«der arbeitsmarkt» 12/2007

Wenn RAV-Beratende fremdgehen

Boomt die Wirtschaft, braucht es weniger RAV-Beratende. Der Kanton Thurgau hat ein einzigartiges Projekt lanciert, um Entlassungen beim Personal zu vermeiden. Seit Mai dieses Jahres leiht er RAV-Mitarbeitende an die Privatwirtschaft aus.

Normalerweise berät Matthias Engeli Arbeitslose im RAV Amriswil und knüpft Kontakte zu Arbeitgebern. Seit September dieses Jahres reist er aber als Repräsentant einer Fensterbaufirma durch die Schweiz und ­versucht, Architekten von einem neuen Kunststofffenster zu überzeugen. Matthias Engeli hat jedoch nicht etwa den Beruf gewechselt, sondern nimmt an «Change for profit» teil, einem Ausleih­projekt des Amtes für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Thurgau.
Seit Mai dieses Jahres leiht das AWA Thurgau seine Mitarbeitenden an Firmen aus, die Mühe haben, ihre Stellen zu besetzen. Die Einsätze sind befristet und dauern zwischen zwei und sechs Monate. Die Firmen übernehmen während dieser Zeit den Lohn der RAV-Mitarbeitenden, deren Arbeitsverträge mit dem Kanton bleiben aber bestehen. Nach den Einsätzen kehren die «Fremdgänger» wieder an ihren Arbeitsplatz zurück.
Fünf RAV-Mitarbeitende haben bis jetzt einen solchen Einsatz absolviert; sie waren in den beteiligten Firmen im Personalwesen, im Marketing und in der Administration ­tätig. Voraussetzung für einen Einsatz sei, dass es sich um qualifizierte Arbeit handle und die Mitarbeitenden davon profitieren würden, sagt Edgar Sidamgrotzki, Leiter des AWA Thurgau und Initiator des Projekts.
Das Modell führt seiner Meinung nach zu einer «Win-win-Situation». Die Wirtschaft komme so zu den dringend gesuchten Fachkräften, während das AWA seine Kosten senken und Entlassungen vermeiden könne.

Keine Konkurrenz für die Stellensuchenden

Grundsätzlich ist es Ziel des Projektes, die Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen. Im Kanton Thurgau sind, wie in den übrigen Kantonen auch, die Arbeitslosenzahlen infolge des Wirtschafts­aufschwungs zurückgegangen. Im Jahr 2005 lag die Arbeitslosenquote im Kanton Thurgau bei 3,1 Prozent, 2006 sank sie auf 2,7 Pro­zent, diesen September betrug die Arbeits­losenquote noch 1,8 Prozent. Die sinkenden Arbeitslosenzahlen schlagen sich in der ­Anzahl Dossiers nieder, welche die RAV-­Beratenden betreuen. In Krisenzeiten sind sie für je rund 150 bis 160 Dossiers zuständig. Ideal wäre laut dem Amtschef eine Zahl von 100 bis 120 Dossiers. Zurzeit betreuen die Thurgauer RAV-Beratenden jedoch «nur» rund 95 bis 100 Fälle. Allerdings steigen die Dossierzahlen wieder leicht an.
Aktuell befindet man sich im Kanton Thurgau in Phase zwei, der Phase der Stabilisierung, wie Edgar Sidamgrotzki erklärt. Phase eins, in der man die Entwicklung in der Wirtschaft beobachtete und abwartete, sei vorbei. Jetzt hat man in einem ersten Schritt das Personal informiert und einen Personalstopp eingeführt, das heisst, Ab­gänge werden nicht mehr ersetzt. In einem zweiten Schritt kam das Projekt «Change for profit» zum Tragen. Mit diesem Projekt hat man bis anhin verhindern können, dass es zu Phase drei kam, nämlich zu Entlassungen. Der Amtschef betont, dass die Teilnahme am Projekt freiwillig ist. Mitarbeitende, die Interesse an diesem Projekt haben, melden dies, und dann wird nach Lösungen gesucht.
Matthias Engeli beispielsweise hat seine Einsatzfirma selbst gefunden. Er suchte im Internet nach Firmen, die ihn interessierten und die seinem beruflichen Background entsprachen. Der RAV-Mitarbeiter hat ursprünglich eine Schreinerlehre absolviert und unter anderem auch als Hochbauzeichner gearbeitet. Die Fensterbaufirma suchte für ihr zweimonatiges Projekt jemanden mit den entsprechenden Erfahrungen.
Den Vorwurf, dass mit diesem Projekt die Arbeitslosen konkurrenziert würden, weist Edgar Sidamgrotzki zurück. Für die Einsätze, für die sich die RAV-Mitarbeitenden bewerben, seien sehr gute Qualifika­tionen gefragt. Der Markt für Fachkräfte sei momentan jedoch ausgetrocknet. Weise jemand sehr gute Qualifikationen auf, dann sei er in der Regel schnell vermittelt und nicht mehr beim Arbeitsamt angemeldet. Heinz Erb, Leiter der RAV des Kantons Thurgau, bestätigt dies. Bei den Arbeitsämtern seien momentan eher diejenigen angemeldet, die schwieriger zu vermitteln seien als andere. Aber es sei selbstverständlich, dass die stellensuchende Person Vorrang habe.
Bei den Firmen scheint dieses Angebot Anklang zu finden. Sie verzeichneten eine gute Nachfrage, berichtet Heinz Erb. Befris­tete Einsätze wurden bis jetzt in einer Fens­terbaufirma, einer im Maschinenbau tätigen Firma, bei der Polizei, bei einem Personalamt und einer ausserkantonalen Arbeits­losenkasse geleistet.
Wie kommt das Projekt bei den Mitarbeitenden an? Zu Beginn habe schon eine gewisse Verunsicherung geherrscht, gibt Heinz Erb zu. Mittlerweile stünden die Mitarbeitenden dem Projekt aber wohlwollend gegenüber. Matthias Engeli, der in der ganzen Schweiz Architekten aufsucht, empfindet seinen befristeten Einsatz als spannend, aber auch anstrengend. Auf Dauer würde er ihn jedenfalls nicht ausüben wollen. Sechs ­Vorträge hält er durchschnittlich pro Tag, 200 Treffen hat er schon absolviert. 10- bis 13-Stunden-Tage sind die Regel, da er sehr lange Arbeitswege hat. Trotzdem würde er ohne Zögern wieder einen derartigen Einsatz absolvieren. Er begrüsst das Projekt auch ­deshalb, weil er gerne Neues ausprobiert.  

Nachahmeprojekte scheitern an kantonalen Bestimmungen

Bis jetzt bietet nur der Kanton Thurgau dieses Modell an, obwohl er nicht der einzige Kanton ist, der mit den Schwankungen des Arbeitsmarktes zu kämpfen hat. Seine Idee sei in anderen Kantonen zwar auf Interesse gestossen, sagt Edgar Sidamgrotzki.
Bis jetzt habe sie aber noch niemand übernommen. Er vermutet, dass vielen der Aufwand für die Einführung des Projektes zu gross sei oder andernorts die personalrechtlichen Bestimmungen die Einführung verhinderten.
Im Kanton Bern beispielsweise unter­stehen die Angestellten des Kantons dem Gesamtarbeitsvertrag, das Ausleihmodell kann dort nicht eingeführt werden. Auf die Schwankungen des Arbeitsmarktes reagiert man in Bern mit befristeten Arbeitsverträgen. Neue Personalberatende haben in den vergangenen Jahren einen auf zwei Jahre befris­teten Vertrag erhalten. Im Kanton Schaffhausen wiederum ist die sinkende Nachfrage nach RAV-Beratenden durch normale und vorzeitige Pensionierungen sowie interne Verschiebungen aufgefangen worden. Der Kanton Zürich schliesslich hat in diesem Frühling das Projekt «Seitenwechsel» ein­geführt. RAV-Beratende arbeiten während einer Woche in einer fremden Firma, um einen Einblick in das Unternehmen zu er­halten. Das Projekt ist allerdings hauptsächlich aus Weiterbildungsgründen eingeführt ­worden.

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