenn ich auf die Station gehen und mich mit Menschen austauschen kann, die enger mit dem betreffenden Patienten zu tun hatten. Wir erzählen uns, wie wir uns fühlen, und unterstützen uns gegenseitig.» 
Auch auf schöne Momente kann Brigitt von Burg zurückblicken: «Vor über 20 Jahren lernte ich einen nervösen und zappeligen Patienten kennen, der Mühe hatte, sich zu konzentrieren. Ich habe ihm damals die Brokatübungen gezeigt. 15 Jahre später traf ich ihn wieder. Er erkannte mich sofort und sagte mir, er führe diese Übungen bis heute aus, sie würden ihn beruhigen. Diese Rückmeldung freute mich sehr. Das sind kleine Höhepunkte, die uns zeigen, dass unsere Arbeit weiterträgt.» 
Die Gruppenstunde neigt sich dem Ende zu, alle kommen in einem Kreis zusammen. Ein Patient nach dem anderen geht mit einer selbst gewählten Bewegung in die Mitte und wieder zurück, die anderen ahmen ihn auf der Kreislinie stehend nach. Die Musik heizt ein, die Patienten atmen schneller, beginnen gar zu schwitzen. Als Ausklang lassen alle den Oberkörper vornüberhängen und rollen ihn schliesslich langsam wieder auf. Brigitt von Burg lenkt die Aufmerksamkeit der Patienten auf ihren Atem, «der wahrscheinlich schneller geht als üblich». Für diese Bemerkung erntet sie ein paar Lacher. Die Patienten schlüpfen in ihre Schuhe und Jacken und verabschieden sich – leichtfüssiger, präsenter und um einige Erfahrungen reicher.

Brigitt von Burg, 55, hat nach einer kaufmännischen Ausbildung und einigen Berufsjahren in diesem Bereich die Ausbildung zur diplomierten Tanz- und Bewegungstherapeutin in Zürich absolviert. Danach folgte die Körpertherapieausbildung Core-Energetics und 2013 ein Master in Kunst- und Ausdruckstherapie an der European Graduate School in Saas Fee. Sie besuchte ausserdem Kurse in Tai-Chi, Stockkampf, Drehtanz, Salsa, Tango, Atem und Bewegung und absolvierte eine Berufsbildung zur Praktikumsbetreuung. Die zweifache Mutter arbeitet seit sechs Jahren in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und wohnt ganz in der Nähe.